Zum Bildungsgehalt von Rollenarbeit in theaterpädagogischen Prozessen
"I fail and try again and fail and hate it and love it and be TOTALLY CONNECTED AND DISCONNECTED TO AND FROM MYSELF, EVERYONE AROUND ME AND THE WORLD all at the same time."- F. Richter
Es sind manchmal kleine, eigentlich banale Situationen, kurze Konversationen oder Interaktionen, die lange beschäftigen, im Gedächtnis bleiben, manchmal sogar das Verarbeiten von Erlebten grundlegend beeinflussen. So erging es mir in diesem Jahr auf dem SDL, dem Bundeswettbewerb Schultheater der Länder: fünf Tage vollgepackt mit Stücken, Workshops, Nachgesprächen, Diskussionen und besonderen Momenten. Hinterher benötigte ich eine ganze Weile, bis sich meine
beinahe übersättigten Gedanken sortiert hatten.
Einige Tage später– noch mitten im Prozess der Verarbeitung – fragte mich eine befreundete Lehrkraft des Fachs Darstellendes Spiel, was ich denn so vom SDL mitnehme, bei diesem besonderen Thema Rollen. Ich musste einen Moment nachdenken, schilderte dann eine Situation von der Fachtagung, speziell aus einer Diskussion zu den Begriffen Haltung und Positionierung im Nachgang des ersten Impulsvortrags und weshalb es vielleicht sinnvoll wäre, Spielende nicht nach der Haltung ihrer Rolle, sondern nach der Positionierung ihrer Figur zu fragen, dass mich diese
Überlegung das gesamte SDL beschäftigt und viele Diskussionen und Gespräche geprägt habe. Mein:e Gesprächspartner:in reagierte grinsend und fragte stichelnd, ob das letztlich so einen Unterschied mache, nun Haltung oder Positionierung zu sagen, ob das nicht eher ein theoretischer und begrifflicher Diskurs sei, der wenig mit der Realität im Unterricht, dem Lernen und Lehren von und mit Theater oder dem Theaterspielen selbst zu tun habe… Hm… Gute Frage…
Vorgeschichte: Fachtagung und exzentrische Position des Menschen
Der Starting Point meiner Überlegungen entstammt der Diskussion zum Impulsvortrag Rolle hoch 3 von Schlegel-Pinkert, Hinz und Eggers (Schlegel-Pinkert et al., 2023) auf der Fachtagung des SDL. Aus dem Fachpublikum wurde hier nach dem Begriff der Haltung gefragt, welcher im Vortrag der drei UdK-Lehrenden keine Erwähnung fand, jedoch als ‚typische‘ Adressierung inneren (Grund-)Einstellungen während der Rollenarbeit in theaterpädagogischen Prozessen häufig verwendet werde. In ihrer Antwort erläuterte Schlegel-Pinkert, der Begriff sei aufgrund seiner statischen Natur bewusst nicht genutzt, alternativ jedoch die dynamischere Positionierung
verwendet worden. Letztere läge ihres Erachtens näher an eben jenen Prozessen, die von Spielenden bei der Figuration auf der Bühne durchlaufen werden.
Sie nimmt damit u.a. Bezug auf ein von ihr zu Beginn des Vortrags genutztes Zitat von Erika Fischer-Lichte (2010):
Theater hat dergestalt sein Fundament und die Bedingung seiner Möglichkeit in der conditio
humana […]. Denn die theatrale Grundsituation enthält immer schon alle für die conditio humana konstitutiven Faktoren – die Lust daran, sich selbst als einen anderen zu entwerfen und zu erproben, die Fähigkeit zum Handeln, zum Darstellen, zum Spiel. […] In diesem Sinne lässt sich die
These vertreten, dass im Theater die exzentrische Position des Menschen, sowie die mit ihr gesetzten Fähigkeiten – zum Beispiel zur Sprache, zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, zum instrumentellen, expressiven und semiotischen Gebrauch des Körpers – als solche thematisiert und reflektiert werden.“ Fischer-Lichte, 2010, p. 3; Hervorhebungen im Orginal
Die hier genannte conditio humana geht auf Hellmuth Plessner (1976) zurück, der unter ihr die
exzentrische Position des Menschen von sich selbst versteht. Gemeint sei die Fähigkeit des Menschen, so Fischer-Lichte weiter, das eigene Verhältnis zu sich selbst durch die Positionierung in einem Andere:n distanzierend und distanziert zu beobachten und zu reflektieren. Dabei setzen die Akteur:innen auf der Theaterbühne nach Plessner „Aspekte und Faktoren in Szene, welche die Zuschauer als Repräsentanten ihrer Gesellschaft im Hinblick auf ihre Identität als Mitglieder dieser
Gesellschaft sowie auf ihr eigenes Selbst wahrnehmen und deuten“ (Fischer-Lichte, 2010, p. 3). Gleichzeitig sei der Blick der Zuschauenden auf dieses in-Szene-setzen eine Reflexion und ein ins-Verhältnis-setzen für die Spielenden selbst. Die Ausbildung von Identität sei folglich erst durch ein theatrales Grundverhältnis („die Abständigkeit des Menschen von sich selbst“ (Fischer-Lichte,
2010, p. 3)) möglich. Hieraus schließt Fischer-Lichte die oben genannte Verwobenheit zwischen dem Theater und der conditio humana: das Fundament und die Möglichkeitsbedingung des Theaters in der conditio humana, die wiederum durch das Theater symbolisiert werde.
