Nachdenken über Rolle(n): Lasst mich den Löwen auch spielen

Das Fokus-Thema des SDL 2023 lautete: Schultheater.Rollen. Diese Themensetzung mag auf den ersten Blick irritieren. Rolle? Was genau ist damit gemeint? A spielt B, während C zuschaut – lautet hier eine gängige tradierte Definition von (Literatur-)Theater. Der Rollen-Begriff bezeichnet in diesem Fall den „Handlungs- und Sprechanteil einer Figur in einem Drama“ (Weilert/Roselt 2017: 174). Der:die Schauspieler:in spielt also eine Rolle, was zugleich auch einen Prozess der Verwandlung oder auch Verkörperung fasst, die Darstellung von “Ich als jemand Anderes” (vgl. Hentschel 2004). Daran anknüpfend kann auch der Wunsch nach “eine Rolle spielen (wollen)” verstanden werden, dem im Kontext von Schultheater eine große Bedeutung zukommt. André Studt spricht im Themenheft “Rolle” der Zeitschrift Schultheater in diesem Zusammenhang von “Rolle als Distanzmedium” (Studt 2013: 6) und weiter: von Theaterarbeit als Such- bzw. Pendelbewegung “zwischen sich selbst und einer imaginierten Figur – und damit zwischen Realität und Fiktion, zwischen Abstraktem und Konkretem” (ebd.) Dies schließt auch jene Theaterformen ein, die mehr mit Formen des Selbstausdrucks spielen. Auch hier stehen die Darstellenden nie als sie selbst auf der Bühne.

Im Sinne eines je eigenen Zugriffs auf das Festival-Thema zeigen auch die  eingeladenen Produktionen eine solche Suchbewegung: verhandelt wurden soziale Rollen und damit einhergehende eigene und fremde Erwartungen, das Aufwachsen junger Menschen in unserer komplexen, von Krisen gezeichneten Gesellschaft, die Rollen von Jugend in Schule, Freizeit und sozialen Medien. In eigenen Texten positionierten sich die Gruppen zu globalen, politischen, aber auch zu sehr persönlichen Themen unserer
Zeit, zu Rassismus, Sexismus, Gender, Transkulturalität und Klimakrise. Auch nutzten sie Vorlagen wie klassische Dramen, Kurzgeschichten und postdramatische Textflächen, untersuchten diese auf inhärente
Rollenklischees, adaptierten und kommentierten, brachen und überspitzten sie. Es gab Sprechtheater mit eindrücklichen Kostümen und Szenographien, Tanz‑, Bewegungs- und Sprechchöre, Musik und Gesang vom Band und von Bands. Die Schüler:innen waren in unterschiedlichen Rollen auf der Bühne zu sehen oder anders formuliert: sie haben Rollen verkörpert und sind darüber hinausgegangen, indem sie als
Performer:innen in Erscheinung getreten und damit anderen Konstruktionsprinzipien gefolgt sind: Hierzu gehört unter anderem das zeigen, also A spielt nicht mehr B, sondern zeigt sich als A – im Sinne einer Selbstinszenierung – oder auch indem Erwartungen an die Repräsentation einer Figur (auf-)gebrochen wurden. Dabei war vielen der eingeladenen Stücke eine Suche und ein Ringen um/nach Haltung anzumerken in dem Sinne, dass sich die Spieler:innen zum Thema Rolle verhalten und sie sich dabei zur Diskussion gestellt haben. So waren Haltungen von Figuren auf der Bühne zu sehen, oder die Haltung der Spieler:innen gegenüber ihren Figuren/Rollen. Und vielleicht wurde sich ein Stück weit
auch der Erwartungshaltung an Jugend/theater verweigert, gesellschaftspolitische Themen (kritisch) zu verhandeln und dabei eine “klare Haltung” zu beziehen.

Wohlwissend, dass eine Inszenierung unterschiedliche Lesarten hervorbringt, so sind auch die nachfolgenden Rezensionen stets als je eigene, individuelle Perspektiven zu verstehen. Ebenso ist auch die Strukturierung, die wir hinsichtlich des Festival-Themas vorgenommen haben, das Ergebnis unserer je eigenen Lesart der Stücke – ganz im Sinne eines kontingenten Denkens al la Niklas Luhmann: alles ist auch anders möglich.