Der kleine böse Fluch
Jugendlich persönliche performative Auseinandersetzung mit Erwartungen der Gesellschaft und Umwelt und die Angst, diesen nicht genügen zu können.
Der kleine böse Fluch – Von Komfortzonen, Angstzonen und großer Überwindung
Bremen, Theater-Profil-Klasse der Gesamtschule Bremen Ost
Aus einem dicken Jutetau ist auf der schwarzen Bühne ein Kreis gelegt, in dem die Spielenden der Theater-Profil-Klasse der Gesamtschule Bremen Ost sitzen. Sie tragen bequeme Kleidung, einige von ihnen Onesies. Sie haben Kuscheltiere, Kissen und Decken dabei. Die Atmosphäre ist ruhig und gemütlich. Sie lehnen sich aneinander an, scrollen auf ihren Handys. "Darf ich vorstellen, meine geliebte Komfortzone. [...] Hier bin ich sicher", verkünden sie und hängen ein pinkes Schild auf, um ihren Raum symbolisch zu markieren. Sie sprechen über Orte, an denen sie sich wohl und sicher fühlen, und über das Verteidigen dieses Zustands.
Doch die dargestellte Sicherheit ist fragil und es kommt, wie es kommen muss. Die kleine, heile Welt, umrandet vom Jutetau wird gestört durch einen kleinen bösen Fluch, gespielt von drei Jungs in clownesken Kostümen, die mit provozierenden Bemerkungen die Idylle ins Ungleichgewicht bringen. Als Voice-Over erzählen die Jugendlichen von Situationen, in denen sie ihre Komfortzone verlassen müssen. Ein Streit eskaliert, Lehrkräfte und Eltern schimpfen, Geschwister ärgern sie, gesellschaftliche Erwartungen setzen die Jugendlichen unter Druck. Die Spieler:innen halten sich die Ohren zu, ringen mit Stimmen, die ihnen vorschreiben, wer sie zu sein haben. Es kommt zu kleinen Rangeleien mit den Angreifern. Einige werden aus der Komfortzone über die Grenze des Juteseils hinaus in das Außen gedrängt. Die drei kleinen Flüche hängen neue Schilder auf, die dieses Außen als "Angstzone" markieren. Beeindruckend offen gehen die Spielenden hier an ein Mikrofon und erzählen von ihren (offenbar eigenen) Ängsten. Angst vor Armut. Angst vor politischer Ausgrenzung, Verfolgung und Abschiebung. Angst vor schlechten Schulabschlüssen, Arbeitslosigkeit und Armut. Angst, die Eltern zu enttäuschen oder Bezugspersonen zu verlieren. Angst, selbst keine guten Eltern für die eigenen Kinder sein zu können. Angst, religiösen und gesellschaftlichen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Angst vor Schlangen und anderem Getier. Und Angst davor, auf einer Bühne in ein Mikrophon zu sprechen. Es ertönt unterstützender Applaus aus dem Publikum, der einerseits empathisch auf den Mut der Spielenden reagiert, andererseits verhalten geschockt von den Ängsten der Jugendlichen zu sein scheint.
Immer wieder überqueren die Spielenden in der weiteren Inszenierung die Grenze zwischen Komfort- und Angstzone, sowohl physisch durch einen Schritt über das Tau als auch inhaltlich. Räumlich positionieren sie sich zu Aussagen und Erzählungen. Schließlich wird jedoch klar, dass die Angstzone nicht das einzige sein kann, das außerhalb des eigenen Komforts existiert. Doch was liegt jenseits der Angstzone? Ist es die Panikzone? Oder die Horrorzone? Oder vielleicht doch die Wunsch-Erfüllungs-Zone!? Dieser Gedanke entwickelt sich zum Schlusspunkt der Aufführung. Die Spieler:innen überwinden symbolisch ihre Angst und erkunden, was hinter den ersten Grenzen der Angst wartet. Die Rückwand öffnet sich und gibt den Blick auf die Hinterbühne frei. Dort hängt ein Schild. Komfortzone.
Die Spielleitung erklärte in einem Interview, dass das Stück aus den eigenen Erfahrungen der Schüler:innen herausentwickelt wurde. Dies wird in der Ehrlichkeit der Erzählungen und in der spürbaren Emotionalität der Spielenden deutlich, die der Inszenierung eine besondere Kraft verleihen. Dabei bleibt die Aufführung bewusst reduziert. Wenige Requisiten, schlichte Kostüme und eine klare Bühnenstruktur lassen den Fokus auf den Worten und Körpern der Spielenden ruhen.
Eine Schüler:innen-Rezension sowie Reaktionen nach dem Stück beschreiben den Humor der Inszenierung, der sich immer wieder in das ernste Thema mischte. Gleichzeitig seien die angesprochenen Fragen für die Zuschauenden besonders zugänglich und nachvollziehbar gewesen. Der kleine Fluch ist nicht das einzige Stück auf dem Festival gewesen, das die Rezeption und Reaktion der Jugendlichen auf die gesellschaftlichen Erwartungen und Ansprüche verhandelt. Sowohl das Stück Muttis Kinder aus Brandenburg und #Teenies Welt aus dem Saarland als auch Wenn ich ein Held wär’ und noch zwei Flügel hätt’… aus Thüringen verhandeln vergleichbare Themen durch verschiedene Spielansätze. Auf diese Weise wird eine inhaltliche Facette des diesjährigen SDL sichtbar, insbesondere welche Thematiken Schüler:innen in der persönlichen Auseinandersetzung mit Leben verbinden.









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Fokus 2024 - Leben
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Rostock im Studiengang Lehramt Theater, Studiengangsleiterin des Weiterbildungsmasters „Theater unterrichten“
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