Fokus 2023 – Schultheater.Rollen

Nobody cares Oder: Spiele ich / spielt es eine Rolle, wenn / dass ich diesen Text schreibe?

»This business of ‘publish or perish’ has been a catastrophe. People write things which should never have been written and which should never be printed. Nobody’s interested. But for them to keep their jobs and get the proper promotion, they’ve got to do it. It demeans the whole of intellectual life.« Hannah Arendt

Diesen Text schreibe ich aus Gründen.

Diese scheinen mir signifikant mit meiner professionellen Rolle verbunden: Ich lehre und forsche als Theaterwissenschaftler an einer Universität, unterrichte dort u.a. in der Ausbildung von Lehrkräften im
Fach Darstellendes Spiel, bin seit einigen Jahren dem BVTS als wissenschaftlicher Begleiter des Festivals ‚Schultheater der Länder‘ verbunden, gebe – gemeinsam mit tollen Kollegen – die Fachzeitschrift Schultheater heraus und so weiter. Wenn man mich vor diesem Hintergrund zum Thema ‚Rolle‘ befragt und einen Text erwartet, geht man wohl davon aus, dass ich dazu etwas zu sagen habe. Oder man weiß, dass ich in anderen Texten schon einmal etwas dazu gesagt hatte2– und vertraut nun darauf, dass ich in der Lage bin, ohne allzu offensichtliches Selbstplagiat mir dieses Thema wieder neu, anders und mit besonderem Blick auf den Anlass – immerhin war das Schultheater der Länder 2023 in Trier mit dem Motto Schultheater.Rollen überschrieben – zu erschließen.

Verstehe ich diese grob skizzierten Umstände als Rollenzuschreibung, die eine spezifische Erwartungshaltung modelliert, sehe ich mich gewissermaßen unter Zugzwang gesetzt: So sollte mein Text bestenfalls einen Beleg für die kompetente Ausübung meiner professionellen Rolle liefern. Es liegt ganz bei mir, einen Teil dieser Zuschreibung (und den damit verbundenen Erwartungen, die ich spekulativ imaginieren muss => Rolle als Phantasma) zu erfüllen; mein eigenes aktives Handeln als denkender und schreibender Theaterwissenschaftler kann ich einigermaßen selbst beeinflussen und mit den mir gegebenen Möglichkeiten steuern.

Aber wenn dieser Text dann irgendwann auf Leser trifft, können (und werden) diese das von mir Geschriebene mehr oder weniger mögen, verständlich finden und für sich selbst produktiv machen. Und vielleicht(denn ich weiß nie, ob jemand diese Texte überhaupt liest, und wer sich dereinst in einen Leser verwandeln wird) sind mit diesen Vorgängen Prozesse der Anerkennung verbunden, die mir attestieren, meine für mich vorgesehene Rolle angemessen ‚performt‘3 zu haben. Ergo: Als Theaterwissenschaftler zu einem lesbaren Autor geworden zu sein, dessen Sachkenntnis sich nachvollziehbar im rhetorischen Vorgehen, den angeführten Argumenten und Beispielen als
Text figuriert (=> Rolle und Figur). Allerdings sind diese Anerkennungsprozesse für mich weitgehend unzugänglich, weil sie nicht simultan, also unmittelbar an den Schreibvorgang gebunden, sondern sukzessiv im Nachgang erfolgen. Und vielleicht gilt ja tatsächlich das Arendtsche Diktum des nobody’s interested…

Wenn ich diesen grob skizzierten Mechanismus funktional bedienen will, muss ich so etwas wie Rollenaneignung betreiben. Diese berücksichtigt beide oben umschriebenen Facetten und muss ein potentiell vorhandenes Desinteresse Anderer zunächst ausblenden: Damit das eigenständige Handeln auf Grundlage der mit der Professionsrolle verbundenen Wissensbeständen und den damit zusammenhängenden Artikulationsformen – es heißt ja, dass man als Wissenschaftler Texte schreibt und auf bereits geschriebene Texte reagiert etc. – einigermaßen motiviert ist, bin ich zur Rollenarbeit genötigt.

