Michael Aust & Michael Schwinning
Die durchweg schwer gehandicapten acht Spieler*innen rollern sich mit Spielfreude, Sicherheit und Witz durch einen theatralen Roadtrip mit geklautem VW-Bus und Geisterschloss, um ihrem täglichen Einerlei und ihrer Isolation zu entfliehen. Digital ist bei dieser Spielgruppe zunächst der Live-Stream, dann aber die beeindruckend perfekt beherrschte Sprachsteuerung, die erst möglich macht, dass Texte und Rede hörbar werden. Es entsteht das Abbild eines Lebens unter den Sonderbedingungen der Behinderung, das allgemein menschlichen Bedürfnissen folgt. Der Einblick, den der Zuschauer dadurch bekommt, löst gerade deswegen Erstaunen und höchste Bewunderung aus.
Die Oberstufenschülerinnen aus München sammeln aus ihrer Umwelt, was ihnen zum Thema Feminismus einfällt und stellen sie zu einer kraftvollen Collage im ZOOM-Theater-Format zusammen. Dabei loten sie das digitale Format geschickt und abwechslungsreich aus und zeigen, dass sie es spielerisch, kameratechnisch und vor allem live souverän beherrschen. Politiker*innen-Debatten, Dokumentationen männlicher Gewalt in Bild und Wort und Symbolfiguren feministischer Positionen werden ebenso adaptiert, wie Alltagskonflikte in ihrer Zwiespältigkeit ausgespielt werden. Das Publikum ist nicht nur durch die Drastik in Darstellung und Information gefordert, sondern nimmt über verschiedene Abstimmungsmöglichkeiten und den Chat aktiv an der Aufführung teil. Die etwa 40minütige Performance gipfelt in einer wortlosen, von Musik getragenen Orgie weiblicher Selbstermächtigung in Pantomime, Geste und Pose. Eine in jeder Hinsicht beeindruckende Aufführung.
Es ist wohl einfach so, dass die Freiheit von Peter Pans Insel das Traumland so manchen Teenagers war und bleibt. Wie genial, dass der Zugang dazu bisher unentdeckt gleich hinter der Schule liegt. Schnell wird aber in der digitalen Performance der Berliner Schüler*innen die Traumwelt vom Alltag eingeholt. Es ist wie bei den digitalen Kommunikationsmitteln, die hier in fast überfordernder Fülle miteinander vermischt sind: Am Anfang gewinnt die Faszination, bei näherem Hinsehen zeigen sich Gefahren, Alltäglichkeit und die Tatsache, dass die wahren Sehnsüchte so nicht zu stillen sind. Mit ihrem Beitrag gibt die Gruppe einen wunderbaren Einblick in die Widersprüchlichkeiten jugendlicher Digitalwelten.
Die Produktion nach dem Roman von Evan Placey ist ein gekonnt produzierter und überzeugender Film über die schwer zu ertragenden Folgen, wenn per Internet höchst Privates an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Dabei erweist sich nicht nur die Kameracrew auf der Höhe der Zeit, auch die Theatergruppe kann sich in ihrer schauspielerischen Leistung überzeugend dem Medium anpassen.
Nach dem Motto Tanz dich durch deine Stadt fängt diese filmische Adaption Tanzperformances im öffentlichen Raum ein. Die achtzehn jungen Tänzer*innen lassen sich von Plätzen und Gebäuden in Bremen zu Bewegungsfolgen inspirieren, deren Choreographien von ihren Ortsbindungen und Assoziationen erzählen. Die filmische Erfassung setzt wirkungsvoll Orte, tänzerisches Können und Emotionen in Szene.
Der Titel der Produktion entspricht einer Internetseite mit einer Serie von Clips, durch die sich der Betrachtende durchklicken kann. Sie lässt ihm die Freiheit, sich dieser Adaption der Antigone-Tragödie linear oder nach eigenem Gutdünken zu nähern. Theatrale Kontinuität zerfällt in assoziative, grafische und handlungsbetonte Momente, die den klassischen Stoff ehrlich in eine jugendliche Lebenswelt übertragen. Die gewählten digitalen Formate unterstützen diesen Eindruck.
Ist das Leben ein Spiel? Ist es Schein oder Wirklichkeit? In einer Live-Performance konfrontieren sich die Spieler*innen mit realen Aufgaben, für deren Lösung sie eine halbe Stunde Zeit haben. Per Videokamera können die Zuschauer*innen ihnen dabei zusehen. In die Live-Ereignisse werden Filmsequenzen eingespielt, die sich der Frage nach Sein und Schein auf ihre Weise nähern. Schein bleiben am Ende die trickreichen Filmereignisse, real das Scheitern an den selbst gestellten Aufgaben. Aber war das überhaupt Wirklichkeit, was da zu sehen war? Es kommt darauf an, was wir glauben. In diesem Sinne ein nachdenklicher Beitrag zum Festival.
