Fokus 2024 - Leben

Krieg, stell dir vor, er wär hier

Teilweise immersives Kellertheater mit der Projektion eines Krieges in Deutschland und einer Flucht nach Ägypten

Krieg, stell dir vor, er wär´ hier

TACTLOS, Friedrich-Wöhler-Gymnasium Siegen, Baden-Württemberg

Wer dem Titel nicht glaubte, wurde bald eines Besseren belehrt. Tatsächlich versuchte die Spielgruppe aus (…) genau das, was sie im Titel versprechen: Den Zuschauer eintauchen zu lassen in die Welt und die Erlebnisse eines Kriegsflüchtlings aus Deutschland (!). Sie wählte dazu einen teilweise immersiven Ansatz, indem die Zuschauenden in manchen Szenen in das Geschehen einbezogen wurden.

Spielort waren Kellerräume auf dem Gelände des Tabakreviers, wo ein Großteil des Festivals stattfand. Dort stand man als Besucher bei schemenhafter Beleuchtung zwischen Bierkisten und einzelnen Bauzäunen herum, bis nach dem Löschen der Lichter ein musikalisches Donnergewitter aus live gespielten und verzerrten Basstönen, die wohl die Bedrohungssituation eines Krieges andeuten sollten, durch den Raum waberte

Die Handlung setzte voraus, dass in Deutschland eine diktatorische Regierung die Macht übernommen und einen Krieg mit Frankreich begonnen hat. Die dadurch ausgelösten Zerstörungen an Wohnungen und Infrastruktur belasten die Zivilbevölkerung (in diesem Fall die Zuschauenden) ebenso wie Kälte, Hunger, Durst und Feinde in der eigenen Nachbarschaft. Wechselnde Spieler:innen konfrontierten mit diesen Inhalten die Anwesenden, verlasen aber auch fiktive Tagebucheinträge oder spielten Szenen an, wie eine Demonstrationsveranstaltung, in der der Streit zwischen Vertretern der Demokratie und Vertretern der neuen Herrschaft in Gewalt ausartete.

Nur wenige, so die Annahme weiter, können sich unter diesen Umständen eine Flucht ermöglichen, was aber für die Zuschauer:innen angenommen wurde. Dadurch wechselte das Publikum seine Rolle und wurde auf Flüchtlingstrucks verladen. Dazu öffnete sich ein Baugitter und die Zuschauerschaft wechselte unter scharfen Kommandos in einen Raum, in dem bereits die durch Geräuscheinspielungen erkennbar gemachten Lastwagen zum Abtransport warteten. Die Vorstellung war nun, sich auf der Landefläche eines solchen LKWs zu befinden. Nach gefühlt ewiger Fahrt öffnete sich wieder der erste Raum und der Weg führte jetzt in ein Flüchtlingslager in Ägypten. Neben der Unsicherheit, wie es überhaupt weitergeht und wann der Aufenthalt in der Fremde endet, beherrschte die Betonung der neuen Abhängigkeit die Texte und Szenen. Asylanträge wurden ausgeworfen oder die Gefangenen zur Ordnung gezwungen. Die Feindschaft zwischen Franzosen und Deutschen führte auch im Lager zu aggressiven Übergriffen.

Im Flüchtlingsdasein kehrt mit den Jahren ein gewisser Alltag ein. Während sich manche nie an das Leben im neuen Umfeld gewöhnen können, obwohl die Asylanträge genehmigt sind, finden sich andere, vor allem Jugendliche, in die neuen Umstände ein, gewinnen Freunde, lernen die Sprache und beginnen eine Arbeit. Dieser Teil der Aufführung, der einen auffällig breiten Raum einnahm, stellte besonders ein Mädchenschicksal heraus, dass in Ägypten einen Partner findet, schwanger wird, von den Eltern aber trotzdem in das inzwischen kriegsfreie Deutschland zurückgeschickt wird, wo sie keine Heimat mehr findet und in ein Drogenschicksal abgleitet.

Eine Marionettenperformance zu live gespielten Harfen- und Geigenklängen leitet die Schlusssituation ein, die andeutet, dass die neue Situation einem Flüchtling immer wieder neue Pläne aufzwingt und die Sehnsucht nach der Heimat nie aufhört, selbst wenn die Aufenthaltsgenehmigung unbefristet geworden ist.

Der im Ton und Spiel der Sprechenden zu spürende unbedingte Wille, eine Problematik an den Zuschauer zu bringen, durchzieht Anlage, Stimmung und Sound der Aufführung. Jedem ist klar, hier geht es nicht in erster Linie gegen den in Deutschland drohenden Rechtsruck, sondern um Verständnis für das Leben der hier lebenden Flüchtlinge. Ob das Verfahren, dazu eine Flüchtlingssituation für Deutschland anzunehmen und die Zuschauer in diese Situation hineinzutexten bzw. zu führen, die beabsichtigte Betroffenheit auslöst, konnte nicht in die Breite festgestellt werden. In den „Schuhen der anderen eine Strecke zu wandern“, ist aber ein wichtiges Verfahren, um Empathie zu empfinden. Und hier steckt auch das Verdienst der ernsthaft und engagiert spielenden und performende Gruppe.

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Fotografin

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Rostock im Studiengang Lehramt Theater, Studiengangsleiterin des Weiterbildungsmasters „Theater unterrichten“

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