Christiane Mangold und Tilmann Ziemke
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.
Bertolt Brecht, An die Nachgeborenen, 1934 – 1938
Liebe Leserin, lieber Leser,
auch Gespräche über Theater und Digitalität erscheinen uns in Zeiten eines nahen brutalen Krieges als merkwürdig deplatziert. Dennoch denken wir hier im neuen FOKUS SCHULTHEATER über das letztjährige SDL-Thema nach, wollen informieren, analysieren und zum Gespräch animieren.
Das SDL 2021 in und aus Ulm stand unter dem Stern der Corona-Pandemie. Als 2018 das Thema für Ulm festgelegt wurde, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass Theaterunterricht über Zoom-Meetings in virtuellen Räumen stattfinden könnte, dass Aufführungen nur noch im digitalen Raum möglich sein könnten.
Vor Augen hatten wir ursprünglich, auf die zunehmende Digitalisierung in allen Bereichen der Gesellschaft einzugehen. Junge Menschen wachsen als „Digital Natives“ in einer Welt auf, die ihre Identitätsbildung und Körperlichkeit beeinflusst, damit die Wahrnehmung von sich selbst und der Welt grundlegend verändert, ihnen gleichzeitig aber auch die Möglichkeit bietet, virtuelle Welten aktiv zu gestalten. Wir wollten Kinder und Jugendliche anregen, ihre Erfahrungen, Gedanken und Visionen einzubringen, sich mit den Auswirkungen von Digitalität inhaltlich auseinanderzusetzen, sie künstlerisch zu reflektieren und Möglichkeiten einer formal-ästhetischen Umsetzung der Digitalität zu erforschen.
Anfang 2021 jedoch wurde pandemiebedingt beschlossen, das Festival ausschließlich in digitalen Formaten online stattfinden zu lassen. So wurde die ursprüngliche Absicht, „mixed realities“ auf der Bühne zu präsentieren, durch die Wirklichkeit „radikalisiert“. Bewerben durften sich jetzt alle Gruppen, die bereit waren, mit digitalen Präsentationsformen Neuland zu betreten. Tatsächlich lieferten dann die Beiträge aus den verschiedenen Bundesländern einen interessanten Überblick über Möglichkeiten, wie Theatrales im Schultheater in digitalen Formen präsentiert werden kann. Fast ausschließlich alle Gruppen hatten nicht dezidiert zum Thema „Digitalität“ gearbeitet, sodass es folglich auch kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Digitalität und ihren Auswirkungen gab.
Die digitale Durchführung des Festivals ermöglichte es, mehr Gruppen als bisher auszuwählen: Insgesamt gab es 19 Produktionen zu sehen, die eine große Vielfalt an kreativen Varianten digitaler Formate aufzeigten.
So geht es in diesem FOKUS vor allem um Fragen der Form und der Methodik.
Im ersten Teil – der Fachdebatte – spricht Marcus Lobbes von der Akademie für Theater und Digitalität über Methoden zur Kommunikation mit dem Publikum im digitalen oder virtuellem Raum, Uta Plate berichtet von ihrem Projekt „Neuland“, in dem es um die Frage geht, wie man es in der Pandemie schaffen kann, durch Mittel des Theaters und der Digitalität eine andere Form der Nähe zu kreieren.
Die essayistischen Beiträge im zweiten Teil reflektieren kritisch, wie sich die Rolle der Spielenden und der Zuschauenden in und bei digitalen Produktionen ändert. So fragt André Studt, was der Online-Konsum von Festivalbeiträgen mit dem einsam vor dem Rechner sitzenden Zuschauenden macht, Tania Meyer stellt sich die Frage, was an den vielen digitalen Produktionen noch Theater ist und ob die Unterscheidung zwischen Theater und Nicht-Theater überhaupt noch Sinn macht. Ina Driemel geht es um die Fremd- und Selbstbilder in den gezeigten Produktionen der „Digital Natives“.
In den Berichten und Analysen klären Michael Aust und Michael Schwinning zunächst die Begrifflichkeit Theater und Digitalität; Marco Graša berichtet von den Ergebnissen seiner Theatergruppe, die das Festival forschend begleitet hat. M. Aust und M. Schwinning teilen die Festivalproduktionen in drei große Gruppen: Web-Produktionen, Performances per Zoom-Plattform, filmische Dokumentationen und Spielfilme. Aufgrund dieser Unterscheidungen werden dann die einzelnen Produktionen kritisch analysiert. Am Anfang des Kapitel steht die Rubrik „Auf einen Blick“, die alle auf dem Festival gezeigten Produktionen kurz vorstellt.
Zwei Workshop- und fünf Projektberichte zeigen im vierten Teil, dem eigentlichen Herzstück des Fokus, Beispiele aus der Praxis konkreter Schultheaterarbeit. Hier können sich Theaterlehrer*innen vielfältige Anregungen für die eigene Arbeit mit ihren Schüler*innen holen. Diese Anregungen werden besonders anschaulich durch zahlreiche Videosequenzen, Materialien und Links. Eine Besonderheit seit diesem Festival ist die Möglichkeit, durch einen geringen Obulus auf einer Video-on-Demand-Plattform über sämtliche Produktionen des Festivals als Videoaufzeichnungen zu verfügen: https://pretix.eu/bvts/sdl21/.
Zum Schluss möchten wir – was unüblich für den Fokus ist, weil es sich um ein Fachmagazin handelt, nicht um eine Dokumentation – besonders drei Ermöglichern dieses außergewöhnlichen Festivals danken: Jürgen Mack vom LVTS Baden-Württemberg mit seinen Helfern vor Ort, Ulrike Mönch-Heinz vom BVTS sowie der Stadt Ulm. Ohne deren unermüdliche Arbeit und Optimismus wäre nach dem SDL 2020 auch das SDL 2021 ausgefallen. Sie haben neue Wege ermöglicht. Wir wünschen uns, dass die vielen Erfahrungen und Endeckungen in den digitalen Räumen nicht versanden, sondern dass wir etwas aus diesem Feld der theatralen Möglichkeiten für die Zukunft retten können. Die Verfasser*innen dieser Zeilen sind Liebhaber analogen Theaters, aber warum nicht Analoges mit Digitalem verknüpfen?
Lehrerin für Deutsch, Kunst, Darstellendes Spiel, OStD’n a.D, Leiterin der Baltic- Grund- und Gemeinschaftsschule mit Oberstufe, Lübeck; Gründungsmitglied des BVTS (BAG); Assoz. Vorstandsmitglied im BVTS (Fachtagungen und Redaktion FOKUS); Autorin und Herausgeberin diverser Fachbücher für Darstellendes Spiel.
Lehrer im Ruhestand für Deutsch, Russisch und Darstellendes Spiel am Gymnasium Kronwerk in Rendsburg; war als langjähriger Landesfachberater für Darstellendes Spiel am Lehrerbildungsinstitut IQSH vor allem zuständig für die Qualifizierung von Lehrkräften für das Fach Darstellendes Spiel in Schleswig-Holstein; Mitautor zahlreicher Schulbücher zum Darstellenden Spiel; gehörte von 2015 – 2021 dem Vorstand des Bundesverbandes Theater in Schulen an.