Israelisch-italienischer Musiker, Regisseur und Pädagoge, der seine multidisziplinären Projekte meistens der jungen Generation widmet, seit Sommer 2020 an der Neuen Schule Wolfsburg.
Dr. phil., ist Didaktische Leiterin der Neuen Schule Wolfsburg, unterrichtet dort Musik, Theater, Deutsch.
brigitta.ritter@neue-schule-wolfsburg.de
Israelisch-italienischer Musiker, Regisseur und Pädagoge, der seine multidisziplinären Projekte meistens der jungen Generation widmet, seit Sommer 2020 an der Neuen Schule Wolfsburg.
Dr. phil., ist Didaktische Leiterin der Neuen Schule Wolfsburg, unterrichtet dort Musik, Theater, Deutsch.
brigitta.ritter@neue-schule-wolfsburg.de
Eyal Lerner: Online-Didaktik kann neben dem Registrieren der einzelnen Ergebnisse stärker noch verborgene Potentiale entdecken. Wenn jeder wahrnehmen darf, dass seine persönliche Arbeit wertgeschätzt wird, steigen Selbstachtung und Selbstvertrauen. Während dies für viele Fächer gilt, ist es für den Theaterunterricht fundamental, dass das eigene innere Wachstum mit der Klasse als Theaterkompagnie einhergeht. Unterschiedlichkeiten und Individualitäten können eingangs blockieren, aber gerade durch individuelle online-Unterstützung künstlerischen und menschlichen Reichtum entwickeln. Das ist mein Verständnis von einer wahren Theaterkompagnie.
Brigitta Ritter: Manchmal bleibt im Unterricht kaum Zeit für Belobigungen und Wertschätzung – auch das ist online sehr viel individualisierter möglich.
Ler: Und das gilt umso mehr, wenn wir mit Schülern online ein Brainstorming eröffnen – wie wir es für theatrale Aspekte hinter den Kulissen begannen. Z.B. entwickelte ein Schüler Kostüme, und die Zeichnungen stehen jetzt der Musical-Compagnie zur Verfügung. Oder ein anderer Schüler meldete sich für die Tanzszenen und entwarf Choreographien und zeichnete sich selbst tanzend. So entstand unser Trainingsmaterial. Dadurch wird noch viel stärker, als ich es früher erlebte, das Stück für die Jugendlichen bedeutsamer, gleichermaßen auch frischer und eine junge Interpretation, denn z.B. der Tanzstil entspricht weniger den klassischen Interpretationen des Musicals, sondern gewinnt quasi im jugendgemäßen Tanzstil eine noch stärkere Akzentuierung des Themas.
Rit: Ein Bereich, den unser Fachbereichsleiter jahrelang aufgebaut hat und den mittlerweile die Schüler erobert haben, ist die Veranstaltungstechnik als ein weiteres Beispiel: Ich kann mich an deine Begeisterung darüber erinnern und war selbst verblüfft, wie schnell unsere für die Lichttechnik zuständigen Schüler dein Bühnenbildmodell in ein digitales 3D-Modell mit unseren Bühnenmaßen umsetzten, dir sendeten und mittlerweile die Lichtstimmungen mit unseren technischen Möglichkeiten einrichten. Letztlich wird somit auch das Leistungsspektrum unserer Schüler für uns Lehrer umfänglicher erfahrbar als es Schulfächern zugeordnet sein könnte. Und wir lernen die Persönlichkeiten unserer Schüler viel facettenreicher kennen.
Ler: Das insbesondere, weil die Grenzen zwischen cineastischen, video- wie audiotechnischen Möglichkeiten und Schnitttechniken mit einer Bühnenpräsenz live immer enger verschmelzen können. Zahlreiche Chor- und Orchesteraufführungen entstanden in den letzten Monaten online, und ich denke, dass wir im Bereich der theatralen Künste ähnlich präsentieren können: Ich möchte behaupten, dass uns zukünftig der Blick und die technischen Fähigkeiten der Jugendlichen sehr lohnende kreative Wege eröffnen werden. Das können wir Lehrkräfte gezielt anbahnen und begleiten.
