Sebastian Eggers
Herzlich Willkommen zu meinem Teil unseres Vortrags zum Thema „Rolle“!
Mein Beitrag ist dreigeteilt, weil ich das Thema Rolle aus drei verschiedenen Blickwinkeln betrachten möchte. Zunächst geht es darum: Was heißt eigentlich dramatisches Denken? Was meint die dramatische Form, woher kommt sie und was für ein Weltbild liegt möglicherweise dahinter? Dann folgt ein Exkurs in das Rollenverständnis der „Prozessorientierten Psychologie“ nach Arnold Mindell, und im letzten Teil gebe ich ein paar manchmal provokante Tipps und Tricks aus der Praxis.
Schauen wir auf einen Ursprung der klassischen dramatischen Form zurück, die griechischen Tragödie: Hier suchte eine noch junge Gesellschaft in einem durch kriegerische Auseinandersetzungen (Perserkriege) gewonnen Machtzuwachs in einem relativ neu gewachsenen Staat nach ihren Handlungsmöglichkeiten und Grenzen. Der Handlungsrahmen war durch von alten Gött*innen vorgegebene Gesetze definiert. Und nun fingen die Menschen plötzlich an, ihren Handlungsrahmen zu verändern. Sie suchten in einem Emanzipationsprozess nach einer eigenen, menschengemachten Gesetzgebung. Es stand göttliches Recht gegen von Menschen gemachte Gesetze. Doch wann überspannen die Menschen den Bogen und entfernen sich zu sehr von den göttlichen Vorgaben? Wenn dies geschähe, würde das bedeuten, das Hybris einsetzt und als deren Konsequenz die Gesellschaft verfällt. 1
Vgl. „Die politische Kunst der griechischen Tragödie“, Christian Meier, C.H. Beck‘sche Verlagsreihe, 1988
Diesem Gedanken folgend und ihn verallgemeinernd, möchte ich folgende These aufstellen: Auf diese Art gelesene dramatische Texte, d.h. durch Konflikte strukturierte Texte, schildern Menschen und/oder Gesellschaften in Umbruchsituationen. Sie zeigen Gesellschaften auf der Suche nach sich selbst, nach den eigenen Handlungsmöglichkeiten und ihren Handlungsgrenzen. Dabei ist ihr Blick in der Tendenz konstruktiv: Die so verstandene dramatische Form zeigt Leben als etwas Gestaltbares, und Menschen und Gesellschaften als gestalt – und veränderbar.
Hierbei richtet sich der Blick von dramatischen Texten auf die Polaritäten, die einzelne Menschen und Gesellschaften durchziehen. Göttliches Recht steht gegen von Menschen gemachte Gesetze, die Liebe zum Vater gegen die Liebe zum Bruder (Antigone), die romantische Liebe gegen ungerechte Standesgrenzen (Kabale und Liebe) oder gegen den gegenseitigen Haß der Elternhäuser (Romeo und Julia), das vernunftgesteuerte Tagesbewusstsein gegen die Triebhaftigkeit der Waldnacht im Sommernachtstraum, Liebe gegen politisches Kalkül bzw. politische Notwendigkeit (Schiller), die Kriminalität der Bettler*innen gegen die Verbrechen des Kapitals (Dreigroschenoper). Solche Gegensätze halten dramatische Texte und dramatische Figuren in Spannung. Zugespitzt heißt das: Dramatisches Denken ist Denken in Polaritäten.
Damit möchte ich sagen: Figuren sind kein Selbstzweck. Figuren stehen für Haltungen im Spannungsfeld von konkreten und gesellschaftlich relevanten Gegensätzen. Die schauspielerische Aufgabe besteht darin, diese Haltungen zu verkörpern, und sie interagierend mit den anderen Figuren in ihren Extremen auszuloten. Dadurch bietet Figurenspiel die Möglichkeit, Weltzugänge und Haltungen zur Welt zu erforschen, sie spielerisch anzueignen und zu überprüfen. Und je widersprüchlicher diese Haltungen sind, desto komplexer und widersprüchlicher erscheint das Weltbild dahinter.
