SIMONE BOLES
„Weder ist die Arbeit mit dramatischen Vorlagen ein Garant dafür, dass sich eine taugliche theatrale Struktur ergibt, noch enthebt die Idee einer offenen, postdramatischen Arbeitsweise eine Gruppe von der Aufgabe, sich dramaturgische Fragen zu stellen. Theatrale Wirkungen stellen sich nicht von selbst ein, sondern sind das Ergebnis von Konzeption, von performativer und logischer Befragung sowie von Aushandlung, Reflexion und von Bewertung! Dramaturgie verweist hierauf mit Nachdruck!“
KLEPACKI, LEOPOLD
Gemäß der sprachanalytischen Philosophie i.S.v. Hoche/Strube [1] ist eine Begriffsanalyse zunächst unvermeidbar, soll der Diskurs um „Dramaturgie” seine Sinnhaftigkeit behalten.
Die Antworten, was „Dramaturgie“ genau sei, fallen unterschiedlich aus, da beim Gebrauch des Begriffs theaterschaffende, theaterwissenschaftliche und/oder theaterpädagogische Postulate meist bereits implementiert sind.
Das von den Diskursteilnehmer*innen verwendete Vokabular und die strukturelle Herangehensweise an den Begriff „Dramaturgie“ divergiert je nach Systemzugehörigkeit und spiegelt zudem die vertretene Position wider. Relevante Systeme können hier sein: Stadt- bzw. Staatstheater[2] , Universität, Theaterwissenschaft [3] , Theaterpädagogik[4] , Schule, freie Szene etc. Und je nachdem, welche theaterwissenschaftliche, ästhetische und/oder theaterpädagogische Position vertreten wird, ändert sich wiederum die Herangehensweise und das Vokabular[5] .
Dies erklärt die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Dramaturgie“ in zahlreichen Nachschlagewerken, Ganzschriften, Aufsatzsammlungen, Lehrbüchern oder Seminarveranstaltungen und die damit einhergehende Ambiguität des Begriffs. Zudem ist der Dramaturgiebegriff in fortwährender und beschleunigter Veränderung begriffen. Der Sinn von Dramaturgie hängt auch in Schultheaterproduktionen vom spezifischen künstlerischen Impuls ab. Lehmann konstatiert 2013: „Es gibt daher für Dramaturgie keine Regel und kein Modell mehr.“ [6] Für Einar Schleef ist Dramaturgie musikalische Arbeit bzw. Textmontage, für Pollesch ist Dramaturgie ein „Ideen-Input“, andere Regisseure wiederum fokussieren das Umfeld, die literatur‑, theatergeschichtlichen Umstände des Textes, seine gesellschaftlichen Verhältnisse etc.
Wer als Spielleiter*in oder Coach in einem konkreten Schultheater-Projekt steckt, möchte jedoch konkrete Antworten auf konkrete Fragen und hat wenig Erkenntnisgewinn von der Feststellung, es herrsche Begriffsverwirrung.[7]
Zu 1: Die erste Bedeutung des Begriffs spielt insofern eine Rolle für Schultheaterproduktionen, als der Beruf des Dramaturgen am Stadttheater exemplarisch für Aufgabenbereiche stehen kann, welche bei der Einteilung der Spielgruppe in „Spezialteams“ hilfreich ist. Zudem wird hier die Darstellungsoption fokussiert. Dramaturgie meint hier eine rezeptionsästhetische Disziplin, die sich mit Wirkungsgesetzen, Regeln der dramatischen Effekte, die Bedeutung der (Nicht-)Identifikation des Zuschauers o.Ä. beschäftigt.
Zu 2: Die zweite Begriffsbedeutung ist für Schultheaterproduktionen relevant, da jede gelungene Produktion eines ästhetischen Kompositionsprinzips bedarf. Das Kursbuch Darstellendes Spiel zeigt neun „Kompositionsmethoden“ auf, die als Prinzipien des inhaltlichen, rhythmischen, visuell/atmosphärischen Aufbaus einer Szene oder eines Stücks herangezogen werden können: Reihung, Wiederholung, Kontrastierung, Verdichtung, Steigerung, Umkehrung, Variation, Parallelführung und Bruch. Die Übersichtlichkeit der Kompositionsmethoden sorgt im Inszenierungsprozess für Klarheit, zugleich birgt die Vereinfachung jedoch die Gefahr der Statik, des „Abarbeitens“ und missachtet den künstlerisch-ästhetischen Prozess. Wer in einer Schultheaterproduktion mit einem „Handwerkskoffer trainieren“ will, läuft Gefahr, Theater auf Handwerk zu reduzieren, das Ergebnis ist ebenso statisch, wenig variabel und missachtet den besonderen Moment einer Inszenierung: Allgemein gültige Handwerksregeln und übertragbare „Methoden“ beachten zu wenig die Individualität der Spieler*innen, die Spezifik von Ort und Zeit, die Besonderheiten der Wirkungsintention und den Moment des ästhetischen Prozesses. Analogisierend überspitzt ausgedrückt: Wer mit seinen Schüler*innen nach dem Prinzip „Malen-nach-Zahlen“ arbeitet, erhält auch nur ein „Malen-nach-Zahlen-Bild“.
