von Michael Müller, Schauspielhaus Hamburg
Wir proben ein paar Fragen, die wir an das Publikum weitergeben.
Marthaler
Kurzer Gedanke:
In dem Prozess der Rollenarbeit ging es nicht darum, eine zunächst fremde Rolle sich ähnlich zu machen, sich in eine Person oder Situation einzufühlen. Die Situation erschuf der/die Spieler:in im Probenprozess durch seine/ihre emotionale und körperliche Vorarbeit selbst und verband sie erst zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Text. Im Gegensatz zu Stanislawski, wo wir nach einem Subtext fragen, der beständig unter den Worten strömt, rechtfertigt, beziehungsweise belebt und sucht, fand das Wort in unserer Arbeit nur Handlung vor, die nicht nach einer Rechtfertigung fragte, sondern sich mit Situationen verband, die scheinbar gar nicht zu ihm passten, zunächst sinnlos nebeneinanderher liefen und letztendlich durch ihre bewusste Auswahl zu einer Rolle führten. Wie konnte das funktionieren? Rollen entstanden, die über die Darstellung der Selbst- und Weltverhältnisse hinausgingen, die Spieler:innen schützten, aber nicht verdeckten, offenlegten und zur Diskussion stellten, weil sie den Zustimmungsbonus des Authentischen verloren hatten. Trotz alledem: Die Sehnsucht nach einer Rolle bei jungen Spieler:innen darf, und das ist immer die Gefahr einer rollenbezogenen Arbeit, uns nicht zurückwerfen in die Charakterdarstellung von nicht nachvollziehbarer Zuständen und Figuren.
Ihr erhaltet hier einen bearbeiten Ausschnitt aus dem Stück PROBLEME PROBLEME PROBLEME von René Pollesch.
Wählt bitte aufgrund der Übungen, die wir gemacht haben, ein/ mehrere Spielprinzipien aus und stellt die Texte mit ihrer Hilfe da.
Die Verteilung der Texte ist euch überlassen.
Die Aufführung sollte max. 2 bis 3 Minuten dauern
In der Erzählkunst (Dramaturgie) gibt es die Begriffe Advance und Extend. Diese bezeichnen die zwei Dimensionen (Richtungen), in der eine Geschichte erzählt wird.
TEXT Monologausschnitt (Advance)
ORT Tatort Haus Elektras Familie // Grab des Vaters (Extend) plus beschriebener Emotion
Wenn „Fortschritt/ Erweitern (Advance)“ aufgerufen wird, konzentrieren sich die Spieler ausschließlich auf die Geschichte und treiben die Geschichte voran.
Wenn „Erweitern (Extend)“ aufgerufen wird, erkunden und beschreiben die Spieler ausschließlich ihre Umgebung. Während eines „Vorstoßes“ würden die Spieler der Umgebung nichts hinzufügen, aber konstruktive neue Informationen darüber einbringen, wer, warum und wo.
„Extend”: In die Breite: die Handlung bleibt an der aktuellen Stelle stehen und es wird der aktuelle Moment/Ort/Gegenstand in all seinen Facetten beschrieben. Auch Gedanken und Gefühle gehören hierzu. Der Zuhörer bekommt dadurch ein detailliertes Bild vor dem geistigen Auge. Während einer „Erweiterung (Extend)“ wird die Geschichte völlig ignoriert, Charaktere werden nicht entwickelt und die Spieler vertiefen sich in ihre nachgeahmten/ fiktiven Umgebungen. Z.B. Das Waschbecken, an dem ihre Figur steht, wird zum Mittelpunkt. Die Wasserhähne werden erforscht, die Form wird erforscht, ihr Geschmack usw. Auch hier wird die Geschichte durch die „Erweiterung“ entgleist, aber die Umgebung wird viel realer.
Die Übung soll die Energie erhöhen, eine neue Spielart/ Charakterform einführen, aber jedes Angebot muss dazu führen, dass die Geschichte voranschreitet. Diese Fortschritte können unter Ausschluss der Umwelt und sogar der Realität erfolgen. Ziel der Übung ist es, den Spielern bewusst zu machen, wann sie eine Geschichte vorantreiben.
