SIMONE BOLES
Dramaturgie ist eine Orientierungshilfe, ein Türöffner und Impulsgeber. Theatrale Gestaltung findet statt …
… zu einem bestimmten Thema
… mit bestimmten Leuten
… zu einer bestimmten Zeit
… in einem bestimmten Raum
… aus bestimmten Gründen.
Als Reibungsfläche für die eigene theatrale Arbeit kann Folgendes bedacht werden: Jedes Theater-Projekt benötigt eine dramaturgische Kernfrage. Sie lautet auf der zu konkretisierenden Metaebene in Kürze:
Warum wollen wir heute hier was auf diese Art und Weise spielen, darstellen, zeigen, erforschen?
Konkreter bedeutet das:
WARUM (Konkrete Gründe? Bezug zum Thema? Bezug zur Form? Intention?) wollen
WIR (Wer genau? Wer bin ich? Wer sind wir? In Abgrenzung zu wem?)
HEUTE (Wann? An welchem
Tag, zu welcher Stunde, zu welcher Zeit, im Angesicht welcher
gesellschaftlich-aktueller Problemkreise spielen wir?)
HIER (Wo? An welchem Ort,
in welchem Raum, in welchem Gebäude, in welcher Stadt, in welchem Land
spielen wir? Welche Auswirkungen haben Raum und Ort?)
WAS (Welches Thema, welches Problem berührt uns? Welches freie oder textgebundene Material wollen wir verwenden?)
AUF DIESE ART UND WEISE
(Für welche Theater-Formen entscheiden wir uns? Welche ästhetischen
Gestaltungsprinzipien und Kompositionsprinzipien wählen wir?) spielen, darstellen, zeigen, erforschen?
Diese Kernelemente sind eng miteinander verknüpft und überschneiden sich teilweise. Die Reihenfolge der Kernelemente ist variabel und impliziert keine hierarchische Wertung oder notwendige Chronologie. So kann es im Laufe des Inszenierungsprozesses sinnvoll sein, einen Aspekt der Kernfrage in den Fokus zu stellen (z.B.: Was wollen wir …? oder Auf welche Art und Weise wollen wir …?).
Um sich das eigene dramaturgische Denken, Handeln und Wirken bewusst zu machen, ist es wichtig, über praxeologische Prinzipien des Verständnisses der Dramaturgie nachzudenken. Erst die Reflexion ermöglicht einen Synergieeffekt für das eigene ästhetisch-künstlerische Gestalten. Patentrezepte, Methodenkästen und theatrale Trainingsmodule stehen dieser Intention konträr entgegen, transparent gemachte Prinzipien laden zur Auseinandersetzung ein. Der reflexive, kritische Transfer in die eigene künstlerisch-pädagogische Praxis muss vom User, von der Userin selbst erfolgen.
Durchgängigkeit und A‑Chronologie sind notwendig
Dramaturgisches Schaffen sollte von Anfang an bis zum Schluss ein Teil des Inszenierungsprozesses sein und nicht nur am Ende, kurz vor der Aufführung (in irgendeiner Form), beachtet werden. Eine Chronologie i.S. von erst Material entwickeln und dann nach einer Dramaturgie suchen, widerspricht unserem Verständnis von der Arbeit eines Coaches bzw. einer Spielleiterin, eines Spielleiters.
Im Fokus steht die dramaturgische Kernfrage
Die Haltung zur Dramaturgie sollte neben ihrer durchgängigen Funktion im Inszenierungsprozess stets die dramaturgische Kernfrage implizieren: Dieser dramaturgische Weg passt aus diesen Gründen zu dieser Spielgruppe mit dieser Spielleiterin, dieses Spielleiters zu dieser Zeit an diesem Ort.
Reflexion der Spielleitung ist stets wünschenswert
Die Haltung des Spielleiters, der Spielleiterin muss stets eine reflektierende sein. So impliziert die Tätigkeit der Dramaturgie ebenfalls ästhetische Wertungskriterien (z.B. bei der Auswahl eines Kompositionsprinzips). Werden die Spieler*innen partizipativ eingebunden, d.h. können sie gleichberechtigt am Szenen-Feedback teilhaben, führen reflektierte Werturteile zur Förderung der ästhetischen Urteilskraft. Zudem ist es notwendig, dass der dramaturgischen Arbeit die bewusste Setzung der Darstellungsintention vorausgeht. Die Spielleitung sollte, u.U. unter partizipativer Teilhabe der Spieler*innen, bei der dramaturgisch-inszenatorischen Umsetzung darüber reflektieren, welche Darstellungsintention vorrangig verfolgt wird:
Eine normativ stringente Anleitungsmethode ist nicht wünschenswert
Ein dramaturgischer Leitfaden kann kein „Handwerkskoffer“ für den Theaterunterricht, die Theaterprobe sein. Folglich darf er nicht starr befolgt werden, da so die Einmaligkeit des künstlerischen Prozesses ignoriert wird und es zu keinen Resonanzerfahrungen kommen kann. Das Unbeschreibbare kann nicht beschreibbar gemacht werden; denn nimmt man die dramaturgische Kernfrage ernst, muss jede Dramaturgie – selbst mit demselben Ensemble, derselben Spielgruppe – zu einem anderen Zeitpunkt anders verlaufen. Auch ein anderer Ort würde zu einem gänzlich anderen Ergebnis gelangen.
Eine starre Poetik oder eine Formvorgabe missachten den ästhetisch-künstlerischen, sozialen und politischen einmaligen Moment einer Inszenierung und ihres Inszenierungsprozesses.
Somit soll dieser Leitfaden nur Impulse setzen, Tipps geben, Ideen liefern, Bewährtes aufzeigen oder aber als Reibungsfläche dienen.
Form und Inhalt lösen sich in der dramaturgischen Kernfrage auf
Eine Begriffsanalyse zeigt (Link zum „Raum der Forschung”), dass die alte Frage nach der Chronologie von Form und Inhalt nur als dialektische Bewegung beantwortet werden kann: Die Antithese (Inhalt oder Form) hebt die These in sich auf (i.S.v. aufnehmen), und so entsteht etwas Neues, Drittes = die Synthese. Synthese kann hier die Dramaturgie sein. Wobei die dramaturgische Arbeit nicht nur das Was (den Inhalt) und das Wie (die Form), sondern auch das Wer, Wo, Wann und das Warum stets in seiner Gleichzeitigkeit berücksichtigen muss. Gelingt die Dramaturgie, entstehen auf der Probe Resonanzerfahrungen i.S.v. Helmut Rosas metaphysischer Zeitphilosophie. Das Subjekt (der*die Schauspieler*in und der*die Zuschauer*in) erfährt eine unmittelbare Resonanz zur Welt.
Offenheit für den Umsturz zulassen und krisenhafte Momente konstruktiv nutzen
Trotz aller Fokussierung auf den einen roten dramaturgischen Faden sollte die Möglichkeit von nicht antizipierbaren, krisenhaften Momenten intendiert werden. Grenzerfahrungen der Projektteilnehmenden können konstruktiv gelöst werden. Dabei ist es auch möglich, im Laufe des Inszenierungsprozesses den Faden, die Kernfrage komplett in Frage zu stellen. (Vielleicht passte er doch nicht so richtig zur Gruppe, oder aber ein neuer Faden drängte sich geradezu auf.)