Geht es dagegen nur oder vor allem darum, die Kunstfertigkeit einer schauspielernden Person in der Verwandlung in eine von ihr unterschiedenen Figur auszustellen, oder geht es nur um die Emotionen, die Schauspieler*innen herzustellen in der Lage sind, bleibt das Spiel aus dieser Perspektive leer und geht am eigentlichen Potential von dramatischem Theater vorbei.
Insbesondere für das Schultheater möchte ich festhalten: Dieses Spiel mit Haltungen ist nicht abhängig vom Ausbildungsstand der Darsteller*innen. Im Leben nehmen wir ständig Haltungen ein. Es ist unmöglich, keine Haltung zu haben – auch eine neutrale Haltung ist eine Haltung.2Vgl. „Change the Pattern“, Hermann Schmidt-Rahmer, Alexander Verlag Berlin, 2023 Deswegen ist ein Spiel über Haltungen ein sehr griffiger Zugang für eine Spielweise im Schul- oder Amateurtheater.
Ein kurzes Beispiel: Stellen wir uns vor, ich lüge. Jetzt kann ich in sehr unterschiedlichen Haltungen lügen. Ich kann glatt und routiniert lügen, ich kann auf unsichere Weise lügen, ich kann das verdruckst tun, ich kann aufgeregt lügen, triumphierend, frech, fanatisch, ich kann gezwungen lügen, ich kann schadenfroh lügen usw. Und je nachdem, in welcher Haltung ich lüge, entsteht eine unterschiedliche Fantasie zu einer Figur. Auf diese Weise werden Figuren durch Haltungen sowohl kreiert als auch charakterisiert. So sind Haltungen eine Art kleinster Baustein in der Verkörperung von Figuren.
Jetzt möchte ich einen Perspektivwechsel vornehmen und das Rollenmodell aus der Prozessorientierten Psychologie nach Arnold Mindell aufgreifen. Arnold Mindell ist ein jungianisch geprägter und somit tiefenpsychologisch geschulter Psychoanalytiker, der in den Siebziger Jahren in der Schweiz begonnen hat, mit mehreren Mitstreiter*innen die Prozessorientierte Psychologie, kurz Prozessarbeit, zu entwickeln. Inzwischen ist daraus ein sehr komplexes System geworden. Eine wichtige Wurzel bleibt die Analytische Psychologie Carl Gustav Jungs; dazu kommen weitere Einflüsse wie z.B. Taoismus, Quantenphysik, Feldtheorien, um nur einige zu nennen. Die Anwendungsbereiche erstrecken sich über Psycho- und Traumatherapie, Komaarbeit hin zu Beziehungs- und Konfliktarbeit sowie der Arbeit mit Gruppen und Großgruppenkonflikten (Weltarbeit). 3Vgl. „A path made by walking“, Julie Diamond, Lee Spark Jones, Belly Song Press, 2018
Die Prozessorientierte Psychologie spricht ebenfalls von Rollen und arbeitet mit einem spezifischen Rollenbegriff. Das Interessante daran ist, dass Mindell Rollen dem Bereich des Unbewussten zuordnet. Einmal kurz in Erinnerung gerufen: Jung geht vom Ich aus, und das Ich umfasst alles, womit einzelne Menschen identifiziert sind, also alles, wovon sie wissen, dass sie es sind. Und um das Ich herum siedelt er das viel größere Selbst an, in dem unbewusste Anteile der Persönlichkeit beheimatet sind. Die Entwicklung besteht nun darin, sich in sein Selbst hinein zu erweitern. In diesem Sinne meint Persönlichkeitsentwicklung im jungianischen Sinne „Selbstwerdung“ oder, im Fachjargon, Individuation.4Vgl. „Individuation und Wandlung“, Ralf T. Vogel, W. Kohlhammer GmbH, 2017, Verena Kast Zudem sind wir im Selbst mit dem kollektiven Unbewussten verbunden, also mit dem Unbewussten der uns umgebenden Gesellschaft. Diese Überschneidungen oder Treffpunkte zwischen meinem individuellen Unbewussten und dem kollektiven Unbewussten der mich umgebenden Gesellschaft, in die ich eingefügt bin, nennt Mindell nun wiederum „Rollen“.