Es wird eine Szene gespielt, in der gleich viele Darsteller stehen, sitzen, liegen (in diesem Fall 4).
Diese „Balance” ist während des Spiels aufrecht zu erhalten. Wechselt also einer der Spieler seine „Ebene” (zum Beispiel vom Stehen zum Sitzen), muss unverzüglich einer der anderen die aktuell nicht dargestellte „Ebene” einnehmen. Wenn es mehrere machen, müsst ihr improvisieren, um die Balance wiederherzustellen) Nicht übernehmen muss man die konkrete Körperhaltung (Gestik) des Anderen! Die Ebenenwechsel sind im Spiel zu rechtfertigen. Effektiv wird es, wenn es viele Haltungsänderungen gibt, also immer wieder jemand gezwungen wird sich zu bewegen (und diese Veränderung zu begründen und in eine Bewegung einzubauen).
ELEKTRA (Ausschnitte aus einem Monolog):
1: Ich habe auf ihn gewartet und ich werde geduldig warten, wenn es sein muss.
2: Ich habe alle Blicke nach ihm gerichtet, in die Ferne.
3: Bis ans Ende der Welt würde ich für diesen Tag gehen und noch mal zurück.
4: Im Schneckentempo kriechend, oder so schnell laufen bis meine Lungen explodieren.
5: Ich habe alle Worte für ihn gesammelt, die ich nicht gesagt habe.
6: Einmal alle Grenzen überwinden, einmal so laut schreien, dass man hört, was ich zu sagen habe.
7: Ich habe gewartet, Orest, du bist es mir schuldig, komm zurück, komm und lass uns anfangen die Lungen mit Freiheit zu pumpen.
8: Vater sagte, dass die Welt von heute ins endlose Dunkel rollt und v wir müssen wieder Licht in dieses Dunkel bringen.
9: Du bist es mir schuldig, dass du kommst und das tust, was getan werden muss.
10: Einmal dieses Haus wegsprengen, mit allem Sprengstoff der Welt, damit es alles Böse unter sich begräbt.
11: Einmal über alle Zäune hinwegklettern und alle Stacheldrähte durchschneiden.
12: Einmal kein Krieg mehr, einmal keine Panzer mehr, die über die Maisfelder rollen.
13: Einmal einen Sonnenuntergang ohne Schüsse, egal wo ...
Jed*er Teilnehmer*in erhält ein Bewegungsmuster (was man mit den Spieler*innen auch individuell ohne Vorgaben erarbeiten kann) Zu diesem Muster bekommt jede*r die Rollenzuweisung. Die Gruppe performt den Text im Gehen und/oder im Stehen, indem jede*r ihr/sein Bewegugsmuster im Dialog einsetzt.
Am besten gehen/ stehen/ bleiben stehen zunächst alle OHNE TEXT, der dann stellenweise eingesetzt wird.
Anwendung der Bewegungsmuster auf Stücktexte von Leonce und Lena. // Bearbeitung Georg Büchner Text von Michael Müller 2020
Jede Szene (Reise Leonce1+ 2; Lena 1) jeweils 5 Personen
entwickelt von Marie Petzold für das Deutsche Schauspielhaus Hamburg
Spielfeld genau definieren
Wenn A passiert folgt B / Spielaufträge
1: Du beginnst, laufe 4 diagonal durch den Raum. Bleibe nach 4 Mal wieder stehen.
Wenn eine Person beginnt diagonal durch den Raum zu laufen, laufe ihr sofort hinter her.
Wenn 2 Personen diagonal durch den Raum gelaufen sind und anschließend wieder stehen bleiben, setze dich in die Mitte des Spielfeldes und ließ ein Buch.
Sobald eine Person ein Buch liest, lege dich neben sie auf den Boden und schau in den Himmel.
Sobald sich eine Person auf den Boden gelegt hat und in den Himmel schaut, winke alle, die auf der Bühne sind heran: sobald alle bei dir sind, schalte die Musik ein und leite eine kleine Tanzchoreografie an. Schalte anschließend die Musik wieder aus und bitte alle abzugehen.
Sobald jemand getanzt hat und die Musik ausgeschaltet hat, stell dich in die Mitte des Spielfeldes und strecke die Arme nach oben.
