von Ina Driemel, Lukas Günther, Michael Aust
Wer Gesellschaft sagt, denkt oft an Gruppen und damit gleichzeitig in Systemen von Über- und Unterlegenheit. Interessant, dass drei Produktionen Herrscherfiguren in den Mittelpunkt rückten. Dabei wurden die Rollenbilder zum Teil aus Recherche gewonnen, wie in Julius Caesar Overkill, oder aus literarischen Werken herausdestilliert, wie in Sein oder Nichtsein (nach Hamlet von Shakespeare) oder Hamletmaschine (von Heiner Müller).
Julius Caesar Overkill, eine Eigenproduktion nach Shakespeares The Tragedy of Julius Caesar des Grundkurses Darstellendes Spiel vom Beruflichen Gymnasium am Beruflichen Schulzentrum für Elektrotechnik Dresden aus Sachsen, ist eine fiktive theatrale Influencershow von Milan und Lukas, in die Julius Caesar als Stargast eingeladen ist. Damit er dort lebendig auftreten kann, befreit sich Caesar zunächst aus einem silberfarbenen Leichensack, in dem er anfangs hereingetragen wurde und am Ende hinausbefördert wird. Dann wird die Show durch das Auftreten der beiden Protagonisten in prolliger Ausstattung und unterstützt von einer überdimensionalen Hintergrundprojektion aus der Live-Kamera installiert.
Ganz dem gewählten Format entsprechend interessieren Caesars kulturelle und militärische Leistungen als Herrscher eigentlich nicht. Darüber kann Caesar vor allem sprechen, wenn in den Werbeunterbrechungen die Show pausiert. Die Show interessiert sich mehr für emotionale Momente aus Caesars Biografie und gibt den Unglück verheißenden Träumen von Caesars Gattin Calpurnia, den Unzufriedenheiten der zum Aufstand bereiten Bevölkerung oder dem Mord an Caesar oder seinem Unruhe auslösenden Tod breiteren Raum. Die Verzahnung dieser teilweise szenisch gespielten, teilweise choreographierten Teile mit der Online-Show bleibt eher undurchsichtig. Könnte man Calpurnias Videotraumtagebuch, ebenfalls zugleich als Livevideoprojektion, als eine Art eingespieltem Beitrag zur Show verstehen, so sind die Artikulationen des Volkes in einfachen Choreographien ohne Kameraeinsatz situativ nicht klar zu verankern.
Die Emotionalisierung, wie sie in der gespielten Angst von Calpurnia zum Tragen kommt, oder die Dominanz der Influencer, die sich ins Bild drängen und nach jeder Aktion den messbaren Erfolg ihrer Produktion erfragen, oder die Mächtigkeit der Chorgruppe (Volk) mit ihrer großen Zahl an Spieler:innen und Statements stehen im Vordergrund. Sie drängen die Titelfigur, die sich als nicht medienkompatibel erweist auch inhaltlich an den Rand. Julius Caesar bleiben einige private Momente zum Selbstlob und einige kürzere Szenen mit seiner Gattin, die eine nur wenig harmonische Beziehung abbilden.
Zur Auseinandersetzung mit einer Herrscherrolle und der damit verbundenen Macht ist nach diesem Stück festzuhalten, dass hier zwar eine historische Herrscherfigur im Mittelpunkt steht, die wahre Herrschaft haben aber Influencer mit ihren medialen Möglichkeiten übernommen. Sie richten den Fokus mehr auf das Emotionale und Private, da es mehr messbare Zuschauerresonanz verspricht, als die Person und ihre kulturellen und militärischen Verdienste. Insofern hat diese Inszenierung einen eindeutig medienkritischen Ansatz, der aber nicht weiter thematisiert wird.
Auf andere Weise Vergleichbares lässt sich für das Stück Sein oder Nichtsein – Wer lieben will, muss sterben können der Theater-AG Mittel- und Oberstufe des Gymnasiums Bammental (Baden-Württemberg) feststellen. Die beiden Spieler und vier Spielerinnen lassen schon in einem Prolog erklären, dass sie sich in ihrer Aufführung ganz auf das Verhältnis von Ophelia und Hamlet konzentrieren wollen. Um aber einem gewissen Bildungsbewusstsein genüge zu leisten, präsentieren sie zunächst in einer humorvollen Folge aus Standbildern die Kernpunkte der Handlung aus Shakespeares Vorlage.
Dann aber wendet sich das Spiel ganz den Entwicklungen der Beziehungen zwischen Hamlet und Ophelia zu. Eine vervierfachte Ophelia steht einem verdoppelten Hamlet gegenüber. Die Beziehung entwickelt sich nach einer scheinbaren Verliebtheitsphase in eine (neudeutsch gesprochen) toxische Beziehung. Hamlet drängt Ophelia in die Sexualität und sie wird schwanger. Das ist für ihn kein Grund, seine früheren (Treue-) Versprechen einzuhalten, sodass die Entwicklungen Ophelia in Verzweiflung und einen Selbstmordversuch stürzen.
