Fokus 2024 - Leben

Muttis Kinder oder: Die Jugend von heute

Collage über die Welt, wie sie sich Jugendlichen darstellt

Muttis Kinder oder: die Jugend von heute

Marie Curie Gymnasium Hohen Neuendorf, Brandenburg

Wie ticken Jugendliche? In welcher Verfassung ist die junge Generation? Während normalerweise diverse Jugendstudien durch repräsentative Umfragen Antworten auf diese Fragen versuchen, geben beim diesjährigen SDL 27 Brandenburger Schüler:innen Einblicke in ihre Lebenswelt. Muttis Kinder oder: die Jugend von heute ist eine Inszenierung, in der junge Menschen die Bühne nutzen, um sich Gehör zu verschaffen, sich mitzuteilen und hierüber den Diskurs um „die Jugend von heute“ mitgestalten.

Hierfür bedienen sie sich vielfältiger Mittel, darunter chorische Sequenzen, Spielaktionen auf der Bühne und im Publikum sowie Gesang, Livekamera, Licht und Musik. Und dass die Brandenburger etwas zu sagen haben, wird unmittelbar zu Beginn der Inszenierung zum Ausdruck gebracht: Während zunächst alle 27 Spieler:innen in Grüppchen mit dem Handy in der Hand verteilt auf der Bühne sitzen, formieren sie sich auf ein Zeichen hin am vorderen Bühnenrand. Mit Blick in Richtung Publikum konfrontieren sie das Publikum mit Vorurteilen und Meinungen über die Jugend: „Wir wissen genau, was ihr denkt. Jugendliche hängen vom Bildschirm ab …Jugendliche sind respektlos, sie haben keine Ahnung wie es ist, täglich derselben Arbeit nachzugehen […] Null-Bock-Generation, saufen sich ins Koma… dumm und unhöflich“. Es sind Phrasen und Aussagen, die sich zwischen Elternstimmen und medialer Berichterstattung bewegen und die ein negatives Bild von Jugend zeichnen.

Hieran schließt eine Szene an, in der ein Familienessen reenacted wird, wobei die Erwachsenen als lebensgroße Puppen auf der Bühne sitzen. Während eine Spielerin am Tisch sitzt, steht der Rest der Gruppe mit vor der Brust verschränkten Armen auf der Bühne verteilt um den Tisch herum. Sie repräsentieren jene Erwachsenen, die bei einem solchen Familienessen – ungefragt – ihre Meinung über junge Menschen kundtun, wie beispielsweise, dass Jugendliche keine Ahnung von der Welt hätten oder wohl kaum dazu in der Lage seien, später das Land zu regieren, wenn sie eh nur am Handy hängen. Auch typische Äußerungen gegenüber „Ausländern“ werden wiedergegeben und bringen rassistische Denkweisen zutage, die im Familienkreis wie selbstverständlich geäußert werden, ganz nach dem Motto: Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Die junge Spielerin am Tisch findet so mit ihrer Meinung kein Gehör, fühlt sich unverstanden bzw. verstummt. Die Szene macht die Kluft zwischen den Generationen deutlich – zwischen konservativ bürgerlichen (rechten) Erwachsenen und liberalen linken Jugendlichen – und auch die Unmöglichkeit, miteinander zu kommunizieren.

Diese Spielszene ist nur ein Beispiel von vielen, in der die Spieler:innen ihre Rolle im elterlichen oder gesellschaftlichen Gefüge aufzeigen. Sie erzählen von Streitsituationen mit den Eltern, von den Erwartungen („Eure Erwartungen an mich und dazu meine eigenen…“), vom Druck („Immer und überall werden wir bewertet”“) und von dem Wunsch, selbstbestimmt zu leben. Die Spielszenen werden von kurzen, atmosphärischen Zwischenspielen unterbrochen, in denen die Bühne in blaues Licht getaucht ist, dazu gibt es emotionale Klaviermusik und Bewegungschoreografien, die Verlorenheit und Einsamkeit ausdrücken. In diesem Wechsel von Atmosphären und Stimmungen vermittelt sich eindrücklich, wie es den jungen Brandenburger:innen geht. Trotzig kämpferisch – auf dem (Familien)Tisch stehend – widersetzen sie sich den Zuschreibungen und Vorurteilen (vom „aufmüpfigen Teenager“, „woker Frau“ bis zu „radikaler Feministin“). Wieder im nächsten Moment wird demonstriert und dabei Party gemacht. Sie sind laut und so auch die Musik: Während der Song Let's get loud von Jennifer Lopez aus den Lautsprechern dröhnt, laufen die Spieler:innen mit Transparenten durch den Zuschauer:innensaal (fuck Nazis, we’ll not be silence).

Daneben stehen Szenen, in denen die Jugendlichen über ihre Ängste sprechen, sich nicht zu trauen, sich zu äußern, keine schlagfertigen Antworten parat zu haben. Sie schreiben Post-it's, die sie an ihre Körper heften – Sinnbild für die Zuschreibungen, die von anderen ihnen gegenüber vorgenommen werden. Bezeichnend ist auch jener Moment, in dem die Spieler:innen gemeinsam ein emotionales Lied singen und dabei durch die Publikumsreihen gehen. Schließlich stimmt auch das Publikum im Refrain ein. Solcher Art von Interaktion mit dem Publikum findet sich auch noch an anderer Stelle, in der eine Spielerin mit Mikro ins Publikum geht und die Frage stellt: Was würdest du machen, wenn du ganz viel Geld hättest? Sie sammelt Antworten aus dem Publikum und später auf der Bühne von den anderen Spieler:innen. Sie erzählen abwechselnd, wovon sie träumen und blicken sehnsüchtig gen Himmel.

Am Ende steht der Chor der Jugend auf der Bühne, der die Erwachsenen dazu aufruft, sich an die Träume von damals zu erinnern und dazu die Botschaft formuliert: „Nehmt uns öfter mal in den Arm“. Auch hier zeichnet sich der Chor durch Geschlossenheit aus, was durch die einheitliche Kleidung noch unterstrichen wird. So tragen alle weiße T-Shirts und Jeans, eine Art Einheitslook, der Uniformität statt Individualität vermittelt. Dieses Einheitsbild von Jugend wird in den Spielsequenzen zuweilen aufgebrochen, aber im anklagenden Ton ans erwachsene Publikum bleibt es stets dasselbe. Nur an einer Stelle scheint es, als adressieren die Spieler:innen ein gleichaltriges Publikum, wenn sie dazu aufrufen, jetzt zu starten, das Leben anzupacken.

Bezeichnend für die Inszenierung ist, dass alle 27 Spieler:innen über die gesamte Spieldauer anwesend sind. In diesem Sinne gibt die Inszenierung ein Beispiel dafür, wie Choreografien auf der Bühne mit großen Gruppen gestaltet sein können. Insgesamt entsteht beim Zuschauer der Eindruck, ganz nah dran zu sein an dem, was Jugendliche umtreibt. Die Spieler:innen nehmen sich buchstäblich die Bühne, um ihren Gefühlen und Meinungen Ausdruck zu verleihen. Zuweilen jedoch muten diese auch etwas redundant bis einseitig an, insbesondere da die Perspektive der Erwachsenen nur in Gestalt von Vorurteilen und Erwartungshaltungen zum Ausdruck kommt. Hier wäre ein Mehr an Vielstimmigkeit und Perspektiven sicher möglich gewesen.

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Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Rostock im Studiengang Lehramt Theater, Studiengangsleiterin des Weiterbildungsmasters „Theater unterrichten“

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