André Studt
Man ist mit sich allein.
Mit den anderen zusammen sind
es die meisten auch ohne sich.
Aus beidem muss man heraus.
Ernst Bloch: Spuren
Wäre das SDL ein GAME, hätte ich es mit dem Endgegner1Ein Endgegner ist in Computerspielen ein besonders starker und widerstandsfähiger Gegner, den der Spieler am Ende eines Spielabschnitts besiegen muss. (s. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Endgegner Ich habe den Titel aus Gründen der Aufmerksamkeitsökonomie gewählt – vgl. zu diesem Thema, das unsere gegenwärtige Kommunikationsumgebung eindrucksvoll schildert, die sehr lesenswerte Studie von Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. München, Hanser, 1998. Einsamkeit zu tun gehabt – und ich wäre an ihm gescheitert. Aber das SDL 2021 war kein GAME, sondern Wirklichkeit … So besteht Hoffnung, dass mein nachfolgender Text als Angebot zum Dialog verstanden wird; indem ich die Varianten meines einsamen Scheiterns reflektiere, hoffe ich, wenigstens damit irgendetwas zu gewinnen.
Natürlich sind meine nachfolgend ausbuchstabierten Gedanken unter dem Eindruck der immer noch grassierenden Pandemie entstanden, die ebenfalls kein Spiel ist, weil sie einen Anspruch auf eine Wirklichkeit erhebt, die uns u.a. einsam machen kann: Die Welt um uns schien manchmal stiller, wir saßen allein und kontaktärmer als ohnehin, zu Hause doppelt eingeloggt vor dem Rechner, starrten auf dessen Bildschirm, irgendwie solidarisch mit irgendwem. Wir schauen, wenn denn alle Kameras an und die Richtlinien des Datenschutzes vergessen sind, den abwesend Anderen dabei zu, wie sie ähnliches tun, wie man selbst. Das fühlt sich an. Ob das gut ist, weiß ich noch nicht … (ich habe eine Tendenz zum Schlechten).
Nun soll dieser Text jedoch nicht in ein Lamento abgleiten, dass sich in einer längst schon geäußerten Unlust zeigt (vgl. Studt 2021), mich mit dem pandemisch forcierten Digitalisierungsschub und dessen Auswirkungen auf das, was dabei als Theater bezeichnet wird, auseinanderzusetzen. Nein, ich gehe vom Faktischen des Geschehenen aus: Mein Beitrag soll punktuell meine im Verlauf dieses besonderen Festivals gewonnenen Eindrücke aufzeigen, wo für mich Einsamkeit über den gesamten Verlauf der von mir besuchten / aufgesuchten / erlebten2Ich könnte mich in den Differenzfalten der Semantik dieser Wörter verlieren, um eine treffende Beschreibung für die im Grunde parasoziale Interaktion mit dem Festivalgeschehen zu finden: „Konstitutiv für eine solche Art des interaktionistischen Umgangs mit medialen Bezugspersonen ist, dass die hier entwickelte Beziehung weitgehend im Imaginären verbleibt und keine wechselseitige Auseinandersetzung (Reziprozität) zwischen Rezipient und Medienakteur erlaubt. Eine quasi-reale Beziehung stellt diese Konstellation aber dar, sofern sie auf einer impliziten Übereinstimmung zwischen der Medienperson und dem Rezipienten beruht, so zu tun, als sei die Beziehung nicht medial vermittelt, sondern tatsächlich gelebt.“ (Wegener in Sander et al. 2008: 294) Veranstaltung hinweg die prägende Erfahrung war. Und das nicht als subjektiv kulturpessimistische Befindlichkeit oder Anzeichen einer mentalen Versehrung durch einen scheinbar ewig andauernden Ausnahmezustand, sondern dezidiert als ästhetischer Modus: Ich habe Einsamkeit in vielerlei Varianten, an verschiedenen Orten und in wechselnden Konstellationen empfunden (Rezeptionsästhetik) oder als solche wahrgenommen bzw. partiell Anderen als ausgestrahlte Eigenschaft zugeschrieben (Produktionsästhetik). Sie war, wie ich aufzeigen möchte, prägend für meine Wahrnehmungseffekte, legte sich (oft deformierend) als Folie über die Anliegen der gezeigten Produktionen und ließ mich immer wieder an der gewählten Distributionsform des SDL zweifeln. Aber der Reihe nach …
