Werther in Love
Ein Stück, das den "Alten Schinken" aufgreift, hinterfragt, aktualisiert und mit viel Humor persifliert.
Werther in Love
Otto-Schott-Gymnasium Mainz Theater AG Oberstufe Rheinland-Pfalz
In der Inszenierung Werther in Love der Theater AG des Otto-Schott-Gymnasiums aus Mainz wird ein Thema verhandelt, mit wohl jede:r schon einmal zu tun hatte: die unerwiderte Liebe. Um eine solche geht es in dem Roman Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe, die den Schüler:innen als Material und Reibungsfläche dient. Der Briefroman erzählt die tragische Geschichte des jungen Juristen Werther, der sich in Lotte verliebt. Lotte ist jedoch schon mit Albert verlobt, was Werther nicht aufhält. Am Ende begeht Werther Suizid.
Auch wenn die Inszenierung diesem Plot folgt, so handelt es sich bei „Werther in Love“ um eine – im besten Sinne – eigensinnige Adaption. Das Ganze spielt im Hier und Jetzt und ist eng verknüpft mit der Lebenswelt der Jugendlichen, in der die Nutzung von Social Media bekanntlich eine zentrale Rolle spielt. So werden auf der Bühne auch keine Briefe geschrieben, sondern via WhatsApp über (Sprach-)Nachrichten kommuniziert. Werther ist als Influencer dargestellt, der seinem Freund Wilhelm über seine Liebe zu Lotte per WhatsApp berichtet und seine Follower auf Instagram an seinem Beziehungsstatus teilhaben lässt. Beides wird in Echtzeit auf eine große Leinwand projiziert.
In Echtzeit wird auch gezeichnet. So sind auf der Leinwand skizzenhafte Zeichnungen zu sehen – angefangen von Herzsymboliken bis hin zu einem Porträt von Lottes Gesicht –, die das Geschehen kommentieren. Dass es sich hier um eine eigenwillige Adaption handelt, zeigt sich auch daran, dass sieben Werther-Figuren auf der Bühne stehen. Sie wechseln sich ab oder sprechen chorisch unisono. Auch die Kostüme sind einheitlich gehalten: So tragen alle weiße Kleidung, Hose und T-Shirt, dazu einen roten Gürtel, der als Kostümteil die Farbe der Liebe symbolisiert. Weiterhin tragen alle Akteur:innen Schnurrbart und Perücke – die Ausstattung erinnert ein wenig an einen Schlagerstar-Verschnitt. Und Schlager spielen tatsächlich eine Rolle, wenn die Spieler:innen als Playback Ohne dich (schlaf‘ ich heute Nacht nicht ein) von der Band Münchner Freiheit singen, währenddessen liebestoll inmitten der Herzluftballons auf der Bühne herumtänzeln. Neben Musik aus der Konserve gibt es auch Livemusik. Zu sehen ist Werther, der am Keyboard sitzt und seine Gefühle durch die Musik ausdrückt.
Diese Spielebene, die mehr oder weniger eng an die Handlungsstruktur, die Figuren und die Sprache des Romans angelehnt ist, wird immer wieder unterbrochen, indem die Spieler:innen aus ihren Figuren aussteigen. Beispielsweise mutet die Sprache der Werther-Figur(en) ganz im Stil eines Sturm-und-Drang-Helden leidenschaftlich, emotional und temperamentvoll und dabei (aus heutiger Sicht) ein Stück weit gekünstelt an. In Momenten, in denen die Spieler:innen aussteigen, sprechen sie in ihrer je eigenen (Jugend-)Sprache über Werthers Verhalten, flapsig im Ton, aber durchaus auch kritisch, beispielsweise wenn die Objektifizierung von Lotte als „Liebesobjekt“ oder auch Werthers Verhalten als „mega übergriffig“ und als „toxisch“ bewertet werden. Diese Ebene ist klug eingebaut, da sie die Perspektive der Jugendlichen, deren Auseinandersetzung wie auch Haltung gegenüber dem Goethe'schen Werk ausdrücken. Auch dienen diese dazu, Stimmen der Spieler:innen zum Thema „Liebe“ hörbar werden zu lassen. Beispielsweise erzählen sie darüber, was Liebe für sie bedeutet oder sie geben einander Tipps gegen Liebeskummer. An diesen Stellen fließen biografische Versatzstücke in die Handlung ein und es wird ein expliziter Bezug zur Lebenswelt der Jugendlichen hergestellt. Am Ende setzen die Werther-Figuren ihrem Liebesleiden ein Ende, indem alle LOVE-Utensilien und die damit verbundenen Gefühle in einen Karton gepackt werden. Und während eine Werther-Figur sich in größter Emotionalität von Lotte verabschiedet und schließlich von der Bühne abgeht, schmettern die anderen in großer Emphase den Song Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden von Udo Jürgens.
Eine Liebe mit Leiden zwar, aber ohne Sterben am Ende. Die Inszenierung macht großen Spaß und kann als beispielhaft gelten hinsichtlich der Auseinandersetzung oder auch des Umgangs von Schüler:innen mit einem Klassiker. Durch die ironische Spielweise schlagen die Spieler:innen dem Sturm-und-Drang-Pathos ein Schnäppchen, führen dieses mit ihren Schlager-Referenzen, Liebessymboliken (Stichwort: Herzluftballons, Papierherzen…) und Zwischenkommentaren zuweilen ad absurdum. Nur selten verlässt die Inszenierung diese ironische Ebene, was einerseits konsequent ist, zuweilen aber auch etwas redundant anmutet. Die Haltung der Schüler:innen gegenüber dem Herz-Schmerz-Werk wird deutlich herausgestellt, aber letztlich erfahre ich wenig darüber, was „Beziehung“, „Liebe“ oder auch „zu lieben“ in Zeiten von Social Media für Jugendliche wirklich bedeutet.


Inhaltsverzeichnis
Fokus 2024 - Leben
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Rostock im Studiengang Lehramt Theater, Studiengangsleiterin des Weiterbildungsmasters „Theater unterrichten“
Redaktionsleitung
Position