In ihrem Vortrag auf der SDL-Fachtagung sowie in ihrer Antwort auf die oben beschriebene
Diskussionsfrage schließt Schlegel-Pinkert aus dem genannten, Theater und gerade die Theaterpädagogik seien geprägt vom (kritischen) Diskurs um das Subjekt, um Subjektivität und die Fähigkeit zum eigenständigen, empowerten und emanzipierten Handeln und Leben in einer
gesellschaftlichen Umwelt. Die Rolle stelle damit eine Reibungsfläche dar, von der aus die Akteur:in eine individuelle und angeeignete Figuration entwickelt. Durch deren Darstellung tritt sie – im Sinne der conditio humana– mit sich selbst und der Gesellschaft ins Verhältnis, lotet die eigene, relative Position in dieser aus. Damit führt die Auseinandersetzung mit einer Rolle weniger zu einer statischen Haltung, vielmehr zu einer dynamischen Positionierung der Akteur:in.
Die beiden folgenden Teile des Eröffnungsvortrags teilten im Wesentlichen diese Grundannahme
aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive. Melanie Hinz resümiert in ihrem kulturwissenschaftlich-orientierten Teil abschließend, aus jenem Grund sei die Erkundung zeitgenössischer Theaterformen und damit auch Selbst-Inszenierung und gesellschaftliche Diskurse in theaterpädagogischen sowie schulischen Theaterarbeiten naheliegend, wenn nicht gar notwendig. Seinen an der prozessorientierten Psychologie angelehnten Teil schließt Sebastian Eggers mit zwei Thesen zur
grundsätzlichen Nicht-Passung von Mensch und Rolle, der Fluidität individueller Rollenzuordnungen sowie daraus folgernd die Notwendigkeit für eine ständige Neupositionierung der Agierenden.
Um hiervon ausgehend einen engeren Bezug zum Schulfach Theater/Darstellendes Spiel herzustellen und die eingangs grinsend hinterfragte Relevanz dieses Diskurses zu diskutieren, möchte ich im Folgenden eine vierte, bildungstheoretische und fachdidaktische Perspektive herausarbeiten und anbieten, das Verhältnis zwischen Haltung und Positionierung zu fassen. Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Auseinandersetzung mit Rollen,
Figuration und damit das von Fischer-Lichte als extrinsische Position beschriebenes ins-Verhältnis-setzen zu Bildungsprozessen führen kann.