Nachdem das Festival 2020 ersatzlos ausgefallen war, entschlossen sich die Veranstalter*innen der Version 2021 aus aktuell nachvollziehbaren Gründen3Wie wird man sich dereinst an die COVID 19-Pandemie erinnern? Vgl. dazu https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/308316/geschichte-im-ausnahmezustand/ – Dort heißt es an einer Stelle: „Manches spricht dafür, dass 2020 einst das Datum des endgültigen Übergangs vom analogen in das digitale Zeitalter markieren wird, das reale durch virtuelle Vergesellschaftung ersetzt, das Meeting durch die Videokonferenz, die Protestdemonstration durch den Shitstorm, die sinnliche Erfahrung durch das semiotische Zeichen.“ Letzteres ist für unseren Gegenstand „Theater“ von Interesse, auch wenn ein Theater an Schulen immer schon das Semiotische privilegiert hat, so dass der hier skizzierte Paradigmenwechsel nicht so drastisch ausfallen dürfte … für eine Durchführung als Digitalformat mit hybriden Anteilen. Konkret bedeutete dies für mich als Essayist die Taktung eines Ereignisses, das einen normalerweise für knapp eine Woche vollumfänglich in Beschlag (und aus den bekannten Lebensroutinen) nimmt, in einigermaßen konsumable Happen, die als parasozialer Content (d.h. als Medieninhalt) wirksam wurden. Dieser wurde in ein Weiterlaufen eigener (Arbeits-/Alltags-/Lebens-) Geschäfte fernab des Veranstaltungsortes eingebettet, was für Content-unabhängige Interferenzen sorgte. Es wurde vorproduziertes Material einzelner Gruppen in eine eigens für das Festival generierten Web-Space eingestellt, man konnte einzelne Produktionen als Live-Stream sehen, bekam Links in andere virtuelle Umgebungen (die manchmal aber nicht unmittelbar available / accessable waren) sowie solche für Padlets, Chats und (Fach)Foren.
Ein hoch engagiertes Moderator*innen-Team von Schüler*innen aus der Gastgeberstadt führte uns durch die Tage, manövrierte konkret Abwesende in Aktivitäten, die online Verbindung und Verbindlichkeit in Chats, Pads und Rooms schaffen sollten, kündigte, immer wieder aufs Neue begeistert, den nächsten Programmpunkt an, der, gerahmt durch einen ambivalenten Trailer, der bei mir von Tag zu Tag immer mehr negative Affekte triggerte, per Countdown zur nächsten „Aufführung“ führte. Danach zeigte man sich stets begeistert, voller Lob und wurde jedoch ab und an jäh von einem Film unterbrochen, der die einfach nicht enden wollenden Sight-Seeing-Highlights in, um und um Ulm herum im Sinne eines Stadtmarketings bebilderte.
Die in dieser Form und mit viel Aufwand täglich praktizierte Medienroutine könnte man (wohlwollend) als Differenzmarker verstehen: In nahezu jeder Moderation wurden Formen nachvollzogen, die dem Bereich der TV-Unterhaltung bzw. (und noch wahrscheinlicher) von Vorbildern aus den sozialen Medien entlehnt waren; die Rollen, die es hier darzustellen galt, hatten ihr Script als Gebrauchstext. Immer wieder wurde ich derart an die vorhandene und einigermaßen banale Abständigkeit von Allem, was sich mit (m)einem Theatervokabular produktiv bezeichnen ließe, erinnert: Auch wenn stets Aufführungen angekündigt wurden, waren es natürlich keine! Das hat man, bei allem Einsatz zur Überwindung des parasozialen Grabens zwischen An-und Abwesenden, schon gemerkt, oder? Und das gilt auch, und (für mich) in besonderer Weise, für den Festivalauftakt, der vor Ort in einem Studio gespielt und live gestreamt wurde.