Tschick goes Social Media. Inspiriert wurde die Gruppe der 10. Klasse aus Ribnitz-Damgarten vom Jugendroman Tschick von Wolfgang Herrndorf. Tschick ist jetzt Tascha und macht sich mit ihrer Freundin Maike auf einen Trip durch ein Roadmovie, das sich in der Ästhetik neben einigen Filmszenen bekannten Social-Media-Formaten wie dem Bloggen oder Instagram-Posts bedient, Shitstorm der Klasse gegenüber den Außenseiter*innen inbegriffen. Die Spieler*innen als Kinder des digitalen Zeitalters beherrschen die Formate souverän und setzen sich und ihre Geschichte entsprechend in Szene.
„Sie konnten zusammen nicht kommen, …“ gemeint sind damit die Theaterschüler*innen eines Oberstufenkurses und der Abschlussklasse eines Bildungszentrums aus Oldenburg, die auf der Basis der bekannten Ballade von den Königskindern theatrale Szenen erarbeiteten. Dass sie dennoch gemeinsam in der filmischen Adaption ihrer Übungen und auf Distanz gehaltenen Begegnungen auftraten, verdanken sie einem geschickten Filmteam und nicht zuletzt der Greenscreen-Technik. Das alles würde aber nicht beeindrucken, wenn nicht in den einzelnen Szenen zu den Atmosphären des Gedichts, dem berührenden Song oder den witzigen Reportagen zum Fall der Königskinder Präsenz und Spielfreude beider Gruppen dominierten.
Das Leben besteht zu einem großen Teil aus Warten. Diese Erkenntnis aus der Pandemie hat ihre Wahrheit in jedem Alltag. Ob auf das Ergebnis der Schwangerschaftstests, die Sprechstunde beim Arzt, die Entlassung oder den Erfolg, in 13 gespielten Solos zeigen die Schüler*innen aus Münster jeweils eine Facette dieser menschlichen Grundbefindlichkeit. Sehr bewusst kostümiert und in ausgesuchten Räumen setzen sie ihre gewählten Figuren überzeugend in Szene. Das Zoom-Format, immer gefüllt mit vier Fenstern, vor denen die Solospieler*in agiert, während in den anderen stumm gespielt wird, repräsentieren nicht zu Unrecht das Thema des unablässigen Wartens.
Theater als Instagram-Account? Klar, wo wird mehr Selbstdarstellung betrieben als in den sogenannten Sozialen Medien. Und so transferiert die Gruppe aus Daun Igor Bauersimas Satire auf den Kunstmarkt Tatoo nicht nur in eine Freundschafts- und Beziehungsgeschichte, sondern in eine veritable Insta-Story, unboxing, Betroffenheitsgestus, Like-Kultur und Selbstdarstellungswahnsinn inbegriffen. Neben den groben Verläufen der Handlung entsteht so eine durchweg gelungene Repräsentanz der Figuren in Bild, Ton, Musik und Tanz.
Ein Musical über die Pandemie? Die Gruppe von macht es möglich, indem sie die Auseinandersetzungen über die Bedeutung der Pandemie und die deshalb notwendigen Maßnahmen auf zwei befreundete Mitschülerinnen projiziert. Natürlich gerät darüber die Freundschaft in schwere Nöte. Ihre ganze Klasse, inklusive des Lehrers, in Präsenz und online, erlebt die Auseinandersetzungen mit, bis zum Höhepunkt die Entzweiung nur noch in emotionalen Liedern ausgetragen werden kann. Happy End garantiert. Ein dem Leben abgeschautes filmisches Erinnerungsstück darüber, wie es mit der Pandemie begann.
Sah aus wie Kacheltheater in ZOOM, war aber keines. Die auf dem Splitscreen in Kacheln verteilten Schüler*innen erzählen in den Momenten, in denen sie aufblenden, von einem Schulvormittag, der sie auf Grund eines Amoklaufs in Angst, Schrecken und Selbsterkenntnis versetzt. Ihre Aussagen, die wie von einer Verhörkamera aufgezeichnet wirken, rekonstruieren den Vorgang, wie ihn der Roman von Lea-Lina Oppermann vorgezeichnet hat. Die hohe Präsenz in Spiel und Sprache sowie die rasante filmische Montage auf atmosphärischen Bildhintergründen ermöglicht dem Zuschauer ein packendes Nacherleben des Unerhörten.
Sah aus wie Kacheltheater in ZOOM, war aber keines. Die auf dem Splitscreen in Kacheln verteilten Schüler*innen erzählen in den Momenten, in denen sie aufblenden, von einem Schulvormittag, der sie auf Grund eines Amoklaufs in Angst, Schrecken und Selbsterkenntnis versetzt. Ihre Aussagen, die wie von einer Verhörkamera aufgezeichnet wirken, rekonstruieren den Vorgang, wie ihn der Roman von Lea-Lina Oppermann vorgezeichnet hat. Die hohe Präsenz in Spiel und Sprache sowie die rasante filmische Montage auf atmosphärischen Bildhintergründen ermöglicht dem Zuschauer ein packendes Nacherleben des Unerhörten.