Die Figur, das Nicht-Ich und (Nicht-Nicht-)Ich
Das bei Fischer-Lichte angesprochene ins-Verhältnis-setzen desMenschen über die Figuration einer Rolle, welches von Schlegel-Pinkert als Positionierung beschrieben wird, kann als das Erleben von Differenz zwischen dem spielenden Menschen und der zu verkörpernden Rolle verstanden werden. Die Figuration auf der Bühne bezieht sich damit sowohl auf die agierende Person als auch auf die Rolle und erzeugt zwischen ihnen ein Spannungsfeld. Die Akteur:in ist hier niemals
vollständig sie selbst, noch vollständig die Rolle, sondern bewegt sich zwischen diesen Polen (vgl. Klimant, 2022; Schechner, 1990). Mira Sack (2011) bezeichnet diese Pole in Anlehnung an Schechner (1990) als Ich, Nicht-Ich und Nicht-Nicht-Ich: Das spielende Subjekt – das Ich – begibt sich in eine Relation zu einer theatralen Rolle – dem Nicht-Ich. Es wird dabei mit einer Nichtpassung zwischen Ich und Nicht-Ich konfrontiert, bei der das Subjekt einerseits es selbst ist – mit eigenen Gedanken, Empfindungen und Leiblichkeit auf der Bühne, gleichzeitig aber im Spiel der Rolle eben nicht dem eigenen Denken und Handeln folgt. Es entsteht ein Dazwischen zwischen Ich und Nicht-Ich. „Die durch den Spielrahmen aktivierte paradoxe Situation – Wahres und
Unwahres ereignet sich zugleich – bringt das spielende Subjekt auf einen neuen Nenner, ebenjenen des nicht Nicht-Ichs“ (Sack, 2011, p. 141), der theatralen Figur(ation). Diese Figur mäandert nun zwischen den Polen des Ichs und des Nicht-Ichs, zwischen Subjekt und Rolle, ist nie ganz Ich noch Nicht-Ich. Dieses Mäandern widerfährt der spielenden Akteur:in jedoch nicht einfach, sondern wird von ihr aktiv erlebt. Das heißt, im Sinne der oben angesprochenen coditio humana ist der Akteur:in das Spannungsfeld, die Differenz und das Mäandern bewusst und sie muss sich dazu ins Verhältnis setzen.
„Im Zuge dessen geraten Persönlichkeitseigenschaften und Selbstbild, Außenwelt und soziale Praktiken sowie die Körper der Theaterspielenden in ihren unterschiedlichen Leib-Perspektiven in ein komplexes und bewegliches Wechselverhältnis“ (Klimant, 2022, p. 251).
Allgemeinhin wird diese Facette des Theaterspielens als eines der zentralen Bildungspotenziale
des Fachs verstanden. Klimant (2022, p. 443 f) fasst dieses folgendermaßen zusammen: Theaterspielen sowie performatives Handeln ermögliche Differenzerleben, bei dem die Agierenden sich selbst als Handelnde und Spielende sowie gleichzeitig die Differenz zur Rolle und zur Figuration wahrnehmen. Letztere beide seien hier als erweiterte Begriffe zu verstehen, für die „beispielsweise in performativen Kontexten keine Rollenvorschriften zur Darstellung gebraucht werden. Theatrale Figuren verstehen sich hier – auch ex-negativo – als Figuration“ (Klimant, 2022, p. 443 f). Das Spannungsfeld zwischen Subjekt und Figuration sei somit der Ort des Perspektivwechsels und der Interaktion mit dem Fremden, in dem das bildende Potenzial des
Theaterspielens liege.
Nun stellt sich die Frage, wie ein solches Differenzerleben, die Konfrontationen mit Ambiguität, der Wechsel von Perspektiven zu Bildung führen kann. In dieser Frage treffen die bisherigen, an der ästhetischen Bildung orientierten Überlegungen auf einen weiteren Bildungsdiskurs: den der transformatorischen Bildung.
Exkurs: Transformatorische Bildung
Die Theorie der transformatorischen Bildung (Koller, 2023) geht zunächst davon aus, dass Subjekte ein in ihrer sozialen Umgebung entstandenes Verhältnis zur Welt, zu Anderen in dieser sowie zu sich selbst besitzen. Dieses Verhältnis beeinflusst grundlegend die Wahrnehmung, das Denken und das Handeln der Subjekte und wird als System von Dispositionen verstanden. Das Subjekt strebt im Rahmen seiner sozialen Umgebung an, das Selbst-Anderen-Welt-Verhältnis sowie das eigene Dispositionssystem relativ8 stabil und unverändert zu halten.
Nun kann es durch bestimmte Situationen zu Fremdheitserfahrungen kommen, welche das individuelle Verhältnis und Dispositionssystem in Frage stellen. Dabei wird dieses nicht einfach negiert. Vielmehr führt die Irritation (Bähr et al., 2019) zu einer Außerkraftsetzung der Ordnung des Dispositionssystems.
„An die Stelle der Alternative von Ja und Nein bzw. von wahr und falsch tritt damit die Unentscheidbarkeit; das Fremde ist der jeweils geltenden Ordnung inkommensurabel“ (Koller, 2023, p. 85).
Hierin liegt nun die Möglichkeit für eine Transformation des eigenen Selbst-Anderen-Welt-Verhältnisses, des eigenen Wahrnehmens, Denkens und Handelns und damit ein Bildungspotenzial.