Der damit verbundene Aufwand unterscheidet sich vom Schreiben an sich; jenes wäre schon Arbeit genug, aber als Theaterwissenschaftler eben diesen Text zu schreiben bedeutet, in einer bestimmten Rolle für diese Rolle schreiben zu müssen: In dieser gestaltet sich die Annäherung an ein Schreiben anders als ein vermeintlich freies Fabulieren einer alternativen Fassung bzw. einer anderen Rolle von mir. Im Herausfinden anderer Optionen, auf die man manchmal mehr Lust haben kann, steckt ein Hinweis darauf, dass erst die Arbeit an einer Rolle die Grundlagen für das Rollenspiel schafft. Dessen Ausdrucksvermögen und potentielle Bedeutungshaftigkeit sind maßgeblich von dem vorhandenen Wissen um alternative Strategien der Expression abhängig. In diesem Spiel kann erkundet werden, worin der Kern der eigenen Rolle liegt bzw. wie sich die Ränder, Lücken und Leerstellen der
durch die Rolle vorgegebenen Eigenschaften gestalten. Im besten Fall zeigen sich diese in der Interaktion mit den Mitspielenden, die ebenfalls in ihren Rollen auf meine Angebote reagieren und
schlussendlich mit mir zusammen einen Bereich des Gemeinsamen als Spielwirklichkeit schaffen.

Übertragen auf die Rezeption dieses Textes ließe sich diese gemeinsame Spielwirklichkeit als Diskursraum beschreiben, in dem Einwände, Nachfragen, Kritik etc. als rezeptive und reaktive Gesten Anderer (in ihren jeweiligen Rollen und mit der damit zusammenhängenden Perspektiven) aufkommen könnten, auf die ich (in meiner Rolle als theaterwissenschaftlicher Autor) wiederum reagieren
müsste. In dieser dialogischen Verschränkung – ich schreibe einen Text, eine Person reagiert darauf mit einer Anmerkung und lädt mich dazu ein, diese Anmerkung zu verarbeiten usw. – entsteht dann am Ende potentiell ein Diskurs.4 Freilich nimmt in der Wissenschaft bzw. ihren Strategien der Kommunikation diese Bezugnahme viel Zeit in Anspruch und ist eigenen (Spiel-)Regeln unterworfen; man könnte Dialog, Debatte und Diskurs unterscheiden, wobei in dieser Triade eine immer höher wertige, weil komplexere Form des Austausches von zunächst individuellen, dann immer allgemeingültiger werdenden Sichtweisen zum Ausdruck kommt.5

Dieser Umstand ließe sich wiederum in die Proben für die Gestaltung einer Rolle rückübersetzen: Die zu findenden Sprach- und Sprechhandlungen einer Theater-Rolle werden im Prozess des Einstudierens als Steigerung der Verbindlichkeit angenommen: Von der Leseprobe, wo die Rolle auf Stichworte hin aktiviert wird und in Dialoge einsteigt, über erste Annäherungen an Verkörperungen, die in Proben entwickelt und debattiert wird, bis hin zur in den Aufführungen erfolgenden szenischen Verlautbarung als Figur, die Angebote für einen Diskurs macht, weil das, was sich auf Basis einer Rolle in der Figur (re-)präsentiert
substantiell auf Referenzen und Kontexte bezieht und immer wieder neu verstanden werden will.

Da sich jedoch mein Schreiben zunächst ohne Andere gestaltet (diejenigen, die dazu eingeladen werden, meinen Text spielerisch zu erschließen, kommen ja erst nach Fertigstellung, Editierung und Veröffentlichung dazu, von mir bleibt dann nur noch dieser Text übrig), muss ich, um an die Ränder dessen, was meine Rolle mir vorgibt, zu gelangen, mein Schreiben spielerisch gestalten.

Ich könnte also mein Statement zum Aufenthalt in Trier beim SDL alternativ im Modus …

