Theaterpädagoge (B.A.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Osnabrück / Institut für Theaterpädagogik.
Theaterpädagoge (B.A.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Osnabrück / Institut für Theaterpädagogik.
Die Bühne ist dunkel. Seitlich einfallendes, blaues und rotes Schlaglicht konturiert die zwei Spieler*innen, die sich langsam mit schlingenden Armen, gleich einem pulsierenden Unterwasserlebewesen auf der Jagd, in Richtung Zuschauerraum arbeiten. Der Text wird chorisch gesprochen: „Ihr [die Menschheit] zieht in ein bestimmtes Gebiet und vermehrt euch, bis alle natürlichen Ressourcen erschöpft sind. Und der einzige Weg zu überleben ist die Ausbreitung auf ein anderes Gebiet. Es gibt noch einen Organismus auf diesem Planeten, der genauso verfährt. […] Das Virus! Der Mensch ist eine Krankheit, das Geschwür dieses Planeten.“ Cut – Licht. Eine dritte Spielerin tritt nach vorne und wendet sich an das Publikum: „Ok. Wer hat Angst vor künstlicher Intelligenz?“
Wir sind mittendrin in der Inszenierung „AUTOPIA – Menschen. Maschinen. Probleme?“ am Institut für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück/Lingen. Es geht um die Utopie des autonomen Fahrens – also des Fahrens (besser: des Gefahrenwerdens) in Autos ohne Lenkrad, ohne Pedale und ohne Fahrer*in -, in Robocars, die auf Grundlage künstlicher Intelligenz (kurz KI) navigieren. Es geht darum, in Unfallsituationen abzuwägen und moralische Entscheidungen zu treffen. Es geht um den Einfluss der digitalen Transformation auf unsere Zukunft und um die Frage, wie wir diese Zukunft gestalten wollen.
Die Inszenierung „AUTOPIA – Menschen. Maschinen. Probleme?“ ist Teil des interdisziplinären Forschungsprojektes „DeFrAmE (Demokratie des Fahrens – Sollen Autos moralische Entscheidungen treffen?)“ an der Hochschule Osnabrück. Ziele des Projektteams aus Sozial- und Rechtswissenschaftler*innen und Theaterpädagog*innen waren, die mit dem autonomen Fahren verbundenen Herausforderungen, Nutzungsaspekte und ethischen Implikationen theatral erfahrbar zu machen und die Einstellung des Publikums zum autonomen Fahren zu untersuchen. Im Mittelpunkt des Projektes standen die insgesamt sechs Vorstellungen Anfang 2020 im Burgtheater Lingen/Institut für Theaterpädagogik und im emma-theater Osnabrück sowie die begleitende quantitative Studie im Vorher-/Nachherdesign.
Die „Digitale Transformation“[1] wird zurzeit als der technologische Umbruch des 21. Jahrhunderts gewertet. In ihrer disruptiven Qualität oftmals mit den industriellen Transformationsprozessen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gleichgesetzt, wird sie unsere öffentlichen und privaten, beruflichen und nichtberuflichen Räume durchdringen und damit die ökonomischen und sozialen Verhältnisse grundlegend verändern.[2] So hat sich zum Beispiel im Zuge der Corona-Pandemie auf beeindruckende Weise gezeigt, wie schnell sich gesellschaftliche Teilbereiche ins Digitale überführen lassen können.[3] Als ein Aspekt dieses Wandels steht das autonome Fahren im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit.
Bleibt der vollautonome Verkehr aufs Weitere auch eine Vision, so doch eine, die technisch möglich zu sein scheint und von der Industrie und den Unternehmen eifrig vorangetrieben wird.[4] Gesellschaftliche und ethische Fragen, die mit der digitalen Transformation einhergehen, verdichten sich hier exemplarisch: Rechtfertigt das utilitaristische Kalkül einer „glücklichen“ Gesellschaft (Stichwort: Vision Zero )[5] die zunehmende Überwachung mittels Datafizierung der Lebensbereiche?[6] Wie autonom bleibt der Mensch? Und – sozusagen die Gretchenfrage – dürfen Maschinen moralische Entscheidungen treffen?