Auf die durch die Fremdheitserfahrung ausgelöste Krise wird eine (bewusste oder unbewusste) Reaktion auf Seiten des Subjekts benötigt. Hierfür werden in Anlehnung an Waldenfels (1997) drei
mögliche Antworten beschrieben: Zunächst kann die Krise als Bedrohung des Etablierten, also des eigenen Selbst-Anderen-Welt-Verhältnisses verstanden werden, in Folge dessen das Subjekt ablehnend antwortet. Das Fremde wird hier feindschaftlich behandelt, was zur Aussonderung, aber
gleichzeitig auch zur Gefahr einer erneuten Konfrontation führt.
Langfristig stabiler ist die „Aneignung des Fremden[. …]Kennzeichen dieser Reaktion auf das Fremde sind zum einen die Affirmation des Eigenen, das fraglos als Norm vorausgesetzt wird, und zum andern die Subsumtion des Fremden unter diese Norm“ (Koller, 2023, p. 84). Das Fremde wird hier zum Teil des Eigenen, verliert somit aber auch sein transformatorisches Potential.
Die einzig produktive Antwort auf Krisensituationen besteht nun darin, die Leerstelle zwischen dem Fremden und den eigenen Dispositionen als Herausforderung und Anspruch des Fremden zu verstehen. Hiermit werde im Gegensatz zu den anderen Antworten das eigene Selbst-Anderen-Welt-Verhältnis nicht normativ vorausgesetzt, sondern mitsamt des Dispositionssystems zum Gegenstand der Transformation. Das Ergebnis dieser Transformation, das ‚Neue‘, beschreibe dabei jedoch nicht „das ‚ganz andere‘, völlig Unbekannte, Noch-nie-Dagewesene, sondern vielmehr eine Wiederholung des schon Vorhandenen, die das Wiederholte in einen anderen Kontext versetzt und so in seiner Bedeutung verschiebt“ (Koller, 2023, p. 133). In diesem Neuen ergeben sich dann – quasi experimentell – neue Figuren des Selbst-Anderen-Welt-Verhältnisses.
„Spielplatz der Fremdheit“
Ist – wie weiter oben beschrieben – das Spannungsfeld zwischen dem Subjekt und der Figuration einer Rolle wesentlich von der Interkation mit dem Fremden geprägt, so liegt eben in der Differenz zwischen Ich und Nicht-Nicht-Ich auch das Potential für irritatives Fremdheitserleben im Sinne einer transformatorischen Bildung. Die Verhandlung und Beantwortung des Fremden würde dann in einer oszillierenden Bewegung (vgl. Klimant, 2022) zwischen jenen Polen der Figuration stattfinden.
Das Theaterspielen stellt so einen „artifizielle[n] Prozess leiblicher Selbst- und Weltbefremdung [dar][…], der sich durch die performativ-ästhetische Annäherung an das eigene Andere und an das
fremde Andere auszeichnet. Theater ist der Spielplatz der Fremdheit“ (Klepacki & Zirfas, 2013, p. 126). Die Spielenden werden dabei –gerade in der Interaktion mit Anderen – mit der Unvorhersehbarkeit und der Ambiguität, gleichzeitig aber auch mit der Notwendigkeit von
Entscheidungen für das Theaterspiel konfrontiert. Dabei bleibe zwar jede theatrale Handlung irreversibel, das Theater ermögliche den Spielenden aber diese Handlung
„wieder und wieder neu zu verhandeln. [Sie] ist somit situativ immer schon fertig und gleichzeitig prozessual unabschließbar. Die Prinzipien des Anfangs, der Suche, der Variation, des Umkreisens des nicht Fixierbaren und die Offenheit des Gestaltungsprozesses sind es, die das Theater hier zu
einer Kunstform der Probe machen, die von sich aus pädagogisch wirksam ist“ (Klepacki & Zirfas, 2013, p. 127 f; vgl. Matzke, 2012; Sack, 2011)
Diese experimentelle Natur, der „Prozess der ästhetischen Be- und Verhandlung von Möglichkeiten, Vorschlägen und Varianten menschlicher Praxis“ (a.a.O., p. 126) beinhaltet somit eine Resignifizierung (vgl. Butler, 1998): Es werden im Spannungsfeld der Figuration die eigenen
und fremden Dispositionen mehrmalig wiederaufgeführt, dabei einander gegenübergestellt und zugleich abgewandelt. Hieraus entstünde dann die mögliche Transformation und schließlich das oben beschriebene Neue (vgl. Koller, 2023).