der Belletristik, (…als er nach einer nicht enden wollenden Zugfahrt erschöpft im Garten des Stadttheaters saß, fiel ihm eine Gruppe Kinder auf, die sich um einen kostümierten Musikanten scharte. …) des Sachberichts, (…das Schultheater der Länder ist das größte Schultheaterfestival in Europa. Es fand in diesem Jahr unter dem Motto Schultheater.Rollen im Rheinland-Pfälzischen Trier statt. …) als
Gebrauchsanweisung, (…wenn Sie zum Eröffnungsformat dieser Veranstaltung gehen, rechnen Sie immer damit, dass dieses immer länger als im Programm angegeben dauert. Um eventuellen Hungerattacken
vorzubeugen, empfiehlt sich das Mitführen von Müsliriegeln, Traubenzucker o.ä. …)als Gedicht in Hexametern, (…nach Trier, zum lieblichen Fest, war gekommen, es spielten und zeigten Szene um
Szene, in Hallen und Sälen, auf Stelzen und Schuhen, …) als Reportage, (…Elvis ist nicht tot. Hamlet geistert durch die Flure. Die echte Greta Thunberg lebt und wird szenisch zur Witzfigur. Viele Chöre toben sich aus. Auf der Bühne entweder als Ekstase der Form oder als musikalisch gerahmtes Abschluss-Wimmelbild der guten Laune, im Publikum als Klatsch-Ritual des Einverstanden-Seins. Julius Caesar ein Tyrann? Nobody cares… Menschen reden uns an und aneinander vorbei. Meistens
jedenfalls…) per konkreter Poesie, (…Sch Sch Sch Schu Lth Lth Lth E! A! tatatatatatata TAT ER?…)
als Manifest, (…Theater ist eine der kompliziertesten Angelegenheiten, die Menschen sich freiwillig antun. Denn: Sie bereiten sich Probleme, die sie persönlich nicht notwendigerweise haben müssen. Theater machen, heißt Lust auf Probleme haben. Ohne Probleme, die sich mitteilen, ohne Krisen, die man spielend erlebt, keine Spannung, keine Szene. Wer schnelle Anerkennung im Sinne der Egozentrik des „Ich möchte maximale Zustimmung“ will, darf gern Influencer werden. Diese haben aber auf der Szene nichts verloren. Sie sind als Phänomen zu flach, um im Theater Probleme verhandeln zu können. …)
… schildern, um damit nicht nur alternative Entwürfe von mir als Schreibender (=> Rolle als
Alternative) sondern auch des zu Beschreibenden und dessen Repräsentation zu generieren. Nicht ganz auszublenden ist dabei das Korsett (=> Rolle als Konstrukt) meiner professionellen Rolle und deren Kontext – z.B. meine theaterwissenschaftlichen Kollegen, denen Meinung mir nicht ganz egal sein sollte (zumal ich von jenen auch eine Legitimation als ernstzunehmender Theaterwissenschaftler erhalte).

So benötige ich einen Gegenstand, aus dem ich – ganz im Sinne meiner mir unterstellten Profession – ein spezifisches Erkenntnisinteresse ziehen kann, das sich beispielsweise als Frage äußert, auf deren vorläufige Beantwortung die Konzentration des Denkens / Schreibens gerichtet ist. Dazu suche ich Material, Verweise, Belege und ringe nach Worten, die mein Anliegen hinreichend repräsentieren. Ich muss gleichzeitig (quasi im permanenten Modus der Autokorrektur) darüber nachdenken, ob dieser
Gegenstand (und meine daran gekoppelten Aktivitäten, die kein Selbstzweck sind und selbstbezogen sein dürfen, sondern dialogisch als Angebot zur diskursiven Auseinandersetzung im Spiel der Lektüre
formuliert sein sollten) für diejenigen, die diesen Text potentiell lesen, zugänglich, relevant und stimulierend ist. Denn erst damit verbinde ich mein Handeln mit anderen Anliegen und kopple mein Denken der Rolle mit gesellschaftlichen / politischen Dimensionen (=> Rolle und Gesellschaft).

Ist das bis hierhin soweit nachvollziehbar?

Weil ein Text an sich keine Figur hervorbringt, sondern diese erst gemacht werden muss, kommen Sie nun ins Spiel (und dieses Spiel kennen Sie sehr gut, wenn Sie Lehrer sind.6

Ich habe ich ein paar weiterführende Fragen an Sie:

Können Sie mit der von mir vorgenommenen Systematisierung eines
differenzierten Umgangs mit der ‚Rolle‘, ihrer Voraussetzungen und
Begrenzungen etwas anfangen? Ist Ihnen der Unterschied zwischen Rolle
und Figur klar?

Welche Aspekte der Rollenaneignung und Rollenarbeit lassen sich vom
Schreibtisch des Autors dieses Textes in Ihren Probenraum transferieren?
Schildern Sie die Eigenheiten dieser Übertragung!

Welche von mir geschilderten Dimensionen der Rollenzuschreibung werden bei
Darsteller eines Theaters in Schulen wirksam – welche nicht? Geben Sie Beispiele!

Unterscheiden sich diese Dimensionen, wenn man diese auf die Spielleitung überträgt? Was wissen Sie als Theaterlehrer in dieser Rolle über die erfolgenden Zuschreibungen an Sie? Können Sie diese überhaupt klar formulieren?

Können Sie konkrete Phantasien für die Kostümierung, den körperliche Grundtonus, des mimischen und gestischen Repertoires für die von mir kurz angeschnittenen alternativen Textsorten entwickeln? Wie kommen Sie zu Ihren diesbezüglichen Phantasien?