Der Einstieg in das SDL bestand aus der Produktion Die Roller im Roggen der Geschwister Scholl Schule Weingarten aus Baden-Württemberg. Hier wurde mein Thema gesetzt, denn nirgendwo sonst habe ich die Anwesenheit von Anderen als vital, energetisch, somatisch und kognitiv reagierendes Publikum so schmerzlich vermisst. Umso gnadenloser erwies sich meine persönliche Fallhöhe4Vgl. meinen Essay zum SDL 2017: Theater und Film. Drehbuch einiger Gedanken (ein Versuch). In: BVTS (Hg.): Fokus Schultheater 17. Theater.Film. Seelze, Friedrich 2018. S. 34–39. Dort heißt es in der FN 4 bereits ahnungsvoll: „Jedoch lassen sich Restbestände dieser Diagnose einer sozial erregten Phantasie in der euphorischen Reaktion des Publikums des SDL auf die Produktion Rollin’ love aus Baden-Württemberg ausmachen: Zu sehen waren u.a. Jugendliche mit Handicap, die sich nur per gestützter Kommunikation artikulieren konnten. Dabei wurde eine Sichtbarkeit von Menschen hergestellt, die sich allein dadurch verbesonderten, dass es sie unmittelbar zu sehen gab. Der Effekt einer – wenigstens kurzfristigen – Verbindung zwischen „Normalgesellschaft“ und den Teilnehmern dieser Gruppe gelang im sozialen Raum der Bühne; ein Filmdossier oder eine Dokumentation über junge Menschen mit Handicap und ihre sozialen Wünsche hätte bei Weitem nicht eine solche Verbindlichkeit herstellen können.“ (Hervorhebung AS), war doch die auf den SDL 2017 in Potsdam gezeigte Produktion dieser inklusiven Theater-Gruppe, die aus Menschen mit Handicaps besteht, eine implizite Referenz dessen, was nun als Live-Stream ansichtig wurde. Während es seinerzeit gelungen war, die körperlich gegebene und deutlich wahrnehmbare Differenz von per Speaker kommunizierenden Akteur*innen der Szene und den als normalisiert verstandenen Zuschauer*innen während des Vollzugs der Aufführung punktuell außer Kraft zu setzen, verschärften die Bilder des Streams diesen Unterschied gravierend und ließen das Gezeigte (für mich) in die Nähe einer „freak show“ rücken (vgl. Schipper 2012). Um aus dieser ziemlich gefahrvollen Sicht der Rezeption herauszufinden, hätte es für mich einer unmittelbaren Verständigung im sozialen Raum des Theaters, d.h. einer Aufführung bedurft. Leider wurden die unter weitgehendem Ausschluss einer Vergemeinschaftung mit einem konkret zuschauenden Gegenüber realisierten Spielhandlungen im Studio, jedenfalls in meiner Wahrnehmung, zum Gegenteil dessen, was die Gruppe selbst programmatisch ins Programmheft geschrieben hat: „Noch sind nicht alle Lösungen gefunden und deswegen spielen wir auch Theater. Der Ort, an dem man sich ausmalen kann, was wäre wenn …“
Mir wäre es an dieser Stelle äußerst wichtig, zwingend zwischen der Produktionsästhetik (also dem Modus der Hervorbringung von Etwas, z.B. als Aufführung) und der Rezeptionsästhetik (also dem Modus der Wahrnehmung dieses Etwas, in diesem Fall als Fluss von Bildern, die etwas völlig anderes erzeugen als das, was beabsichtigt war) zu unterscheiden. Bilder suggerieren viel schneller als Aufführungen so etwas wie Gewissheit; ihnen kommt bei der Erzeugung von Evidenz eine entscheidende Funktion zu, die Edmund Husserl als erfüllte Intentionalität, also eine auf Sinnstiftung gerichteten Anschauung definiert, weil sich das Bild „auf die Sache durch Ähnlichkeit“ bezieht (vgl. Husserl 2009: 54). Das Theater operiert zwar auch mit Ähnlichkeiten, dennoch entstehen im Vollzug der Aufführung nicht nur objektivierende Verweise auf „die Sache“, sondern es werden subjektive Kongruenzen mit dem szenisch Vorgestellten ermöglicht; nicht der Abstand durch visuelle Abstraktion, sondern eine Anähnlichung an das Abständige v.a. durch Empathie ist der Grund, warum ‚wir (…) Theater spielen‘… (ja, klar! Aber auch wenn ihr im Studio gespielt habt, ist das Gespielte bedauerlicherweise nicht als Theater, ja nicht mal als Theater ähnlich erfahrbar gewesen!) Das persönlichen Erschrecken über die Wirkung der Bilder dieser das SDL eröffnenden Produktion, zeigt sich vielleicht auch eine mangelnde Bewältigung dessen, was als Uncanny Valley5Es würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, den Transfer der Erkenntnisse zum ‚Uncanny Valley‘ auf die Darstellung und Wahrnehmung von gehandicapten Menschen zu rekonstruieren. Dazu sei stellvertretend auf folgende Studie verwiesen: Jennifer Robertson: Robo sapiens japanicus: Robots, Gender, Family and the Japanese Nation. California Scholarship Online 2018, insb. Kapitel 6 ‚Cyborg-Ableism beyond the Uncanny (Valley)’. bezeichnet wird: Wenn, wie bei mir am heimischen Laptop geschehen, der intendierte Bildfluss des Streams ob technischer Beeinträchtigungen punktuell einfriert, sodass sich die szenisch wirksamen Akteur*innen mit Handicap zu unheimlich wirkenden Posen und Tableaus von Cyborgs wandelten, ist es von Nachteil, dabei einsam zu sein.