In einer unvermeidbaren Unfallsituation hätte ein Robocar, anders als ein menschlicher Fahrer, die Möglichkeit, die zu erwartenden Schäden aufzurechnen und zu verteilen. Ein Szenario unter der Voraussetzung, dass es für eine Vollbremsung in jedem Fall zu spät ist: In Millisekunden könnten die Algorithmen entscheiden, ob das Auto den Kurs hält und damit mehrere Personen, die bspw. auf die Fahrbahn gesprungen sind, zu überfahren droht, oder ob es ausweicht und damit eine unbeteiligte Person am Straßenrand gefährdet. Und was, wenn die Menschen auf der Straße Pensionäre wären und die Person am Straßenrand ein Schulkind? Solche Gedankenexperimente im Stil des berühmten „Trolley-Problems“[7], in denen Menschenleben quantifiziert und qualifiziert werden müssen, will man denn eine Entscheidung treffen, zeigen auf, in welche moralischen Dilemma-Situationen uns das autonome Fahren bringen wird. Sie lassen uns mit der Frage zurück: „Was soll ich tun?“ Oder besser: Was sollen wir tun?
Die Frage zielt auf die Ethik und sie gilt es im Kontext intelligenter Maschinen, wie sie im vollautonomen Straßenverkehr zum Einsatz kommen müssten, zu diskutieren – im Speziellen und hinsichtlich der digitalen Veränderungen der Gesellschaft im Allgemeinen. Hier leistet das Projekt „Deframe“ und die Inszenierung „AUTOPIA“ seinen Beitrag.
„Wer hat Angst vor künstlicher Intelligenz?“ Diese Frage steht im Theaterraum. Hüsteln, leises Lachen, zögerliche Meldungen. Kein Wunder, dass künstliche Intelligenz (KI) mit Ängsten oder zumindest Skepsis behaftet ist, kommen künstlich intelligente Systeme in zeitgenössischen Erzählungen (besonders in Hollywoodfilmen) doch zumeist schlecht weg. So ist die eingangs erwähnte Chorpassage aus dem Stücktext – den Lesenden mag es aufgefallen sein – ein Zitat aus dem Film Matrix.[8] Neben solchen modernen Mythen hängt die Skepsis gegenüber KI sicherlich auch mit der verstehensschwierigen Begrifflichkeit zusammen. Auch wenn es der Begriff nahelegt, ist das, was heute unter „künstlicher Intelligenz“ existiert, nicht mit menschlicher Intelligenz vergleichbar.[9] Zurück zu der Eingangsfrage: Rhetorisch, wie sie gestellt war, verklingt sie und die Spieler*innen setzen zu einer Mini Lecture an, die das Thema KI abseits von dystopischen Vorstellungen einzuordnen sucht. So folgt die Inszenierung einer diskursiven Struktur. Argumente für und wider das autonome Fahren werden präsentiert und gegenübergestellt: Die Verbesserung der Sicherheitslage im Straßenverkehr auf der einen – ein massiver Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Effektivere, klimaschonende und chancengleiche Mobilität[10] hier – das Dilemma „moralischer“ Maschinen dort … . Der Theaterabend versteht sich so, ganz im Sinne seiner griechisch-antiken Wurzeln, als deliberatives Forum. Die Deliberation, die Beratung und Entscheidungsfindung, das Einbeziehen der Öffentlichkeit in die drängenden Angelegenheiten der Polis-Gemeinschaft, war zentraler Bestandteil der antiken Aufführungsformen. Das Projekt „Deframe“ knüpft hier an, indem es sein Thema über das Theater in die Gesellschaft spielt und zur Auseinandersetzung und Stellungnahme einlädt. Einerseits durch das Erhebungssetting der quantitativen Befragung und andererseits über die Begegnung an den Spielorten selbst. So erlebten wir nach den Aufführungen sehr angeregte und teilweise bis weit über den „offiziellen Teil“ hinausgehende Gespräche und Diskussionen unter den Zuschauenden. Konzeptionell haben wir diesem Ansatz Rechnung getragen, indem wir die „Pros“ und „Contras“ zum Thema möglichst ausbalanciert darzustellen suchten. Wir wollten keine Meinung vorgeben, sondern zur Meinungsbildung einladen.
