Marco Graša
Marco Graša
Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mensch geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist. Allerdings, wenn wir vom Theater sprechen, meinen wir etwas anderes. Rote Vorhänge, Scheinwerfer, Blankverse, Gelächter, Dunkelheit – […]. Wir sprechen davon, daß der Film der Tod des Theaters sei und beziehen uns mit diesem Satz auf das Theater zur Zeit der Entstehung des Films, ein Theater mit Kasse, Foyer, Klappsesseln, Rampenlichtern, Szenenwechsel, Pausen, Musik, als sei das Theater wesentlich das und wenig mehr. (Brook 1983: 9)
Vermutlich wird Peter Brook nicht bewusst gewesen sein, dass seine einfache These im digitalen Theater zu völlig neuer Gültigkeit gelangen würde. Denn genau an seiner Definition der einfachsten theatralen Handlung – der durch den Raum gehende Mensch samt Rezipierendem – haben sich die Schüler*innen der Theater-AG des Werkgymnasiums Heidenheim (kurz: TheaterAG.WeG) im Projekt Forschung@theater_digitalitaet während des digitalen Festival Schultheater der Länder 2021 (SDL2021) orientiert.
Die TheaterAG.WeG betreibt seit einigen Jahren mit großer Begeisterung forschendes Theater, für das sie bereits ausgezeichnet wurde.1Das forschende Stück „MAKELLOS“, das sich mit Biografien der NS-„Euthanasie“-Verbrechen auseinandergesetzt hat, wurde 2019 im 2. bundesweiten Theaterwettbewerb andersartig gedenken on stage mit dem zweiten Preis bedacht. Dokumentation unter www.andersartig-gedenken.de Die TheaterAG.WeG hat sich im Projekt Forschung@theater_digitalitaet des SDL2021 aus Schüler*innen der Klassenstufen 9–12 zusammengesetzt und bereits im Vorfeld des Festivals das digitales Theaterstück ZUSTANDS@NDERUNG entwickelt und aufgeführt Nachzusehen auf Youtube unter den Suchworten Theaterag Werkgymnasium.) Sowohl für diese Inszenierung als auch während des SDL2021 wurde die Schüler*innen von Marco Graša und der Theaterpädagogin Julia Arthofer begleitet, die selbst ehemalige Schülerin des Werkgymnasiums und „Schultheaterkind“ der TheaterAG.WeG ist. Daher erhielten wir von der Jury des SDL2021 den Auftrag, das Festival forschend und mit interessiertem Blick zu begleiten. Diesen Auftrag gerne annehmend, haben die Schüler*innen der TheaterAG.WeG nicht nur alle 19 Aufführungen des SDL2021 genossen, sondern auch an den Fachforen teilgenommen und so einen spannenden und vielfältigen Einblick bekommen.
Schnell hat sich dabei die Frage nach der Theatralität im digitalen Raum als zentral herausgeschält. Und damit eben auch die Frage nach der Gültigkeit der These Peter Brooks. Aber wie kam es dazu?
Bekanntermaßen musste das SDL2021 pandemiebedingt in den digitalen Raum verlegt werden. Was anfangs noch als undenkbar galt und aller Orten große Vorbehalte auslöste, hat sich als überaus spannendes und sehr ergiebiges Festival einer neuen, anderen Art des Theaters präsentiert. Denn nichts anderes als eben jenes Brook’sche Prinzip des Theatralen stand plötzlich zur Debatte: Den gemeinsamen, sinnlich-atmosphärischen Theaterraum gab es beim digitalen SDL2021 schlichtweg nicht. Zwar saßen die meisten der teilnehmenden Gruppen gemeinsam vor den Beamern, Bildschirmen und in den Kacheln des Festivals, aber eben jede an ihrem ausgewählten Festivalort und nicht alle gemeinsam räumlich in Ulm. Der im Raum agierende Mensch und dessen Rezipient*in teilten keine räumliche Einheit – zumindest keine analoge –- und waren oft auch zeitlich voneinander getrennt. Denn nicht alle auf dem Festival gezeigten Inszenierungen waren live produziert, sondern wurden als filmische Beiträge gezeigt. Dabei reichte die Breite von vollständig vorproduzierten Filmen bis hin zu Aufzeichnungen von Aufführungen, die im Vorfeld stattgefunden hatten.
Nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Einheit war also nicht selbstverständlich gegeben und zu Recht haben die Schüler*innen der TheaterAG.WeG als erstes die Frage gestellt: Ist das noch Theater oder schon Film?
Die beiden Kunstformen voneinander abzugrenzen, scheint auf den ersten Blick ganz leicht, hat sich dann im Kontext der 19 Festivalbeiträge allerdings als einigermaßen komplex herausgestellt. Einen ersten Versuch der Unterscheidung haben wir mithilfe der Kategorien von Manfred Brauneck unternommen (Brauneck 1998, S. 15ff.). Brauneck definiert die theatrale Situation als (1) einen Vorgang aus Darstellung und Rezeption, der (2) die Kopräsenz von Agierenden (also Schauspielenden) und Rezipierenden verlangt – worin Peter Brook und er sich offenbar einig sind. Darüber hinaus ist (3) jede Aufführung ein einmaliges Ereignis und (4) treffen Agierende und Rezipierende die unausgesprochene Übereinkunft, dass man eine Als-ob-Realität zeigt und sieht. Diesen definitorischen Rahmen als Grundlage voraussetzend, haben die Schüler*innen der TheaterAG.WeG schnell für sich festhalten können, dass Film und Theater sich eben vor allem darin unterscheiden, dass der Film keine Kopräsenz von Agierenden und Rezipierenden voraussetzt und dass es sich bei der filmischen Darstellung nicht um ein einmaliges Ereignis handelt, weil der Film zu jedem Zeitpunkt gleichbleibt, wohingegen das theatrale Ereignis schon deswegen einmalig ist, weil es live ist.
Aber wie merkt man im digitalen Raum, ob etwas live oder aufgezeichnet ist? Mit Blick auf einen Bildschirm (oder jede andere Projektionsfläche) lässt sich das sinnlich-atmosphärische Erlebnis zumindest für die Kopräsenz nicht überprüfen. Jede Aufführung kann zwar behaupten, dass auf der einen Seite live gespielt wird, während auf der anderen Seite live zugeschaut wird, aber spüren kann man das eben erstmal nicht. Die Idee der Schüler*innen dazu war, dass das theatrale Erlebnis im digitalen Raum einer gewissen Immersion bedarf, die die tatsächliche Kopräsenz und damit den live-Moment, also die Gleichzeitigkeit, markiert und erlebbar macht. Der digitale Raum muss also von beiden Seiten her gefüllt werden können, um das Filmische vom Theatralen zu unterscheiden.
Mit dieser Definition waren wir im ersten Moment erstmal zufrieden. Konnte man nur zuschauen und dabei nicht durch aktive, immersive Teilnahme das Live-Erlebnis überprüfen, gingen wir von Filmen aus, die Kunstwerke von hoher darstellerischer, erzählerischer und ästhetischer Qualität, aber eben Filme und kein Theater waren.
Wie oben bereits bemerkt, hat der Kontext der 19 Inszenierungen immer wieder neue Beobachtungen erzeugt und damit neue Erkenntnisse zugelassen. So wurde den Schüler*innen schnell klar, dass im Vorfeld aufgezeichnete Aufführungen im Moment der Aufzeichnung Einmaligkeit erzeugt habe mussten, vor allem, wenn sie vor anwesendem Publikum aufgezeichnet wurden und erkennbar theatral waren (z.B. durch den typischen Guckkasten-Bühnenraum, in dem sich die Spieler*innen bewegten). Im Moment der Vorführung ging diese Einmaligkeit aber verloren und machte die Inszenierungen damit zu – ja was eigentlich? – nun doch zu Filmen?