Dieser (für mich) ziemlich frustrierende Einstieg in das Festival verschaffte mir zudem den Effekt einer self-fulfilling prophecy. Ich musste mich nun meines Eindrucks erwehren, dem im Vorfeld des SDL verspürten Unbehagen zum Transfer eines schulisch produzierten Theaters (und dessen ästhetisch-pädagogischen Potentiale, die ich in besonderer bzw. herausragender Weise als soziale Wirksamkeit bezeichnen würde) in die Kontexte einer rein funktionalistisch verstandenen (und „nur“ parasozial wirksamen) Digitalisierung nicht nachzugeben, um für weitere, noch zu machende Erfahrungen die nötige Offenheit nicht zu verlieren…
Das Leben –, dieser Kitsch der Materie.
E.M. Cioran: Der Zirkus der Einsamkeit
Neben meiner Verwahrlosung im Nirgendwo des Homeoffices sah ich (vielleicht in irriger Auslegung der angesprochenen Offenheit) in vielen Produktionen einsame Menschen, denen eine bestimmte Melancholie des Abstandnehmens zu eigen war. Ich zolle all jenen meinen Respekt für ihren ungebrochenen Willen zum szenischen Handeln als fortwährende Geste einer Selbstermächtigung in Zeiten eines pandemischen Alptraums, was auch als starkes Argument für eben diese Form der Durchführung des SDL angeführt werden kann …
(tiefer Seufzer)
Vor allem die Begegnungen / Intersections aus Niedersachsen setzten in dieser Angelegenheit starke Markierungen. Ich war be- und gerührt von den Bildern, die junge Menschen bei ihren Bemühungen um einen zwischenmenschlichen Kontakt zeigten – und sich schließlich doch nur, bei musikalisch-kitschiger Untermalung, mit kahlen Wänden und Weichbodenmatten zufriedengeben mussten. Ich begab mich in den Stadtraum von Bremen (Schön), der mir choreographisch erschlossen wurde und Menschen zeigte, denen der Tanz eine Option auf eine Vergemeinschaftung bot. Ich versenkte mich in die Website von Society killed Antigone (Hamburg), freute mich über die Namen der Insta-Kanäle der Protagonistinnen (Is-me-nee und Anti-is-gone 22) und machte alle Fenster im Browser gleichzeitig auf, um mir aus der Rolle des Users meine eigene Show zu schaffen und dabei die usability des Angebots zu prüfen. Pünktlich fand ich mich in die Fachforen ein, die über den Verlauf der Woche immer deutlicher zu einem virtuellen Nicht-Ort wurden, ein „kompliziertes Gewirr der verkabelten und drahtlosen Netze, die den extraterrestrischen Raum für eine seltsame Art der Kommunikation einsetzen, welches das Individuum vielfach nur mit einem anderen Bild seiner selbst in Kontakt bringt“ (Augé 1994: 94). Auch hier, beim Warten auf eventuell doch noch Teilnehmende, am Austausch interessierten Mitmenschen, half Ernst Bloch bzw. sein Vorsatz zu den eingangs zitierten Spuren: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“
Eine Variation dieses Satzes bot die Game-Show Wir wollen alle eure Erwartungen erfüllen und werden daran scheitern aus Thüringen, die – wenn ich es richtig verstanden habe – als Live-Zoom aus den Jugendzimmern der Schüler*innen übertragen wurde (wobei die Bildregie aus einer Jugendherberge in Eisenach kam). Hier erfolgte das Haten zur spielerischen Interaktion bzw. als lustvolle Einladung zum Dissen zum Zweck der Distinktion: „Wer soll verlieren?“ Es wurden Punkte „für Deine schöne Ferse“ vergeben, man konstatierte „Tom ist schon raus – schade!“ und machte minutenlang Kniebeugen, was ich als Metapher für das Theater im Netz verstand. Und am Ende, als eine Siegerin feststand, stellte diese dann einigermaßen traurig fest: „Selbst jetzt, wo ich gewonnen habe, spreche ich einen Text, der nicht von mir ist.“ Einsamkeit zeigt sich so als zentrales Entfremdungsmoment. Oder umgekehrt: Entfremdung sorgt für Einsamkeit. Utopien sehen anders aus; einen Link zu Marx erspare ich mir.