Die Verlockung des Dazwischen
Im Theaterspiel begeben sich Spielende also wiederholt in die Konfrontation mit dem Fremden, müssen sich immer wieder im Spannungsfeld zwischen sich selbst, Rolle und Figuration Verhalten, sich – die conditio humana lässt grüßen – ins Verhältnis setzen in der performativ-ästhetischen
Annäherung an das eigene und fremde Andere. Sie bewegen sich in einem mehrdimensionalen Raum der Dispositionen und versuchen dort, eine relative Position zu finden.
Diese wiederholende Positionierung eröffnet im Sinne der Resignifizierung die Möglichkeit, „potentielle Handlungsmöglichkeiten [als] ästhetische[] Wirklichkeiten“
(Klepacki & Zirfas, 2013, p. 126) und so verschiedene Antworten auf das Fremde zu erproben. Dabei beziehen sich vollzogene Antworten zunächst weniger auf das spielende Subjekt, sondern auf das Nicht-Nicht-Ich. Die Antworten selbst sind somit weitere Aspekte möglichen Fremdheitserlebens des spielenden Subjekts, aber eben erprobteund erprobbare.
Der Reiz einer solchen bewusst konstruierten Konfrontation mit alternativen Dispositionssystemen und potenziellen Irritationen ergibt sich aus der Ambivalenz des Fremden:
Es „kann bedrohlich sein, aber auch verlockend, kann als Konkurrenz für das Eigene erscheinen, aber auch als Eröffnung neuer Möglichkeiten, die durch die Ordnung des Eigenen ausgeschlossen werden“ (Koller, 2023, p. 83).
So könne nicht nur das Fremde und dessen Ordnung Fremdheitserleben auslösen, sondern eben auch das Eigene. Die von Fremdheit ausgehende Beunruhigung sei folglich inter- und intrapersonell sowie inter- und intrakulturell (vgl. Koller, 2023). Hieraus ergibt sich nun die Möglichkeit, dass durch die Figuration und das damit verbundene Positionieren zwischen Selbst und Rolle auch Transformationen der Akteur:in außerhalb des theatrealen Spiels entstehen.
Zurück zur (schulischen) Realität
Jetzt wurde hier viel aus einer theoretisch-philosophischen Perspektive diskutiert über Theater(spielen), Rollen- und Figurenarbeit und dessen Bildungsgehalt. Und doch bleibt dieses Gefühl zurück, eigentlich keine Antwort auf die eingangs formulierte Frage erhalten zu haben: Was macht es – mit Blick auf das Geschriebene – für einen Unterschied, wenn wir während eines szenischen Prozesses nach einer Positionierung anstelle einer Haltung fragen?
Letztlich zeigen wir damit Offenheit und geben Raum für den notwendigen Prozess der Akteur:innen, sich selbst beim Betreten der Bühne in Bezug zu ihrer Rolle zu setzen, sei diese nun
mit oder ohne Vorschrift, (post-)dramatisch oder performativ. Wir geben den Raum, sich zwischen jenen Polen zu verorten und diese Verortung kritisch zu verhandeln. Im Spiel manifestiert sich dann die aktuelleAuseinandersetzung, die aktuelle Position der Akteur:in im Spannungsfeld der Figuration und verflüssigt sich direkt wieder, nur um das nächste Mal neu ausgehandelt zu werden. Eine sprachliche Offenheit gegenüber diesem individuellen Prozess der Aushandlung zwischen Selbst und Rolle innerhalb theaterpädagogischer Arbeit (gerade in Bildungskontexten wie
schulischem Theaterunterricht) verändert den von den Leitenden gesetzten Rahmen und ermöglicht, fordert und fördert so die bewusste (oder auch unbewusste), kritische Auseinandersetzung der Akteur:innen (auch gemeinsam in der Gruppe) mit der Figuration, den szenischen Handlungen auf der Bühne und darüber hinaus.
Nun möge es schulische Realität sein, dass Begriffe wie Haltung und Positionierung für Lernende eher leere Worthülsen als reichhaltig gefüllte und vernetzte Strukturen sind und deren differenzierte Nutzung in der Praxis zunächst irrelevant wirkt. Auch sind die hier dargestellten Überlegungen wohl zu abstrakt und komplex, um sie mit Lernenden zu verhandeln. Doch bereits
die sprachliche Sensibilität für die Differenz zwischen Haltung und Positionierung auf Seiten der Lehrkraft wird ihre eigene Perspektive verändern, den Unterricht, Diskussionen und Aufgabenstellungen anders rahmen, für den beschriebenen Prozess öffnen und letztlich auch die Lernenden beeinflussen, auch wenn die Begriffsbedeutungen für sie vielleicht implizit bleiben.
Bibliografie
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