Rollen nach Mindell sind also Teilaspekte meiner Persönlichkeit, die gleichzeitig auch von anderen gelebt werden können und mir mehr oder weniger bewusst sind. Somit sind Rollen mit Haltungen und Emotionen und Themen und Blickweisen gefüllte Gefäße, die einerseits Teil meiner individuellen Persönlichkeit sind, und in denen ich mich andererseits mit anderen Menschen verbinde und treffe. Rollen in diesem Verständnis haben also einen überpersönlichen Aspekt.
Um es ein bisschen weniger abstrakt zu sagen: Ich als Sebastian bin oft ein Dozent, manchmal ein Rebell, oft ein Mentor, es lebt ein Kind in mir, ich bin ein Künstler, ein Mann, manchmal ein Diktator, oft ein Idealist, ich bin ein Pragmatiker, ich bin ein Liebender, ich bin ein spirituell Suchender, usw. Diese Rollenvielfalt macht meinen inneren Reichtum aus. Wenn ich hingegen von anderen auf eine einzige Rolle reduziert werde, ist das schmerzhaft, denn es reduziert meine Persönlichkeit auf einen einzigen Aspekt. Im Theater entstünde in diesem Fall ein Klischee.
Jetzt bin ich vermutlich nicht die einzige Dozent*in im Raum oder der einzige Mensch, der sich als Mann identifiziert, und schon könnte ich mich mit allen anderen Dozent*innen oder Menschen im Raum, die sich männlich identifizieren, darüber unterhalten, wie wir Dozent*in-Sein oder Mann-Sein erleben und leben. Und schon befinden wir uns auf der kollektiven, überpersönlichen Ebene, eben: auf der Rollenebene im prozessorientiertem Sinn.
Somit habe ich mit dem prozessorientierten Rollenbegriff ein Instrument, mit dem ich auf drei Ebenen mit Rollen arbeiten kann:
Einerseits auf individueller Ebene mit Einzelnen in Bezug auf Persönlichkeitsentwicklung – indem ich mit inneren Rollen und Rollenkonflikten umgehe, die entstehen, wenn meine inneren Rollen sich widersprechen und ich z.B. gleichzeitig abnehmen und Schokolade essen möchte. Oder eine innerer Anteil von mir möchte Karriere machen, ein anderer hat Angst davor, was Karriere für mein Privatleben bedeuten würde.
Ich kann damit auf der Gruppenebene arbeiten, also schauen, wie sich verschiedene Rollen innerhalb der Beziehungen in der Klasse oder Theatergruppe, mit der ich arbeite, konstellieren. Wie setzen diese Rollen die Gruppe unter Spannung? Wie beeinflussen sie die Beziehungen? Wo liegt Konfliktpotential?
Und ich kann damit auf das größere gesellschaftliche Feld zugreifen und schauen, wie sich diese Rollen auf gesellschaftlicher Ebene konstellieren, wie sie gelebt werden und welche Dynamiken sie auslösen.
Eine zentrale Annahme aus der Prozessorientierten Psychologie in Bezug auf gesellschaftlichen Wandel besteht darin, dass nachhaltige gesellschaftliche Veränderung nur gelingt, wenn auf allen Ebenen gearbeitet wird, also sowohl auf individueller wie auf Gruppen- und gesellschaftlicher Ebene.5Vgl. „Der Weg durch den Sturm“, Arnold Mindell, Verlag Via Nova, 1997
Rückbezogen auf Theaterarbeit heißt dies, es bieten sich mehrere Zugänge an. Einerseits kann ich beim inneren Erleben von Einzelnen anfangen und innere Rollen erforschen. Andererseits kann ich auch schauen, welche Rollen und Rollenkonflikte die Theatergruppe, mit der ich gerade arbeite, aktuell unter Spannung setzen – also schauen, was in der Gruppe „schon da ist“ – und aus diesem heraus ein Theaterprojekt entwickeln. Oder ich schaue auf die gesellschaftliche kollektive Ebene und was dort gerade verhandelt wird, und bringe die Gruppe entweder über eine gesellschaftliche Recherche oder eine literarische Vorlage, die entsprechende Konstellationen und Konflikte enthält, ins Spiel.
Bisher habe ich aus einer dramaturgisch-analytischen und einer psychologischen Perspektive heraus gesprochen. Nun folgt ein letzter Perspektivwechsel, denn ich möchte diesen Kurzvortrag beenden mit ein paar praktisch-handwerklichen Impulsen zu klassischer Rollenarbeit, die von der Arbeit mit dramatischen Texten ausgeht.
