SCHUL.THEATER

Fokus

GesellschaftsROLLEN

Umgang mit dem Fremden

von Ina Drie­mel, Lukas Gün­ther, Micha­el Aust

Vier Pro­duk­ti­on beschäf­tig­ten sich the­ma­tisch auf die eine oder ande­re Wei­se mit Fremd­heit und den damit ver­bun­de­nen gesell­schaft­li­chen Umgangs­for­men. So ver­han­del­te die Eigen­pro­duk­ti­on Hap­py­land aus Schles­wig-Hol­stein All­tags­ras­sis­mus in einer (deut­schen) Gesell­schaft, die blind vor ver­meint­li­cher Offen­heit sich selbst als unfehl­bar meint und die eige­ne Refle­xi­on und Adap­ti­on abtut. Basie­rend auf Tex­ten von Fer­di­nand Schmalz beschäf­ti­gen sich die Wild­card-Grup­pe aus Ber­lin sowie die Spiel­grup­pe aus Bay­ern in ihren Stü­cken Dosen­fleisch bzw. Schlamm­land auf einer abs­trak­ten Ebe­ne mit dem Fremd­sein selbst. Die Pro­duk­ti­on Oli­ver Twist aus Bre­men greift fremd­ge­wor­de­ne Aspek­te aus dem Roman von Charles Dickens auf und reflek­tiert die­se kri­tisch im Kon­text unse­rer heu­ti­gen Zeit. 

Die Schüler:innen des Wolf­gang-Bor­chert-Gym­na­si­um aus Hals­ten­bek in Schles­wig-Hol­stein haben sich in ihrer Eigen­pro­duk­ti­on Hap­py­land eines nicht ein­fa­chen The­mas angenommen.

Der Dar­stel­len­des Spiel-Kurs stellt in einer Sze­nen­col­la­ge eine wei­ße Norm­ge­sell­schaft dar, die kon­fron­tiert mit ver­schie­de­nen Fremd­heits­er­fah­run­gen ras­sis­ti­sche (Alltags-)Handlungen und Hal­tung dis­ku­tiert. Dabei wird zwar Ras­sis­mus als ver­werf­lich abge­lehnt, jedoch des­sen Ursprung nicht bei der Gesell­schaft selbst gese­hen. Viel­mehr wird die Schuld den Ande­ren und dem Frem­den in die Schu­he gescho­ben. Hier­für fin­det die Grup­pe zahl­rei­che bild­li­che und inhalt­li­che Adap­tio­nen. Zwi­schen Kar­tof­fel­na­sen und Knol­lendis­kurs, zwi­schen stin­ken­dem Fisch und patrio­ti­schem See­gras, zwi­schen deut­scher Selbst­be­weih­räu­che­rung, Nor­men, rot-gelb-schwar­zen Afro-Perü­cken und Scho­ko-Dick­köp­fen (die ja auch schon mal anders hie­ßen) fin­den sich auch kon­tras­tie­ren­de Sze­nen, die eige­ne, wei­ße Pri­vi­le­gi­en kri­tisch reflek­tie­ren, Men­schen mit Migra­ti­ons­ge­schich­te bio­gra­phisch zu Wort kom­men las­sen und die wah­re Posi­ti­on der Spiel­grup­pe zeigen.

Ras­sis­mus­kri­ti­sche Tex­te aus Tupo­ka Oget­tes Buch Exit Racism wer­den beglei­tet von Schwarz-Weiß-Vide­os und wer­fen einen Blick von oben auf die­se dar­ge­stell­te Kar­tof­fel­ge­sell­schaft, der in die­ser Pro­duk­ti­on der Spie­gel gezeigt wird. Dabei bewegt sich das Stück auf einem schma­len Pfad zwi­schen künst­le­risch-über­spitz­tem Ree­nact­ment und Refle­xi­on, mäan­dert zwi­schen Pro­vo­ka­ti­on, Irri­ta­ti­on und Abgren­zung. Nun stellt sich hier die Fra­ge, wie sehr Thea­ter irri­tie­ren (vgl. Ros­elt, 2018) und eine Rei­bungs­flä­che für Publi­kum dar­stel­len darf und soll­te. Für eini­ge ging es wohl zu weit, für ande­re nicht weit genug. 

 

Gleich zwei Grup­pen adap­tier­ten Tex­te von Fer­di­nand Schmalz und des­sen dys­to­pi­sche Gesell­schafts­kri­ti­ken. Mit Dosen­fleisch erzählt die Ber­li­ner Wild­card-Grup­pe vom Rosa-Luxem­burg-Gym­na­si­um (ein Leis­tungs­kurs Dar­stel­len­des Spiel) die Geschich­te des Ver­si­che­rungs­ver­tre­ters Rolf, der auf der Suche nach Unfall­sys­te­ma­ti­ken auf der Auto­bahn am Un-Ort Auto­bahn­rast­stät­te auf die bei­den hier gestran­de­ten See­len Bea­te und Jay­ne trifft.