Wie stehen Sie zur theatralen Nachahmung von Phänomenen aus dem Internet? Lassen sich Personifikationen aus dem digitalen Raum (z.B. ein Influencer oder Greta Thunberg7) in das Verhältnis Rolle–Figur bringen?

Ich schreibe diesen Text aus Gründen.

Die qualitative Weiterentwicklung eines zeitgenössischen Theaters an Schulen, das signifikant durch Schüler und ihre Positionierung zur Welt und ihren Wirklichkeiten geprägt sein sollte, ist mir ein
zentrales Anliegen. Dabei begreife ich Theater als ein Mittel, um Einsichten über mir nicht unbedingt zugänglichen Lebensbereichen und Denkmustern (der involvierten Schüler) zu gewinnen. Mir ist klar, dass dazu ein Prozess gehört, in dem Erwachsene nötig sind, die Ermunterungen aussprechen müssen. Allerdings muss jenen bewusst sein, dass es nicht hinreicht, lediglich Ermunterungen zu adressieren; im Sinne eines emanzipatorischen (und damit bildungstheoretisch relevanten)
Ansatzes geht es um Ermutigungen, die die erwachsene Position kritisch berücksichtigen bzw. die erwachsene Person selbst kritisieren können / müssen.8

In diesem Zusammenhang erlaube ich mir noch ein paar Bonusfragen, die sich einerseits an bestimmten Setzungen des SDLs abarbeiten und andererseits Anregungen für einen Transfer in eigene Praktiken bieten sollen, die das Ziel der intellektuellen Emanzipation verfolgen:

„Wer spielt welche Rolle und wozu? Wie füllt man eine Rolle? Um unsere Gesellschaft zukunftsfest zu machen, braucht es reflektierte und rollenerprobte Menschen. Menschen, die das Licht der Öffentlichkeit
nicht scheuen und sich lautstark für eine weltoffene, solidarische und nachhaltige Gesellschaft einsetzen. Das SDL*23 zeigt, dass Schultheater ein Raum der kulturellen und sozialen Bildung ist – mit dem Anspruch, selbst Dinge ins Rollen zu bringen und Gesellschaft zu bewegen.“

Dieses Zitat stammt aus dem Vorwort zum Programmheft des SDL 2023 in Trier und ist von Malu Dreyer, der Ministerpräsidentin des Gastgeberbundeslands Rheinland-Pfalz. Wissen Sie, was der Begriff ‚zukunftsfest‘9 bedeutet?

Was erzählt der Vorgang, dass die Ministerpräsidentin des Ausrichterbundeslandes von einem Kind zu Werbezwecken gedoubelt wird?10

Worin bestehen genau die Qualitäten eines ‚rollenerprobt‘-Seins?

Warum werden junge Menschen in diesem Zusammenhang dazu ermutigt, sich lautstark für eine Gesellschaft mit progressiven Eigenschaften einzusetzen, um, wenn sie dies tatsächlich mit ihren Mitteln tun, stigmatisiert, kriminalisiert oder gar (bspw. in Bayern) inhaftiert zu
werden?11

Wie steht es um die politische Lobby12 für die Anliegen der Heranwachsenden? Besteht nicht ein gravierendes Missverhältnis zwischen den Ansprüchen der Erwachsenen und den Erwartungen an die Jugend bzw. der Jugend selbst? Immerhin projiziert hier eine Erwachsene in einer exponierten Position, in der Rolle einer Ministerpräsidentin, so etwas wie einen gesellschaftlichen Fortschrittswunsch an den Umstand, sich in der Adoleszenz möglichst reflektiert viele Rollen anzueignen – aber wozu denn eigentlich?

Welche Rolle kommt Kindern und Jugendlichen in der Politik, dem politischen Diskurs und gegenüber den politischen Akteuren (die man als boomer bzw. best ager bezeichnen könnte) denn überhaupt zu?

Besteht ein Zusammenhang zwischen den Erfahrungen des Ausgeschlossenseins von demokratischen Prozessen und gesellschaftlicher Teilhabe und der Zuneigung von immer mehr Jugendlichen an Formen regressiver Politik (wie es die Autoritarismus-Studie von 2020 aufgezeigt hat13– und sich im überproportionalen Anstieg der Erstwähler-Stimmen von rechtsextremen Parteien bei den letzten Landtagswahlen manifestiert)? Wird sich damit perspektivisch die empfundene Krise der Demokratie weiter verschärfen (was niemand wollen kann, der irgendwie ‚zukunftsfest‘ sein will)?