„Kontrolle bei 3. Kontrolle bei 2. Kollision steht bevor. Rufe Ethikprotokoll ab – leite Manöveroption ein.“ Zwei Spieler*innen sprechen chorisch, gelassen, den – nennen wir es – Subtext des autonomen Autos. Während die so verkörperte KI den passenden Ethik-Algorithmus für den drohenden Crash zurechtlegt, sehen wir die dritte Spielerin, die als Passagierin über ein live Kamerabild übergroß an die rückwärtige Wand des Theaterraums projiziert ist. Unbefangen sinniert sie dem letzten Vorschlag, den die auditive Schnittstelle im Fahrzeuginnenraum gemacht hat, nach: „Auf unserer Strecke liegt eine neue vegane Straßenküche. Die Bewertungen sind überdurchschnittlich. Wünschst du, dass ich halte?“ – „Kontrolle bei 1. Auf Kollision vorbereiten. 10, 9, 8, 7, …“- freeze. Die Spieler*innen lösen das Bild auf. Die Szene lässt sich jetzt von außen betrachten. Die am Crash beteiligten Figuren kommen zu Wort. Der „Entscheidungsalgorithmus“ wird befragt – ist es gerechtfertigt, das Leben der Passagierin zu riskieren, gar zu instrumentalisieren, wenn das den geringsten „Gesamtschaden“ verspricht? Das Theatererlebnis lädt auf eine Weise ein, dem Thema zu begegnen, die ein Vortrag oder eine Podiumsdiskussion so nicht leisten könnten. Die ästhetische Bearbeitung des Gegenstands spricht eine andere Form der Wahrnehmung und des Erkennens an, die nicht auf Eindeutigkeit und klare Begrifflichkeiten setzt. Ursula Brandstätter beschreibt in ihrem Buch Grundfragen der Ästhetik, dass ästhetischem Wahrnehmen und Erkennen ein divergentes, also auseinanderstrebendes Denken nachfolgt: „Die Verwiesenheit auf das Besondere und grundsätzlich Offene der sinnlichen Erscheinung hat ein divergentes Denken zur Folge. Divergentes Denken ist an einer Vielzahl von Interpretationen, Problemsichten und Lösungen interessiert, im Unterschied dazu orientiert sich konvergentes Denken an der einen wahren Erkenntnis.“[11] Wir wollten das Publikum nicht mit „wahren Erkenntnissen“ aus den Vorstellungen entlassen, sondern idealerweise eine Fülle an Fragen und eine Lust, sich diesen (gemeinsam) zu widmen, generieren.
Diese Verbindung aus thetraler Verhandlung, Lecture und ästhetischem Schauereignis bezeichnen wir im Kontext der Theoriebildung mit den Begriffen „Diskursstück“ und „Infotainment“. Sie verweisen auf die Verbindung von Wissensvermittlung, produktiver Irritation und Diskursdarstellung mittels einer Aufführung. Dabei gilt es auch dem Anspruch der Unterhaltung zu genügen, indem der Theaterabend gleichzeitig ansprechend und kurzweilig sein soll. Ob dieser Anspruch gelingt, kann nur subjektiv entschieden werden. Gleichwohl konnten wir nach den Aufführungen von „AUTOPIA“ eine große Diskussionslust unter den Zuschauenden beobachten. Dieser vom Stück gesetzte Impuls war auch für die am Projekt beteiligten Sozialwissenschaftler*innen der Hochschule wichtig, die die Einstellung der Zuschauenden zu ethischen Fragen des autonomen Fahrens quantitativ untersuchten. An zwei Messzeitpunkten – vor und nach den Vorstellungen – konnten die Zuschauenden anonym und auf freiwilliger Basis einen Fragebogen ausfüllen. Die zentralen Ergebnisse der Datenerhebung (Management Summary) sind über die Projekthomepage der Hochschule abrufbar.[12] Im Kern lassen sich zwei Aussagen treffen: (1.) Das Vertrauen ins autonome Fahren ist abhängig vom Grad der Informiertheit und (2.) die Theatrale Intervention wurde als wirkungsvolle Form wahrgenommen, um das Interesse am Thema zu steigern und die Meinungsbildung zu fördern.