(Der Mit­schnitt von Dosen­fleisch ist noch nicht online verfügbar.)

Letz­te­re war frü­her Schau­spie­le­rin, weiß nach einem Auto­un­fall aber nicht wohin. Bea­te wur­de beim Bau der Auto­bahn ihres Eltern­hau­ses beraubt und ist nun die Besit­ze­rin der Rast­stät­te. Ein Ort in der Mono­to­nie der vor­bei­zie­hen­den Fahr­zeu­ge, an dem der frem­de Rolf wohl einen Moment zu lan­ge ver­weilt und damit die Nicht-Ord­nung stört. Nach Rück­bli­cken in die tra­gi­schen Ver­gan­gen­hei­ten der Figu­ren, zu vie­len Fra­gen von Rolf und einem kur­zen Moment der Nähe zu Jay­ne, ent­deckt er das dunk­le Geheim­nis der bei­den Frau­en: die tat­säch­li­chen Lei­chen im Kühl­schrank. Bereits kurz dar­auf ist er selbst eingefroren.

 

Eine ande­re, ris­si­ge Ord­nung zeigt die baye­ri­sche Grup­pe des Wahl­pro­fil­fachs Thea­ter des Dient­zen­ho­fer-Gym­na­si­ums in Bam­berg mit ihrer Pro­duk­ti­on Schlamm­land basie­rend auf dem gleich­na­mi­gen Text von Fer­di­nand Schmalz.

In einer ver­meint­lich bür­ger­lich-hei­len, jedoch von All­tags­ge­walt domi­nier­ten Welt wird das Ver­hält­nis zwi­schen Toni, dem Sohn des Bür­ger­meis­ters, und sei­ner Gelieb­ten San­dra zur Gefahr für die lang eta­blier­ten Regeln des Dor­fes. Als die bei­den das Fest­zelt bei einer tra­di­tio­nel­len Ver­an­stal­tung ver­las­sen, um in einem Kühl­wa­gen ihre Affä­re aus­zu­le­ben, ist eine Gren­ze für den Bür­ger­meis­ter über­schrit­ten. Sein Hand­lan­ger schlägt die bei­den bis zur Bewusst­lo­sig­keit zusam­men. Über all die­sen Sze­nen liegt ein tie­fes Grol­len der Natur­ge­wal­ten, die schließ­lich das Dorf mit einer Schlamm­la­wi­ne über­rol­len. Was bleibt sind Tage spä­ter ver­we­sen­de und blu­ti­ge Lei­chen, die von Ret­tungs­kräf­ten aus einem Kühl­wa­gen gebor­gen werden. 

Bei­de Stü­cke the­ma­ti­sie­ren mit unter­schied­li­chen inhalt­li­chen Schwer­punk­ten rela­tiv sta­bi­le, gesell­schaft­li­che Ord­nun­gen, die durch einen Ein­bruch des Frem­den in Ungleich­ge­wicht gera­ten und ver­su­chen, sich durch die Besei­ti­gung des Frem­den zu resta­bi­li­sie­ren. Zur sze­ni­schen Umset­zung die­ser Dys­ba­lan­ce nut­zen die Grup­pen jeweils sprach- und bewe­gungs­cho­ri­sche Gestaltungsmittel. 

Die baye­ri­sche Grup­pe arbei­tet hier recht for­mal: In weiß-bei­gen Kos­tü­men mit jeweils einem roten Acces­soire wer­den Bewe­gun­gen und Schritt­fol­gen, die an klas­si­schen Paar­tanz erin­nern, über das Stück hin­weg zu einer immer län­ger wer­den­den, geloop­ten Cho­reo­gra­fie. Par­al­lel wer­den die gewähl­ten Text­pas­sa­gen prä­zi­se rhyth­mi­siert vor­ge­tra­gen, wobei figu­ra­le Zuord­nun­gen der Spielenden(-gruppen) ver­schwim­men und inhalt­li­che Macht­asym­me­trien vor allem über Grup­pie­rung und Ver­ein­ze­lung dar­ge­stellt wer­den. Stets wird ein­dring­li­cher Blick­kon­takt zum Publi­kum am Ran­de der Sta­di­on-Büh­ne gehal­ten. Zwi­schen­zeit­li­che musi­ka­li­sche Ein­spie­ler inten­si­vie­ren die Höhe­punk­te des dra­ma­tur­gisch-inhalt­li­chen Bogens. 