Hat das vielleicht etwas mit dem von mir geschilderten Verhältnis von Dialog, Debatte und Diskurs zu tun? Bzw. mit der vorgesehenen Rollenaufteilung von Experten (= Diskurs)14 und Anderen, die davon ausgeschlossen werden?

Und weil der schöne (und hier kostenlose) Bildungsbegriff in dem Grußwort auftaucht: Wieso scheint das Feld der Bildungspolitik und der damit zusammenhängenden Arbeit, die man planerisch, konzeptionell und in Anpassung an die exorbitant veränderten Bedingungen der diversifizierten Lebenswelten investieren müsste, mittlerweile so vernachlässigt, dass Wahlen damit nur verloren gehen können?

Lohnt sich vor diesem Hintergrund für die Schüler überhaupt noch ein Engagement – v.a. wenn ihnen Gesellschaft und Politik so offenkundig oft die kalte Schulter oder wahlweise den gestreckten Mittelfinger zeigen? Und wieso sieht man keine Gegenreaktion in den Produktionen des Festivals, vor allem, wenn Theater und dessen Praktiken als genuin politisch verstanden werden könnten?

Macht es vor diesem Hintergrund Sinn, sich auf Basis einer (von anderen bereits definierten) Rolle zu exponieren?

Und (weil es in einigen Produktionen auf dem SDL zu sehen war): Worin liegt der Reiz, Heranwachsende als konsumorientierte Minderleister am Rande des Debilität zu zeigen? Werden so nicht viel mehr die (Rollen-) Muster der Ausgrenzung reproduziert, wo die Doofen doof bleiben, die Engagierten zur Zielscheibe von Hohn und Spott werden und die Armen als erkennbares Zeichen ihrer mehrschichtigen Bedürftigkeit eine Plastiktüte in die Hand gedrückt bekommen und mit Proll-Akzent sprechen? Wieso
wiederholen sich die Defizite der Repräsentation von tatsächlich vorhandenen sozialem Elend, von dem auch das zeitgenössische Theatertheater gekennzeichnet ist, auch wenn es sich gern die ‚soziale Frage‘ oder Klassismus in die Motti seiner Spielzeiten setzt?

Wird im Gegensatz dazu der Chor zum Inbegriff der Funktionalität – und damit der neoliberalen Ideologie, deren eigentlicher Betrug es ist, zwar Individualität zu feiern, diese jedoch an ökonomische Potenz zu koppeln?

Würden Sie meiner These zustimmen, dass es in den Praktiken des Theaters an Schulen gar nicht zentral um Rollenarbeit gehen kann, weil eine chorische Formation der Schüler ökonomischer ist? Reproduziert sich im Chor der Kapitalismus als neoliberales Mindset (mit allen seinen Ambivalenzen)?

Müsste man das nicht kritisieren?

Wieso habe ich kaum eine Aufführung auf dem SDL gesehen, welche unmittelbar aus dem Krisenherd Schule einen lebensweltlichen Fokus auf dysfunktionale Schultoiletten, permanenten Unterrichtsausfall,
Gewalterfahrungen, Ausgrenzung oder mangelnden Ressourcen für individuelle Begabungen und Potentiale legt? Ist das Theater an Schulen, wenn es sich generell mit dem Elend der Welt befasst, auch in die Falle der moralischen Überfrachtung gegangen, wo institutionalisierte Theaterformen schon längst sitzen – v.a. wenn es als Blaupause für ‚kulturelle und soziale Bildung‘ herangezogen wird?

In diesem Sinne plädiere ich abschließend dafür, den schulischen Raum viel signifikanter als kulturell und sozial zu erschließenden Kontext zu befragen: So wird uns allen (v.a. uns Erwachsenen) vielleicht klarer,
welche ROLLEN jenseits der (normativen) Schüler-Rolle für die jungen Menschen überhaupt zur Verfügung stehen. Bei diesen Recherchen und Aushandlungen kann Theater (entweder als Idee oder Repertoire an Praktiken) hilfreich sein, so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit zu organisieren, in denen Nicht-Gesagtes eine Stimme, Nicht-Wahrgenommenes einen Körper bekommt und Nicht-Gewusstes erkennbar wird.

Dozent für angewandte Theater- und Medienwissenschaft Institut für Theater- und Medienwissenschaft Lehrstuhl für Theaterwissenschaft https://www.theater-medien.phil.fau.de/person/andre-studt/

andre.studt@fau.de