Das Gastspiel vom Deutsch-Russischen Begegnungszentrum Petersburg reduziert die Handlung des Romans gelungen auf wesentliche Kernszenen. Der Prozess, wie schnell Menschen durch ein paar gemeinsame Zeichen, Handlungen und Rituale zu einer uniformen Masse werden, wird konzentriert durchgespielt. Über Szenenwechsel, die durch Aufzeichnung möglich waren, können Außenperspektiven eingefangen werden. Im pantomimischen Spiel wird deutlich, wie Anpassung gelingt oder sich Widerstand regt. Ein Stück Schultheater, dessen bedrückende Wirkung selbst im Videomittschnitt noch zu fassen und dessen Brisanz auf der Folie der russischen Verhältnisse sicher zu erahnen ist.
Shakespeares Stück in fünfzig Minuten als Film mit feiner Maske, phantasievollen Kostümen und in absolut beeindruckender natürlicher Umgebung, das war der Beitrag aus Stuttgart. Das spielerische Können der Schüler*innen stand in nichts hinter der professionell erscheinenden Aufnahmetechnik sowie der geschickten Montage der Szenen und Sequenzen zurück. Der jugendlich faszinierte Zugang auf die nächtlich verwirrenden Traumspiele stand erkennbar im Mittelpunkt der überzeugenden filmischen Produktion.
Die Produktion nach Faust I ist ein Live-Stream und setzt mit den auf Sitzkästen platzierten Spieler*innen in Statements Themen um wie Digitalität, Analoges, Gegenwart, Vergangenheit, Theater, digitale Welten. Und so eröffnet Mephistos Wette mit einem Gott im Gewittervideo das Spiel. Die durchaus irdische Handlung zwischen Mephisto, Faust und Gretchen wird aus erhöhter Position von digitalen Spiritus Rectoren gleichsam göttlich-digital-medial geführt. So trifft Faust in der Disco auf Mephisto und erarbeitet sich unter dessen Anleitung sein Leben und seine Beziehung vor allem über Social Media. Im Mix aus Alltagssprache und Goethe-Versen zeigen die Schüler*innen spielerisches Können, ein sicheres Spiel in der choreographischen Komposition und großes Sprachbewusstsein in einer selbst noch im Stream präsent wirkenden Aufführung.
Die Mittelstufengruppe aus Eschborn macht aus dem Lockdown eine Tugend und montiert ein Video aus vielen kurzen Clips im Selbstdarstellungsmodus. Sie reflektiert mit Witz und Blick für die humoristischen Momente nicht nur schulischen Online-Alltag, sondern gibt in verschiedenen Kapiteln Einblick in jugendliche Fragen an das digitale Universum. Was kann das Darknet? Ist es gut, sich nach den Idealen des Netzes zu richten? Hast du eine Lieblingsapp? Vom Selbstposen bis zum Verfremden des eigenen Bildes beherrschen die Spieler*innen die Palette digitaler Kommunikationsmöglichkeiten und liefern so ein unterhaltsames und fast zu flottes Potpourri zu ihrem Thema.
Theater für Nerds und insofern ein für die Festivalbesucher durchaus exklusives Ereignis war die Produktion der Schüler*innen aus Jena. Sie lud den Zuschauenden ein, wenn er sich durch die langen Vorspanntexte und Anweisungen gekämpft hatte, selbst als Avatar in digitalen Salon- und Theater-Räumen aktiv zu werden, um sich etwas vorspielen zu lassen oder selbst als Avatar-Rolle unterwegs zu sein und nach den vorgegebenen Möglichkeiten zu chatten oder zu handeln.
Lehrer am Egbert-Gymnasium der Benediktiner in Münsterschwarzach. Seit Beginn erzieherischer und unterrichtlicher Tätigkeit Theaterlehrer in verschiedensten Inszenierungsformen und Gruppierungen. Ausgebildet an der Akademie in Dillingen und an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seitdem als Referent und Autor in verschiedenen Zusammenhängen tätig. Vorsitzender des Verbands Theater am Gymnasium in Bayern und Mitglied des erweiterten Vorstands der Landesarbeitsgemeinschaft Theater und Film in Bayern, zuständig für die Organisation der Ausbildung von Junior Assistenten Theater.
Arbeitet seit den achtziger Jahren als Theaterlehrer an einem Hamburger Gymnasium, war von 2009 bis 2014 im Vorstand des Hamburger FvTS tätig und Mitorganisator des Schultheater der Länder 2009 in Hamburg (Site Specific) sowie des Hamburger Festivals „theatermachtschule“, tms. Er hat zahlreiche Texte für die Publikationen Spiel&Theater, Schultheater und für den Fokus Schultheater verfasst. Theatergruppen unter seiner Leitung nehmen regelmäßig an lokalen Wettbewerben teil.