Die anfänglich getroffene Unterscheidung war also im Laufe der Betrachtungen für uns nicht mehr ohne weiteres gültig und es mussten neue Kriterien gefunden werden. Beim gemeinsamen Schauen einer Inszenierung, die im ersten Moment von uns noch als Film definiert worden wäre, machten die Schüler*innen dann eine neue Beobachtung: Die „Filme“ wirkten auch ohne erkennbaren Bühnenraum oft theatral und weniger „filmisch“, wie sie das gewohnt waren. Scheinbar wurden bei der Inszenierungs- und Produktionsarbeit mit spezifischen theatralen Elementen gearbeitet, die von den Rezipierenden auch als solche erkannt wurde. Zeigte sich hierin eine besondere Form der „Als-ob-Realität“ im digitalen Raum? Quasi das gemeinsame Einverständnis aller Beteiligten, dass man eben Theater macht und dessen Möglichkeiten im digitalen Raum auslotet?
Ausgehend von dieser anderen Perspektive haben die Schüler*innen dann angefangen besondere Momente der digitalen Ästhetik zu sammeln und zu benennen, also Formen von Theatralität und theatraler Ästhetik, die sie bisher noch nicht gesehen hatten und die sie speziell dem digitalen Raum zuordnen konnten. Neben den immersiven Elementen z.B. durch Abstimmungen, die das oft performative Geschehen beeinflussen oder lenken konnten2Hier kann man sich herrlich drüber streiten, ob diese Form der Immersion speziell dem digitalen Raum vorbehalten ist oder in diesem nur einfacher gestaltet und durchgeführt werden kann. Hier sind wir zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen, wobei festgehalten werden muss, dass den Schüler*innen die Vergleichsmöglichkeiten solcher immersiven Theatererlebnisse außerhalb des digitalen Raumes schlichtweg fehlen. oder der Möglichkeit zu entscheiden, welchen Erzählstrang man als Rezipierender gerade verfolgen möchte, stach für uns vor allem ein ästhetisches Element besonders heraus: die Kachel.
Die Beobachtung war, dass jedes Videokonferenz-Tool den Bildschirm in Kacheln teilt, die schon an sich wie kleine Guckkasten-Bühnen funktionieren. Als Rezipient*in fragt man sich: Was ist im Bildhintergrund zu sehen? Wie ist der sichtbare Raum gestaltet? Sehe ich ein Stück des Privatlebens des Kachelbesitzers oder ist die Kachel bewusst inszeniert? Damit verbunden wurde für uns dann auch schnell deutlich, dass die Art der Kachel den Grad an Theatralität bestimmen kann und die alte Frage der Unterscheidung nach Theater und Performance aufzureißen vermag. Denn war eine Kachel bewusst gestaltet und als klar inszenierter Raum erkennbar, dann war es meist auch die Person darin, die in ihrer Rolle als Figur agierte und nicht als Privatperson. Gewährte die Kachel einen Blick in den Privatraum der darin zu sehenden Person, dann war diese Person zumeist auch sie selbst und das Geschehen der Inszenierung war eher performativer Art als theatral-ästhetisch überformt. Schlussendlich gab es eine Inszenierung3Der Beitrag aus Schleswig-Holstein Was wir dachten, was wir taten hat uns in dieser Hinsicht besonders beeindruckt., wo die Kachel selbst zum ästhetischen Element wurde und z.B. das Gesicht eines Spielers wie in einem Splitscreen in mehreren Kacheln gleichzeitig zu sehen war. Und obwohl der Beitrag nicht live, sondern filmisch aufgezeichnet war, war die darin enthaltene digitale Theatralität durch die Verwendung der Kachel sofort erkennbar und die Inszenierung für uns deutlich eher Theater als Film. Damit wurde die Kachel von den Schüler*innen also als besonderer digital-theatraler Raum und gleichzeitig als digital-ästhetisches Element definiert.