Aufbauen unserer neuen Traditionen
Rit: Gerade jetzt, in dieser Zeit Anfang des Jahres, kann dies eine sinnvolle Möglichkeit sein, um die Kinder und Jugendlichen in den verschiedenen verordneten, hybriden Szenarien auf eine gleichermaßen ruhige wie zielstrebige Art kreativ tätig werden zu lassen. Wir werden das in unserem 10. Jahrgang, im Wechselmodus anwesend, erproben: In der bisherigen Unterrichtszeit haben wir biographisch zu Traditionen geforscht – eigene als Kind erfahrene, Familienmitglieder als Zeitzeugen, kulturell-nationale, religiöse – und es entstanden viele selbst geschriebene Texte, die wir nun für die finale Bühnenshow im März inszenieren wollten.
Ler: Und das werden wir nun online entwickeln. Es gibt so viele Möglichkeiten – Audio-Aufnahmen von erlebten Geschichten, mit Fotos hinterlegt; dokumentarische Texte oder Fakten oder Bilddokumente, mit einer Tonspur hinterlegt; Familienfotos, mit dialogischen, internationalen Sprachaufnahmen; kurze Videos mit vielleicht sogar mehreren Familienmitgliedern „in Szene gesetzt“ – wenn wir schon das Zuhause der Schüler einbeziehen sollen, können wir es ebenso, je nach familiärer Möglichkeit auch theatral angehen. Auf diese Weise kann das Zuhause sogar ein theatrales Laboratorium sein, in dem alle Familienmitglieder Protagonisten wie Publikum sein können.
Rit: Lass‘ uns an dieser Stelle reflektieren, was von unserem schulcurricularen Theaterunterricht, den wir ab Jahrgang 7 anbieten, in der hybriden Form bleibt: Wo sehen wir bereichernde neue Möglichkeiten und wo gibt es aber auch Begrenzungen, die uns herausfordern, neue Lösungen zu finden? Mir fiel eben auf, dass mit einer rein online erstellten Produktion etwas sehr Wichtiges fehlt, nämlich den Applaus entgegennehmen zu können, der ein sehr befriedigendes Element jeder Aufführung für die Künstler und für das Publikum ist, weil er der langen Arbeit und dem Ergebnis Achtung und Wertschätzung erweist. Streaming-Möglichkeiten sind wertvoll und bereichernd, können aber den unmittelbaren Applaus als Ausdruck vieler Zuschauer nicht ersetzen. Was kann ohne Publikum für eine Aufführung motivieren? Wir werden über Feedback-Formen neu nachdenken müssen.
Ler: Das stimmt. Was kompensieren könnte, ist der emotional-soziale Aspekt, dass die Jugendlichen die Humanität, Einheit und wechselseitige Unterstützung erfahren. Wir schenken dem Prozess nun noch mehr Aufmerksamkeit als dem Resultat. Und für den prozesshaften Unterricht gibt es online nun wieder sehr bereichernde Perspektiven, die auf Einzelne, Kleingruppen oder Klassenensembles angepasst werden können: Im direkten Kontakt kann unmittelbar korrigiert, angeregt, erprobt und rückgemeldet werden, und die Rückmeldung kann ebenso zwischen den Mitschülern stattfinden. Lesen, Analysieren, Dialoge üben, stimmliche wie mimische Übungen, vor allem z.B. Emotionen über die Augen auszudrücken, sind online durch die Kamera wie unter einer Lupe möglich. Extreme Gesichtsausdrücke und vokale Extremexpressionen sind gewöhnlich im Klassenunterricht live weniger leicht umsetzbar, laden aber online oder per Video festgehalten zu Experimentierfreude und Diskussion ein.
Rit: Das gilt für viele Bereiche elementaren Theaterunterrichts, da gebe ich dir Recht. Eher begrenzt sehe ich die Möglichkeiten für alle zu lernenden Elemente, die mit Bewegung zu tun haben – die Breite gestischen Repertoires, Körperhaltungen, Bewegungen im Raum: Nicht alle Jugendlichen haben größere Zimmer zu Hause, und die Kamera hält nur einen Ausschnitt bereit – ich denke, diesem Bereich werden wir dann im Präsenzunterricht viel Aufmerksamkeit widmen. Vorerst können wir sie daran erinnern, aufzustehen, im Stehen zu spielen, auch Kostüme, Frisuren und Accessoires einzubeziehen.