Auch Ber­lins Wild­card-Grup­pe eröff­net ihre Pro­duk­ti­on zunächst mit einem exakt gesetz­ten Sprech­chor. Als eine Art Gesell­schafts­chor rah­men die zunächst schwarz geklei­de­ten Spie­len­den mit hell leuch­ten­den Kopf­lam­pen die unwirk­li­che Sze­ne­rie. Durch über­spit­ze Ges­tik, Mimik und Bewe­gun­gen auf der Büh­ne – die weni­ger tän­ze­risch als bei Schlamm­land, dafür unmensch­li­cher und abnor­ma­ler daher­kom­men – wird die enor­me Absur­di­tät des Un-Orts Auto­bahn­rast­stät­te deut­lich. Im wei­te­ren Ver­lauf tre­ten die drei Figu­ren Bea­te, Jay­ne und Rolf auf, wobei durch Figu­ren­split­ting teil­wei­se dupli­zier­te Ver­sio­nen ver­tre­ten sind. Figu­ren­wech­sel wer­den durch Kos­tüm­ac­ces­soires gekenn­zeich­net, die Büh­ne ist arm und eher reprä­sen­ta­tiv gestal­tet: Es ist ein Tre­sen sowie eine Sitz­ecke und das Gebäu­de selbst durch schwar­ze Wän­de ange­deu­tet. Ein quer über die Büh­ne gekleb­ter LED-Strei­fen trennt das Inne­re vom Äuße­ren der Raststätte. 

Trotz ver­gleich­ba­rer gestal­te­ri­scher Ansät­ze zei­gen die bei­den Pro­duk­tio­nen zwei zwar ähn­li­che, aber doch sehr unter­schied­li­che Wege für den gestal­te­ri­schen Umgang mit Text­vor­la­gen und den dar­in gesetz­ten Rol­len: Auf der einen Sei­te Ber­lins Dosen­fleisch mit dem Chor als allwissendem:r Erzähler:in und eine Art gesell­schaft­li­cher Instanz, in der immer wie­der auch Indi­vi­dua­li­tä­ten zu erken­nen sind und aus der sich die ande­ren Figu­ren (somit auch die Rol­len der Spie­len­den) erge­ben. Auf der ande­ren Sei­te das baye­ri­sche Schlamm­land, das hoch for­ma­li­siert und bis ins kleins­te Detail aus­ge­schlif­fen den Chor als abs­trak­te Mas­se nutzt, in der ein Aus­bruch aus der Regel­haf­tig­keit so unmög­lich erscheint wie in der Textvorlage. 

 

Für die bilin­gua­le Pro­duk­ti­on Oli­ver Twist – I want more hat die Klas­se 8a (Schwer­punkt­fach Thea­ter) der Ober­schu­le an der Schaum­bur­ger Stra­ße aus Bre­men einen etwas ande­ren Weg gewählt.

Hier wer­den zunächst die sze­ni­schen Abschnit­te des Romans stark gekürzt, sprach­lich thea­tra­li­siert und moder­ni­siert, aber inhalt­lich nah am Ori­gi­nal mit klas­sisch ver­teil­ten Rol­len gespielt, in eng­li­scher Ori­gi­nal­spra­che: Oli­ver, ein Wai­sen­jun­ge im vik­to­ria­ni­schen Lon­don, flieht aus einem Armen­haus und wird Teil einer Stra­ßen­kin­der­ban­de. Er gerät in die Fän­ge von Fagin, der Kin­der zu Die­ben aus­bil­det, wird dort zu einem der erfolg­reichs­ten klei­nen Lang­fin­der. Schließ­lich wird Oli­ver jedoch ange­schos­sen und kommt in der Fol­ge in einer lie­be­vol­len Fami­lie unter. Soweit die sze­ni­sche Umset­zung des Ori­gi­nals. Hier hört die Arbeit der Bre­mer Grup­pe aber noch nicht auf. Auf einer zwi­schen den sze­ni­schen Umset­zun­gen des Ori­gi­nals posi­tio­nier­ten Ebe­ne ver­lässt die Spiel­grup­pe ihre Rol­len und adres­siert gemein­schaft­lich auf Deutsch ver­schie­de­ne The­men, die im Roman als gesell­schaft­li­che Nor­ma­li­tät kri­tisch zu betrach­ten sind. So wer­den Sze­nen zu Wai­sen- und Heim­kin­dern in unse­rer heu­ti­gen Gesell­schaft, zu Kin­der­ar­beit in Ent­wick­lungs­län­dern, zu Völ­ker­ver­het­zung und zum Ein­zug rechts­po­pu­lis­ti­scher Par­tei­en in den Bre­mer Stadt­se­nat gezeigt. In die­sen posi­tio­nie­ren sich die Jugend­li­chen klar für eine offe­ne und diver­se Gesell­schaft und for­mu­lie­ren Wün­sche für einen kon­flikt­frei­en Umgang miteinander. 

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