Sobald eine Person in der Mitte des Spielfeldes mit ausgestreckten Armen steht, gehe zu ihr und umarme sie mindestens 30 Sekunden.
Wenn eine Person umarmt wird, gehe zwei Schritte auf sie zu und improvisiere eine Liebeserklärung, bleibe anschließend stehen.
Sobald jemand eine Liebeserklärung macht, umkreise langsam die Person, die sie gesprochen hat (mindestens 3 Runden)
Wenn eine Person umkreist wird, setze dich auf den Boden und weine leise vor dich hin.
Wenn sich eine Person hinsetzt und weint, hüpfe fröhlich über das Spielfeld.
Sobald eine Person fröhlich über das Spielfeld hüpft, feuere sie dabei an. Bitte alle sie anzufeuern und bitte dann alle die Bühne zu verlassen.
Nachdem eine Person angefeuert wurde, nimm deinen Stuhl stelle dich darauf.
Wenn sich eine Person auf einen Stuhl stellt, nimm deinen Stuhl und setze dich im Raum hin.
Wenn eine auf einem Stuhl steht und sich eine Person auf einen Stuhl gesetzt hat, nimm dir auch einen Stuhl und setze dich neben sie.
Wenn 2 Personen auf einem Stuhl sitzen und eine auf einem Stuhl steht, nimm dir auch einen Stuhl und setze dich neben die 2 Personen
Wenn 3 Personen auf einem Stuhl sitzen, nimm dir auch einen Stuhl und setze dich ihnen gegenüber.
Wenn 4 Personen auf einem Stuhl sitzen, nimm dir auch einen Stuhl, gehe auf sie zu und setze dich dann aber woanders hin.
Wenn 5 Personen auf einem Stuhl sitzen, lege dich davor auf die Seite und mache auf dich aufmerksam.
Wenn jemand sich vor eine Stuhlreihe liegt und sich wichtigmachen will, steh bedeutungsvoll auf, vermittle in drei knappen Sätzen das Schlussbild der Performance und erkläre sie für beendet.
IM ZWEITEN SCHRITT SÄTZE DAZU // EINE AUSWAHL NACH BELIEBEN
JEDE*R MEHRERE SÄTZE / EMOTINEN WECHSELND, MUSS NICHT ALLES DEPRESSIV SEIN
25. Oktober. Traurig, nervös, körperlich unwohl, Angst vor der Stadt, ab ins Bett.
12. Januar Zurück in meinem Zimmer. Draußen: Eine von vielen möglichen Welt, aber leise und weit weg, als stünde sie unter Wasser
17. Oktober. Ich irre weiter.
18. Oktober. Furcht vor der Nacht. Furcht vor der Nicht-Nacht
6. November. Ein Käfig ging einen Vogel suchen.
12. November. Abwehr. Briefe, Tagebuch.
18. November. Wie soll man den ekel- und hasserfüllten Kopf auf die Brust senken, wenn dich jemand am Hals würgt?
30. November. Zeitungen lesen. / 17. Dezember. Leere Tage.
2. Januar. ›hier ankere ich nicht‹ im Tagebuch notiert, und gleich wieder durchgestrichen
14. Januar. Trüb, schwach, ungeduldig.
15. Januar. Ungeduldig. schwach Nachtspaziergang
16. Januar. Kein Tropfen überfließt und für keinen Tropfen ist mehr Platz.
17. Januar. Einschränkung im Angesicht der Ewigkeit
18. Januar. Wenn ich ewig sein werde, wie werde ich morgen sein?
22. Januar. Versuch nach draussen zu gehn.
4. Februar. Langes Liegen, Schlaflosigkeit, Bewußtwerden des Kampfes.
19. Februar. Zurück ins Zimmer.
25. Februar. Morgenklarheit. Poseidon wurde seiner Meere überdrüssig.
26. Zurück ins Zimmer / 27. Zimmer / 28. Zimmer / 29. Zimmer - Stunde.
26 Februar: Das Grausamste des Todes: ein scheinbares Ende verursacht einen wirklichen Schmerz.
27. Februar Was ich berühre, zerfällt.
8. Dezember. Zerworfenheit. Katze im Zimme