Regelrecht dystopisch (oder vielleicht nur repräsentativ für den oft unregulierten Sprach- und Sprechraum des Netzes) schienen manche Aussagen im Chat, die schnell alterierende Ordnungsvorstellungen auf den Plan riefen: „Lasst doch bitte diese sehr unpassenden Bewertungen anderer Menschen nur über deren Aussehen! Toll, wenn ihr jemanden hübsch, süß, sexy findet. Aber verliert dabei den Respekt füreinander nicht!“ (Marco Grasa, 22.09.2021 um 11:09 Uhr) Oder: „Ich glaube, wir sollten bei kommenden SDLs noch transparenter machen, dass den einzelnen Gruppen unterschiedlich viel symbolisches wie ökonomisches Kapital zur Verfügung steht. (…) Ich schreibe das, weil es offenkundig noch nicht deutlich genug von uns ‚Großen‘ vermittelt wurde, sonst würden nicht immer wieder gehässige Kommentare auftauchen – hinter denen eigentlich nur steht, dass sich jemand unterlegen und beschämt fühlt. Im ersten Moment war ich wütend auf die Hasskommentatoren, im nächsten Augenblick ist mir gerade klar geworden, dass das auch mit einem ‚Fehler im System‘ zu tun hat. (Sausan Osman, 23.09.2021 um 13:24 Uhr)
Neben den hier erfolgten (und richtigen) Hinweisen zur nötigen Sensibilisierung wahrnehmbarer Differenzen von jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen, Expertise und eigenen Erfahrungen, die noch mehr den Medien-Produkten (als weniger den Theater-Produktionen) anzusehen war, weil sich die Schere zwischen üppiger und karger Kapitalisierung ob des Verhältnisses von Bild und ‚Wahrheit‘ (bzw. Evidenz) vielleicht noch deutlicher öffnete, scheinen mir die angeführten „Hasskommentartoren“6Vgl. Butler 2006. Butler macht u.a. deutlich, dass die Anrufung des (sprechenden) Subjekt nötig ist, damit Sprechakte überhaupt gelingen können; Angesprochene können eben auch nicht reagieren – und damit die Einsamkeit des Sprechenden forcieren. für mein Thema Einsamkeit bedeutsamer, weil expliziter: Während ersteres einen Appell darstellt, sich die gar nicht mehr so „feinen Unterschiede“ von gesellschaftlicher Organisation genauer anzuschauen, um dann ggf. den Trend zur Singularisierung7Vgl. Reckwitz 2017. Vor allem die Aussagen im Kap. 3 (Die Kulturalisierung der Ungleichheit) wären in diesem Zusammenhang von Bedeutung. (als strukturelle Form der Vereinsamung) im und als Gespräch umzukehren, würde ich die erkannten Motive der Unterlegenheit und Scham und das damit einhergehende wütende Sprechen als Agieren aus einer Einsamkeit heraus bezeichnen – wenn man diese Aktivität als Negativfolie bzw. Kippfigur von Likes versteht, die Felix Stalder wie folgt beschreibt:
„Auf der alltäglichen Ebene der kommunikativen Selbstkonstitution und der Schaffung eines persönlichen kognitiven Horizonts – in unzähligen Streams, Updates und Timelines in den sozialen Massenmedien – ist die wichtigste Ressource die Aufmerksamkeit der anderen, deren Feedback und die daraus resultierende gegenseitige Anerkennung. Und sei diese Anerkennung nur in Form eines schnell dahingeklickten Likes, der kleinsten Einheit, die dem Sender versichert, dass es irgendwo einen Empfänger gibt. Ohne diesen hat die Kommunikation keinen Sinn. Wenn niemand einen Like-Button unter einem Eintrag oder einem Foto anklickt, dann hat das etwas Bedrohliches. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Kommunikation zusammengebrochen ist, und wenn dieser Zustand andauert, hat das die Auflösung der eigenen, kommunikativ-konstituierten sozialen Existenz zur Folge“ (Stalder 2016: 139)8Wenn man bestimmte Kennzeichen von Internet-Hate-Speech heranzieht, z.B. die Ausgrenzung und Abwertung anderer zur Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls bzw. der Gruppenidentität, wird vielleicht klarer, was ich mit Kippfigur von Likes meine: Mein artikulierter Hass steigert die Liebe der mit mir dann gemeinsam Hassenden (was ggf. zur Überwindung der Einsamkeit führt, auch wenn deren Performanz sehr anstrengend sein kann).Stalder schreibt in diesem Abschnitt (Singularität und Gemeinschaftlichkeit) auch über Bilder: „Die Qualität eines Bildes wird (…) danach beurteilt, ob ‚andere es mögen‘, also danach, wie es im kontinuierlichen Popularitätswettbewerb innerhalb einer bestimmten Nische abschneidet.“ (141) Nicht die Kompetenz der Bilderzeugung (dafür gibt es ‚smarte Kameras mit eingebauten Filtern‘), sondern der Platzierung und Ladung mit Affekten dominiert die visuelle Kommunikation – ich würde behaupten, dass das im Theater (noch) anders ist, da dort Situationen geschaffen werden (sollten) ….
Man freue sich also über die „Fehler im System“, denn diese „Fehler“ sind veritable Hinweise auf lebendige Existenzen, auch wenn sie von Einsamkeit umflort (und sozial anstrengend) sind …
Ebenfalls dem Chat ist der Kommentar zum Abschluss-Panel des SDL entnommen: „Ich teile, was Ingund sagt, bezüglich der Möglichkeiten und spannenden Grenzuntersuchungen. Trotzdem frage ich mich, nach diesem Festival, wo wir als Theatermachende auch Grenzziehungen brauchen, um ‚Das Eigene‘ unserer Kunstform stark zu machen. Was auch immer das sein soll. (Pit Nötzold, 23.Sept 2021 16:25 Uhr. Vincent – über Pits Account).
Die hier aufgeworfene (und für mich nachvollziehbare) Frage nach „Grenzziehungen“ verfügt über eine eigene diskursive Tradition, die aus aktuellem Anlass weiteren Auftrieb bekommen hat. So wurde eine Variation davon im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2020 unter dem Titel Chancen und Gefahren von Theater im Netz9Eine Analyse dieses im Rahmen des ebenfalls digital/hybriden Berliner Theatertreffens 2020 erfolgten Panels unter dem Titel: unboxing stages – Stoppt das Streaming böte viel Stoff zum Nachdenken über den Transfer von Theater (sowohl als Institution, Anlass zur Arbeit, politischer Akteur, Kunstort u.v.a.) in einen digitalisierten Aggregatszustand. diskutiert.
Die dort versammelten Theaterpraktiker*innen (vor allem die Regisseur*innen) scheinen mir, allein aus der Logik ihrer szenischen Arbeit heraus, eine klarere Vorstellung dieser Grenze zu haben: Sie unterscheiden u.a. zwischen Theater als einer unmittelbar Gemeinschaft stiftende Kunstform, die mittels einem sozial aus- und verhandelbaren Wahrnehmungsabgleich andere Perspektiven innerhalb einer Aufführung zulassen kann, einerseits und dessen mediatisierten Wiedergänger als Stream ohne Bewusstsein für internes / externes Feedback und Kenntnis von entkoppelt stattfinden Wahrnehmungen andererseits, wobei die Frage, wie man sich künstlerisch in diesem Kontext einschreiben könne, ungelöst sei bzw. Ansatz für Experimente sein sollte.