Im Mittelpunkt stehen dabei ein paar grundsätzliche Prinzipien, die ich unabhängig von den Vorerfahrungen der Darstellenden anwende. Seien es professionelle Schauspieler*innen, Schauspielstudierende, Lehramts- oder Theaterpädagogikstudent*innen, Amateur*innen oder Laien – was sich verändert, ist der Punkt, ab welchem die Darsteller*innen einsteigen, und die Subtilität oder Grobkörnigkeit in den entstehenden Spielweisen, aber nicht die zugrundeliegenden Prinzipien.
Generell spreche ich mich für einen offenen und nicht-psychologischen Zugang zur Rollenarbeit aus.
Unter einem psychologischen Zugang verstehe ich in diesem Fall einen Ansatz, der die private Psychologie der Darstellenden mit der Psychologie der Figur bewusst vermischt – oft mit dem Motiv, auf diese Weise eine „Authentizität“ in der Darstellung der Figur zu erreichen. Nach meiner Erfahrung führt dies jedoch häufig zu einer eher introvertierten Spielweise, in der Darstellende auf der Bühne „in sich“ nach „Wahrheit“ oder „Authentizität“ suchen. Stattdessen setze ich auf Kriterien wie Handlung, Interaktion und Beziehung, Präsenz und Haltung, also auf einen nach außen gerichteten Fokus der Darsteller*innen.
Unter einem geschlossenen Zugang verstehe ich, dass die Beteiligten eine Szene im Vorfeld analysiert haben und die Probe dann nur noch dazu dient, die analysierten Ergebnisse umzusetzen. Damit schließt sich der Möglichkeitsraum, den eine Probe öffnen könnte. Dieser Vorgang wird verstärkt durch das Phänomen, dass unsere Fantasie scheinbar schnell durch die Analyseergebnisse wie hypnotisiert zu sein scheint und sich ebenfalls rasch schließt, wenn wir zu sehr zu wissen meinen, worum es geht. Es ist eine Liebesszene – und plötzlich fallen uns nur noch ein oder zwei Ausdrücke für „Liebe“ ein. Wir spielen einen Angriff – und plötzlich sagen wir alle Sätze nur noch wütend. Wie können wir dieses Gefängnis durchbrechen, so dass die Probe ein Möglichkeitsraum und offen für Überraschungen bleibt – und wir dennoch nicht beliebig sind?
Meiner Auffassung nach ist der Motor einer kraftvollen Darstellung ein nach außen gerichtetes Interesse der Darsteller*innen. Darstellende wachsen über sich hinaus, indem sie weder sich selber spielen, noch eine Figur, sondern indem sie sich ausgehend von einem dramatischen Text mit relevanten Themen und Perspektiven beschäftigen und sich diese so einverleiben, sie beleuchten und verändern, u.U. bis hin zur Überschreibung des Ursprungstextes. Dies ist ein ermächtigender Vorgang. Die Figur entsteht dann irgendwo zwischen den Sätzen, die gesprochen werden, und den zu erfindenden sinnlich präsenten Interaktionen im Raum. Figur als Kategorie wird meiner Erfahrung nach tendenziell überbewertet, und Handlung und Konflikt werden tendenziell unterbewertet. Wir sollten vermeiden, allzu viel über die Figur zu wissen.
In diesem Sinne abschließend zwölf unorthodoxe Tipps aus meiner Praxis:
Der Gradmesser, ob ein Spiel „funktioniert“, ist eine lebendige Interaktion im Hier und Jetzt. Ich bzw. meine Figur wächst in der Art und Weise, wie ich mich an den Partner*innen abarbeite.
Noch radikaler formuliert: eine Figur ist gewissermaßen eine Projektion der Zuschauer*innen, ausgelöst durch dein Handeln im Raum und den Sätzen, die du sprichst. Irgendwo zwischen dem Autorentext und deinem sinnlich-konkreten Handeln im Raum entsteht in den Köpfen der Zuschauer*innen – die Figur!
Weitere Quelle:
„Conflict: phases, forums, and solutions“, Arnold Mindell, World Tao Press, 2017