Zu guter Letzt durfte ich als Theaterlehrer dann noch etwas lernen. Ich, der sich gefühlt recht sicher auf Facebook und Instagram zu bewegen glaubt, habe das gesamte Festival über darauf gewartet, dass die Schüler*innen die Social-Media-Plattformen als besondere digital-theatrale Räume definieren würden. Als in diese Richtung keine Äußerungen gemacht wurden, habe ich – natürlich didaktisch wohlüberlegt – versucht, die Beobachtungen der Schüler*innen auch noch auf dieses Feld zu lenken, denn immerhin waren einige der Inszenierungen bewusst auf den Social-Media-Plattformen gestaltet.4Der Plural „Plattformen“ ist hier im Grunde nicht ganz richtig. Es wurde vor allem Instagram verwendet. Vielleicht, weil Facebook für die Generation der Schüler*innen keine Rolle mehr spielt und TikTok für die betreuenden Spielleitungen wohl (noch) nicht. Ich habe mir dann in wenigen Sätzen erklären lassen dürfen, dass social media per se Räume abbilden würde, die gewissen Inszenierungsregeln gehorchten und damit als zumindest zeitweise theatral betrachtet werden könnten. Hier würde die „Als-ob-Absprache“ von vornherein gelten, weil alle Beteiligten wüssten, dass mit Filtern etc. gearbeitet und natürlich nur das für das Publikum der Follower*innen präsentiert würde, was man zeigen wolle und was für entsprechende Resonanz in Form von likes5 Auf die Frage, ob diese likes als eine Art digitaler Applaus gelten können, haben wir keine abschließende Antwort gefunden. sorgen würde. Die Schüler*innen der TheaterAG.WeG hatten die Social-Media-Räume also von vornherein als digital-theatrale Räume betrachtet und daher gar keinen Grund mehr gesehen, diese speziell zu untersuchen. Und mir wurde dabei klar, wie reflektiert die jungen Menschen eben sehr wohl mit der Inszenierung auf social media umgehen und diese durchaus für ein theatrales Erleben nutzen und wie wenig sie „das Analoge“ und „das Digitale“ voneinander trennen – nämlich weit weniger, als wir Erwachsenen das mitunter tun.
Am Ende der Festivalwoche hatten wir also die Beobachtung gemacht, dass sich digitale Theatralität nicht unbedingt von analoger abhebt, weil „klassische„6Gemeint sind hier mit „klassisch“ alle theatralen Formen des Analogen, zu denen ich auch postdramatische und performative Ansätze zählen möchte. Nicht-klassisch wären demnach digital-theatralen Elemente. theatrale Mittel und Elemente sich sehr gut in den digitalen Raum übersetzen lassen. Gleichzeitig haben wir erlebt, dass mit den Mitteln des Digitalen neue Formen von theatraler Ästhetik erzeugt werden können, die im analogen Raum so nicht funktionieren.
Im Abschlussgespräch (alle müde, sehr glücklich und inspiriert) hat eine Schülerin dann aber auf den Punkt gebracht, warum sich digitale von analoger Theaterarbeit eigentlich nicht unterscheidet. Theater ist die Erfahrung des Schaffens von etwas Gemeinsamen. Und das ist in allen Begegnungsräumen möglich und macht das Schultheater, egal in welchem Raum, immer wieder zu etwas Besonderem. Frei nach Brook: Wenn zwei Schüler*innen gemeinsam Theater machen, wird jeder leere Raum – egal ob digital oder analog – zur Bühne werden.
Dieser Artikel wurde ursprünglich veröffentlicht in: Spiel & Theater, Jg. 2022, Nr. 209, S. 15 – 18. Wir danken dem Deutschen Theaterverlag für die Veröffentlichung im Fokus. Hier ein Link zum Verlag und zum entsprechenden Heft Nr. 209 von Spiel & Theater.
Brook, Peter (1983): Der leere Raum, 11. Aufl., Berlin: Alexander Verlag.
Brauneck, Manfred (1998): Theater, Spiel und Ernst. Ein Diskurs zur theoretischen Grundlegung der Theaterästhetik, in: Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften Stilperioden, Reformmodelle, Reinbeck: Rowohlt Verlag, S.15–36.
Marco Graša ist Theaterlehrer, Theaterpädagoge BuT® und war Mitglied im Organisationsteam des Festivals Schultheater der Länder 2021 in Baden-Württemberg. Er leitet seit 12 Jahren die TheaterAG.WeG des Werkgymnasiums Heidenheim, mit der er überwiegend partizipative Theaterarbeit betreibt und forschende Projekte realisiert.