Ler: Formen von Zeit sind digital künstlerisch gestaltbar: Wiederholungen, slowmotion, freeze, breaks. Simultanitäten sind wahrscheinlich schwieriger, auch technisch wegen der Abhängigkeit von Lichtqualitäten aufwendiger möglich. Hier können wir den Blick schulen, sich selbst ins rechte Licht zu rücken, also auch das Ausleuchten für die Kamerapräsenz zu gestalten. – Das Timing in gesprochenen Dialogen kann wiederum sehr experimentell und detailliert geübt werden.
Rit: Mir kommt ein weiterer Aspekt in den Sinn, der eine einzigartige Bereicherung derzeit darstellt: Ich fand es besonders schön, in einer ersten online-Gruppenprobe mit Schülern aus den Jahrgängen 6, 10 und 13 vor den Weihnachtsferien, zu sehen, wie gerade die jüngsten hoch motiviert und leistungsstark wie selbstbewusst mit den älteren Mitschülern probten. Gerade in diesen von COVID bestimmten Monaten, in denen jahrgangsverbindendes Begegnen so strikt reglementiert werden musste, ist dies für die Kinder und Jugendlichen und für unsere Schulkultur insgesamt von sehr großer Bedeutung.
Ler: Gleiches gilt für das Singen. In diesem Schuljahr musste es bisher gänzlich ausgesetzt werden, und wir sind noch immer in guter Hoffnung, dass wir im Sommer alle Musicalnummern öffentlich singen werden dürfen. Also blieb uns von Beginn an nur die Möglichkeit – und das zeichnete sich schon früh als sehr große Bereicherung ab – den häuslichen eigenen Raum und die unbegrenzte Verfügbarkeit der App zum Üben, frei von der Maske, verbunden in der online-Kommunikation für das Studium der Solo- wie Chornummern zu nutzen. Jetzt haben die Schüler ihre Stimmen simultan zur Aufnahme geübt, und wir können sie im online-Unterricht zusammenbringen. Zwar nicht synchron, aber wenn sich alle stummschalten, können abwechselnd einzelne hörbar werden. Und wenn wir schon in der Distanz zu unterrichten haben, ist dies doch eine gelingende Verbindung von Hausaufgaben, einzelunterrichtlichen Korrekturen und Gruppenunterricht.
Rit: Wie lautet jetzt am Ende unser Fazit?
Ler: Diese Monate stellen uns mit Restriktionen für die künstlerischen Arbeitsmöglichkeiten in Anwesenheit der Schüler sowie mit dem Gebot des online-Unterrichts vor sehr große Herausforderungen. Gerade auch das Sitzen vor dem Computer in physischer Isolation über Stunden ist nicht gesund. Umso wichtiger ist es daher, dass wir Lehrer unsere Schüler ermutigen, auffordern und darin wertschätzen, ihre Potentiale weiterhin zu entdecken und auszubauen.
Rit: Wir wissen, dass gerade die darstellenden Künste vom physischen Kontakt untereinander und mit einem Publikum leben. Und doch ist es wichtig, in dieser Zeit jetzt den Blick weniger auf die Beschränkungen als auf die Vorzüge zu richten: Wir hoffen, dass diese Periode uns am Ende neue didaktische Strategien und methodische Instrumente eröffnet, die uns alle haben wachsen lassen.
Ler: Ich bin überzeugt davon, dass wir eine neue Stimme der Ermutigung erheben können: Wir investieren jetzt in das persönliche innere Wachstum, in eine neue Art von Klassenzusammenhalt, in das eigene Leben, damit auch in dieser Zeit Vorzüge gesehen werden können. Vielleicht können wir sie nicht sofort wahrnehmen, vielleicht werden für die darstellenden Künste Darstellungen ausbleiben – aber wir gewinnen humane Künste: Die Kunst, persönliche Anstrengungen auf ein gemeinsames Ziel zu richten, die Kunst der Geduld, die Kunst, neue Kapazitäten in begrenzten Bedingungen zu erzielen, die Kunst der Resilienz. Wir können diese Periode dafür nutzen, jeden künstlerischen Ausdruck als menschliche Tugend zu verkörpern. In diesen Momenten stärken die alten Traditionen die neuen Technologien – wie noch junge Bäume mit tiefen und stabilen Wurzeln bei aufziehenden Stürmen hohe und flexible Bäume werden, die im Frühling erblühen: Lebendige Traditionen.
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