In einem Spiel, das vor sich vor allem auf einem Arena-Quadrat aus Kunstrasen vor der Bühne abspielt, dienen Blumen, die in großer Menge in sechs Blecheimern stecken, als vieldeutiges Spielobjekt und als Material für emotionale Choreografien und Tänze. Verliebtheit drückt sich in frei herumgeworfenen Blumen aus. Wenn diese kurz darauf zusammengekehrt werden, ist die Nähe der beiden Liebenden schon fast wieder verloren. Verzweiflung führt zu einem wütenden Zerschlagen eines Straußes von Pflanzen. Auch die Eimer sind nicht nur Behälter für die Blumen, sondern Sitzgelegenheit und später mit Wasser gefüllt ein Symbol des Flusses, in den die Spielerinnen eintauchen, um ihre Selbstmordabsicht in die Tat umzusetzen. Die Inszenierung sucht nach großen Momenten. Langsam gedrehte filmische Projektionen ergänzen das Bühnenspiel und zeigen Ophelias Gang zum Fluss, ihr Hineinschreiten ins Wasser und wie sie später darin sich treiben lässt. Ein live zum Klavier performtes Liebeslied unterstreicht den Moment von Ophelias Verliebtheit.
Zwischendurch nehmen sich die weiblichen Protagonistinnen als auch ihre männlichen Gegenparts Zeit, mit ihren Partner:innen in der gleichen Rolle zu reflektieren und zu bewerten, was ihnen gerade widerfahren ist. Es ist eben nicht eindeutig, ob Hamlets Übergriff auf Ophelia eine Vergewaltigung oder ein Missverständnis war. Auch Hass aus Enttäuschung hat verschiedene Facetten und die Möglichkeiten, auf eine Schwangerschaft zu reagieren, sind offen.
Die Gruppe interessiert sich für den Herrscher nur in seinem männlichen Status als jugendliche Privatperson und nicht als Prinz von Dänemark in seiner politischen Funktion. Sein oder Nichtsein, lieben oder nicht lieben, morden oder nicht morden sind keine Frage von Macht, sondern von Beziehung, selbst dort, wo Macht erlitten wird. In Ophelia spiegeln sich dementsprechend jugendlich weibliche Rollenfragen. Wie steht es um den Ernst von Absichten, welche Interpretationen von Handlungsmustern sind möglich, ist der Selbstmord die einzige Lösung bei Verzweiflung?
Auch in dieser Produktion ist die soziale Machtposition der Titelfigur zurückgedrängt hinter Rollenfragen, die eher dem Privaten zugeordnet werden.
Vergleichbar verhält sich schon der Text von Heiner Müllers Hamletmaschine gegenüber der großen politischen Figur. Die Selbstdistanzierung der auftretenden Figuren in durchgehenden Ich bin … – Aussagen verdeutlicht schon in der sprachlichen Form, dass nicht die Welt und die Politik von Interesse ist, sondern die Wirkung der Welt auf den Einzelnen.
Während dieser literarische Zugriff auf den Stoff nach einer inneren Distanzierung des Schauspielers gegenüber der eigenen Rolle verlangt, präsentiert die Theater-AG TIG- Theater im Güterschuppen vom Gymnasium Ulricianum Aurich den Text immer mehr als Ausdruck großer Emotionen. Gibt es im ersten Teil der Inszenierung noch die Verfremdung und Distanzierung durch Darstellung der Figuren im Charaktermasken-Puppenspiel durch Vervielfachung oder Kontrastierung, gehen nach einer Zeit die Puppenmasken in feste Positionen und die Spielenden in immer neue Monologe der verschiedenen Figuren. Deren Präsentation besteht im Wesentlichen aus schwarzer Grundkostümierung, einem pathetischen und bedeutungsschwangeren Ton der Rede und dem Agieren mit Gazetüchern als Bühnenbild oder Kostümversatzteil. Die Darstellenden gefallen sich erkennbar im Herausstellen des von ihnen gesehenen emotionalen Gehalts. Die Rollen blähen sich zu Figuren mit höchstem emotionalem Ausdruck, der von den Abstraktionen im Kostümansatz bzw. Bühnenbild nicht gebrochen wird.
So (re-)präsentiert diese Aufführung des Stückes von Heiner Müller zunehmend eine Serie von Befindlichkeiten, die jede für sich eine hohe Autorität beanspruchen. Anstelle von Staatsraison oder Empathie haben zunehmend Emotionen die Herrschaft übernommen. So reiht sich diese Produktion in die schon in den anderen Beispielen beobachtete Tendenz ein, mehr das Private einer Herrscherfigur zu betonen, als das Staatstragende. Dieser Zugang entspricht zum einem der wohl überwiegend jugendlichen Zugangsweise auf Rollen und Figuren. Gleichzeitig spiegelt sich darin eine oft beschriebenen, manchmal beklagte, zunehmende Individualisierung der Gesellschaft.