Ich fürchte, dass der Transfer der Themen und Thesen dieses Expert*innen-Gesprächs aus dem Kontext des institutionellen Theaters (und seiner im TT-Panel stattfindenden Aufbereitung10Damit meine ich bspw. die Thesen des Impulsreferats von Christian Rakow (siehe obiges Video Min. 2:44–12:20), der dafür plädiert, Theater im Raum eines „maximalen Feedbacks“ (so versteht er das Internet 2.0) näher an die Nutzer*innen und deren kommunikativen Bedürfnissen zu platzieren, um damit die gängigen Top-Down-Routinen des institutionellen Theaters (inklusiver der Prinzipien des Anspruchs auf Steuerung, der Repräsentation, der Immunisierung gegenüber Interaktion) zu dekonstruieren.) für die im SDL-Chat aufgeworfene Frage nicht ohne weiteres möglich ist, zumal das „Eigene“ der Kunstform Theater sich auf diesen SDL gar nicht recht entfalten konnte… (zum letzten Mal zur Erinnerung: Die uns gezeigten, z.T. bemerkenswert produzierten Filme wirken als Artefakt und eben nicht als Aufführung). Aber selbst, wenn wir genauer wüssten11Wir wissen definitiv mehr zur Frage Why theatre?, wenn wir das gleichnamige Golden Book V., herausgegeben von NT Gent (Berlin: Verbrecher Verlag, 2020) durchgelesen haben. Hierin stecken auch schöne Impulse für einen Transfer in ein Theater in der Schule., worin die Kunst des Theater in der Schule besteht (so wie die Expert*innen der Institution und ihre künstlerischen Teams es für eigene Praktiken erahnen und bei jedem Tun aufs Neue herausfinden), heißt das nicht, dass die von ihnen geäußerte Thesen eines experimentelleren Umgangs mit den Settings eines Theaters im Netz für die Arbeit mit Schüler*innen tauglich wären. Und auch die von Christian Rakow ersehnte Dekonstruktion gängiger Top-Down-Routinen ist dem präsentierten Content kaum zu unterstellen: Schule und ihr ‚Anspruch auf Steuerung‘ (und wohl auch dem Wunsch der Schüler*innen nach einem Gesteuert-Werden) scheint unkaputt- und kaum in eine populärkulturelle Pose, in ein Meme oder GIF überführbar.
Was nimmt man also mit?
Wird es, wie es sich bei anderen Theaterfestivals abzeichnet, auch künftig beim SDL eine digitale Sparte geben? Wieso kommt in der ergänzenden Empfehlung Lehren und Lernen in der digitalen Welt der KMK (KMK 2021) nicht einmal der Begriff Theater vor? Wäre nicht Theater der Ort, an dem man über die sozialen Wirksamkeiten dessen, was man mit „digitaler Welt“ meint, laut und kritisch nachdenken könnte? Und wo ist eigentlich das nächste SDL? Trifft man sich dann mal in echt? Denn nur so, fürchte ich, lässt sich die Einsamkeit überwinden.
Ist seit 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Arbeitsschwerpunkte, die er als ‚pragmatische’ Theaterwissenschaft verstanden haben möchte, liegen u.a. in der Schul-Theater-Pädagogik. Er ist an der Lehrer*innenausbildung im Erweiterungsstudiengang Darstellendes Spiel (im Bereich Theatertheorie), dem MA Studiengang Theater – Forschung – Vermittlung (mit Schwerpunkt auf Letzterem) und an der Herausgabe der Zeitschrift Schultheater (im Friedrich-Verlag) beteiligt. Zudem betreut er im institutseigenen Theater, dem Experimentiertheater, studentische Produktionen und Projekte.
Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main, Fischer, 1994.
Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2006.
Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis. Tübingen, Max Niemeyer, 1993, Teil II/Bd.2, S. 8–127. Zum Werkzeugcharakter des Bildes vgl. auch Silvia Seja: Handlungstheorien des Bildes. Köln. Herbert von Halem Verlag, 2009.
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin, Suhrkamp, 2017.
Immanuel Schipper (Hrsg.): Ästhetik versus Authentizität. Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung. Berlin, Theater der Zeit, 2012. Darin v.a. der Aufsatz von Jens Roselt: Der Zuschauer als Täter. Von der Scham beim Spannen und Gaffen (S. 81–93).
KMK: Lehren und Lernen in der digitalen Welt. Ergänzung zur Strategie der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 09.12.2021)
Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp, 2016.
André Studt: Mein großes Seufzen – wieso ich eigentlich keine Lust mehr habe, über Theater und Digitalität nachzudenken (es aber dennoch mache). In: Korrespondenzen – Zeitschrift für Theaterpädagogik Heft 78 (April 2021), S. 26–27.
Claudia Wegener: Parasoziale Interaktion. In: Uwe Sander / Friederike von Gross / Kai-Uwe Hugger (Hrsg.) Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden, VS, 2008, S. 294.