Kurz nach der letzten Vorstellung von „AUTOPIA“ am 28. Februar 2020 in Osnabrück wurde das öffentliche Leben in Deutschland und Europa im Zuge der Corona-Pandemie heruntergefahren. Der erste Lockdown trat in Kraft und die Bürger*innen sahen sich tiefgreifenden persönlichen und gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt. Gedankenexperimente über die „Verrechenbarkeit“ von Menschenleben und das Abwägen gesellschaftlicher Werte wurden plötzlich mit Blick ins italienische Bergamo gespenstische Realität. Vielleicht erst der Auftakt in ein an Umbrüchen – so ist es anzunehmen – nicht armes Jahrhundert. Das Projekt „Deframe“ hat gezeigt, dass das Theater der Ort sein kann, an dem wir uns ganz konkret mit diesen Umbrüchen und den darin aufgehobenen Ängsten, Vorbehalten und Chancen auseinandersetzen können. Die Verbindung von wissenschaftlichem Fachwissen mit den Vermittlungsqualitäten der Theaterpädagogik an dem Begegnungsort „Theater“ könnte ein wichtiger Baustein in der demokratischen Erschließung und Aushandlung dieser Herausforderungen werden.
[1] Hier verstanden als „der Prozess der Computerisierung und des damit verbundenen Einzugs informationstechnischer Systeme in sämtliche Bereiche menschlichen Handelns“ (Grimm, Petra / Keber, Tobias O. / Zöllner, Oliver (Hg.): Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten. Stuttgart: Reclam Verlag 2019, S. 240.)
[2] Vgl. Nida-Rümelin, Julian / Weidenfeld, Nathalie: Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. München: Piper Verlag 2018, S. 18.
[3] Online: https://blog.iao.fraunhofer.de/die-corona-pandemie-als-digitalisierungsbooster/ (Abruf: 12.01.2020)
[4] Vgl. Bendel, Oliver: 350 Keywords Digitalisierung. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2019, S. 205.
[5] Die verkehrspolitische Vision, die Anzahl der Verkehrstoten mittels autonomer Mobilität gen Null zu bringen. (Online: https://www.springerprofessional.de/fahrzeugsicherheit/automatisiertes-fahren/der-lange-kampf-um-vision-zero/15771248 [Abruf: 12.01.2021])
[6] Im Zuge eines vollautonomen Verkehrs würden erhebliche Mengen personen- und verhaltensbezogener Daten anfallen, erhoben und ausgewertet werden. (Vgl. Kuhnert, Susanne: Mobilität der Zukunft. Automatisiertes und vernetztes Fahren. In: Grimm, Petra [u.a.] (Hg.): Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten. Stuttgart: Reclam Verlag 2019, S. 215.)
[7] Das „Trolley-Problem“ (dt. Straßenbahn-Problem) ist ein moralphilosophisches Gedankenexperiment, das in neuerer Zeit von der britischen Philosophin Philippa Foot wie folgt gefasst wurde: „Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Straßenbahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Unglücklicherweise befindet sich dort eine weitere Person. Darf (durch Umlegen der Weiche) der Tod einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten?“ (Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Trolley-Problem [Abruf: 10.01.2021])
[8] In dem modernen Klassiker The Matrix haben künstlich-intelligente Maschinen die Menschheit versklavt. (Regie: Geschwister Wachowski. USA, 1999.)
[9] Vgl. Grimm, Petra / Hammele, Nadine: Künstliche Intelligenz: Was bedeutet sie für die Autonomie des Menschen? In: Grimm, Petra [u.a.] (Hg.): Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten. Stuttgart: Reclam Verlag 2019, S. 157.
[10] Ein Versprechen des autonomen Fahrens ist die „chancengleiche Mobilität“: Alle Bevölkerungsgruppen, ob junge Menschen, sehr alte Menschen oder Menschen mit Behinderungen, sollen niederschwellig daran partizipieren können. (Vgl. Misselhorn, Catrin: Grundfragen der Maschinenethik. Stuttgart: Reclam Verlag 2018, S. 184.)
[11] Brandstätter, Ursula: Grundfragen der Ästhetik. Bild – Musik – Sprache – Körper. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2008, S. 104.
[12] Online: https://www.hs-osnabrueck.de/deframe/ (Abruf: 10.01.2021)
Fotos: Aileen Rogge; Avatarfoto: Jutta Waldhelm, www.2fotografieren.de
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