Zu 3: In der dritten Bedeutung werden Dramaturgien auch als Anleitungen zum Verfassen oder zum Verständnis von dramatischen Texten verstanden. Bekannte Dramaturgien sind die fragmentarisch erhaltene Poetik (um 335 v. Chr.) von Aristoteles, Gotthold Ephraim Lessings Hamburgische Dramaturgie (1767–69), Passagen aus Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1835–38) oder Bertolt Brechts Kleines Organon für das Theater (1946). Texte von Augusto Boal, Peter Brook, Robert Wilson, Elfriede Jelinek etc. erweitern diesen Dramaturgiebegriff um die Anleitung zur Inszenierung von dramatischen Texten oder Nicht-Texten, wobei hier der Übergang zur Regiearbeit fließend ist.
Der Begriff „Dramaturgie“ wird in dieser Bedeutung manchmal auf das Narrativ verkürzt. Elemente und Bauformen von Mythen, Sagen, Märchen und Dramen werden seit der Antike zu Maximen verdichtet. Auf diese Weise kristallisieren sich kulturell kodierte Erzählmuster im kollektiven Gedächtnis heraus, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und somit auch als anthropologische Prämisse gesehen werden können (Der Mensch ist ein erzählendes Wesen, „homo narrans“, Albrecht Koschorke hat dies in den „Grundzüge(n) einer Allgemeinen Erzähltheorie“ dargestellt.
Aristoteles stellte erstmals einen Zusammenhang her zwischen der Art, wie eine Geschichte erzählt wird, und dem Empfinden sowie der Lebenserfahrung des Zuschauers. Er machte damit den Rezipienten zum Bezugspunkt der Dramaturgie. Häufig wird die Frage nach der Dramaturgie mit einer Darstellung und/oder Deutung der Theatergeschichte seit Aristoteles beantwortet.
Hier will kein historisch spezifischer Formtyp normativ verabsolutiert werden o.Ä., sondern es wird versucht, den Diskurs um die „Dramaturgie“ transparenter zu machen.
Häufig wird die Frage nach der Dramaturgie mit zwei bekannten Metaphern beantwortet: Die Dramaturgie sei vergleichbar mit einer „Landkarte, einem U‑Bahn-Netz, einem „Stadtplan“. „Struktur“, „Form“ und „Aufbauprinzip“ sind hier Signalwörter. Das Bild ist hilfreich, da es sowohl der Offenheit des dramaturgischen Prozesses als auch der Übersichtlichkeit gerecht wird. Zudem wird der Ausgangspunkt und das Ziel fokussiert, mögliche Wege, Umwege und Abwege zwischen Ausgangs- und Endpunkt werden sichtbar. Deutlich wird ferner, dass es nicht nur einen gangbaren Weg gibt.
Als zweite Metapher wird häufig „der rote Faden“ verwendet, teilweise wird hier jedoch die Frage nach der Dramaturgie auf das Inhaltliche, das Narrative reduziert, Signalbegriffe sind hier „Handlung“, „Erzählung“, „Geschichte“.
Deutlich wird, dass neben theaterwissenschaftlichen Aspekten auf allen drei Bedeutungsebenen die Theaterwissenschaft, die literaturwissenschaftlich, motivhistorisch, rezeptionsästhetische und rezeptionshistorische Germanistik (A) oder die philosophische Disziplin der Ästhetik und Kunstphilosophie (B) eine Rolle spielen. Die Ästhetik als die Lehre vom Schönen (und Erhabenen, Anmutigen, Tragischen, Humorvollen, Idyllische etc.), vom ästhetisch Belangvollen, seiner Wirklichkeitsart, seinen Gesetzen und Normen, seinen Spielarten und Typen, seinem Verhältnis zu Natur und Kunst, seiner Entstehung bzw. Schaffen im künstlerischen Schaffen und Rezipieren ist eine philosophische Teildisziplin, welche wiederum Poetiken, Formvorgaben, Rezeptionsvorgänge, die Frage nach der Allgemein-Gültigkeit einer ästhetischen Urteilskraft etc. inkludiert.
Somit verfügt der Dramaturg über umfangreiches Expertenwissen. Unumgänglich sind folglich die theaterwissenschaftlichen und aufführungsrezipierenden Kenntnisse eines Dramaturgen, die unabschließbar zu erweitern sind. Dies erklärt, warum zahlreiche Texte über Dramaturgie oder Einführungsseminare zur Dramaturgie mit Theatergeschichte beginnen. Insgesamt weisen Einführungen, Seminare in die Dramaturgie oder Texte zur Dramaturgie demnach unterschiedliche Herangehensweisen auf: