Ina Driemel
Ich durfte in diesem Jahr zum ersten Mal als Essayistin das SDL begleiten. Bereits in den Jahren zuvor war ich als Teilnehmende dabei, d.h. ich habe mir Stücke angeschaut, an den Nachgesprächen teilgenommen oder auch an der Fachtagung bzw. den Fachtagungsforen. In seinem Buch I remember beschreibt Joe Brainard Erinnerungsmomente, die alle mit „I remember…“ beginnen. An dieser Stelle könnte ich jetzt eine Fülle an „I‑remember-Sätzen“ herunterschreiben, die das SDL als Live- und Gemeinschaftserlebnis fassen, als einen Ort für Austausch, Begegnung und Diskussion. Der digitale Festivalkosmos ermöglicht all dies auch, aber eben auf andere Art und Weise. Auch wenn es sicher lohnenswert wäre, sich mit dem Unterschied zwischen Live-Festival und Online-Festival genauer zu beschäftigen, möchte ich doch einem anderen Gedanken nachgehen, der von folgendem Erinnerungsmoment ausgeht: I remember… die Produktion @Tatto(o)Theater des Geschwister-Scholl-Gymnasiums läuft auf Instagram (und nur dort) und ich kann mich nicht anmelden. Mein Bildschirm blinkt und ich fühle mich abgehängt, nicht dran am Puls des digitalen Zeitalters – ja, ein Stück weit überfordert und auch herausgefordert.
An dieser Stelle muss ich gestehen, dass auch das Schreiben eines Textes zum diesjährigen SDL, das digital unter dem Motto #theater_digitalität stattgefunden hatte, in mehrfacher Hinsicht für mich eine Herausforderung darstellt: Erstens, weil ich eben nicht up-do-date bin, was auf den Social-Media-Kanälen „so abgeht“. Im Zusammenhang mit der Produktion @Tatto(o)Theater ist mir bewusst geworden, was es heißt, Mitglied der online-community zu sein – oder eben nicht – , schlichtweg um zu wissen, was dort auf Instagram, Telegram, TikTok … „abgeht“, welche Möglichkeiten diese bietet, Theater (online) zu machen. Auch wüsste ich, wäre ich ein solches Mitglied, darüber Bescheid, dass facebook inzwischen bei Jugendlichen „out“ ist.
Zweitens habe ich mich mit dem Thema „Digitalität“ auch theoretisch bisher noch wenig beschäftigt, also mit den Diskursen um eine postdigitale Gesellschaft oder auch darüber, wie das Verhältnis von Digitalität und Theater diskutiert wird. Mit Blick auf Letztgenanntes bieten die jüngsten Themenhefte der Zeitschrift Schultheater „theater:digitalität“ (vgl. Ausgabe Nr. 41/2020) oder der Zeitschrift für Theaterpädagogik „Theater und Digitalität“ (vgl. 37. Jg./Heft 78) eine gute Grundlage, um in den Diskurs einzusteigen. Auch der Band Netztheater. Positionen, Praxis und Produktionen versammelt Beiträge, in denen Praktiker*innen sowie Beobachter*innen des Theaters die neuesten Tendenzen, Arbeitsweisen und wegweisende (Netztheater-)Produktionen vorstellen. Und nicht zuletzt fühle ich mich auch auf praktischer Ebene herausgefordert, wenn es darum geht, Theaterprojekte zu planen und durchzuführen, in denen Smartphones & Co. zum Einsatz kommen, die Schüler*innen Apps entwickeln oder (online) Spielformate aufgreifen.
Ein kurzer Streifzug durch die oben genannte Lektüre genügt, um sich darüber klar zu werden, dass Digitalität mehr fasst als lediglich eine technologische Seite; vielmehr ist eine Kultur der Digitalität gemeint, das Einschreiben des Digitalen in Alltagspraktiken. Es geht also darum, ein Theater zu denken, dass unterschiedliche Aspekte von Digitialität aufgreift. Benjamin Jörissen fasst hierunter z.B. die Orientierung an postdigitalen Jugendkulturen, benennt aber auch Veränderungen der Gegenstandsbereiche in den Feldern der kulturellen Bildung, bedingt durch Veränderungen in den Künsten selbst (vgl. Jörissen 2020: 6), wofür – bezogen auf das Theater – Formate wie Game Performances oder immersives Theater nur einige wenige Beispiele für Erscheinungsformen des sogenannten Netztheaters sind.
In meiner Lektüre des oben erwähnten Netztheater-Bandes bin ich auf einen Artikel von Irina-Simona Barca, Katja Grawinkel-Claassen und Kathrin Tiedemann gestoßen, der mit Theater der Digital Natives (2020: 15ff.) überschrieben ist. Dieser hat insofern mein Interesse geweckt, als mir die Begrifflichkeit der „Digital Natives“ im Rahmen meiner Forschung zu Konstruktionen von Jugend in der Theaterpädagogik begegnet ist, worauf ich später noch einmal zurückkomme. Zum Begriff der „Digital Natives“ schreiben die Autor*innen, dieser ziele weniger auf die Fähigkeiten oder individuellen Kompetenzen der Jugendlichen ab, sondern vielmehr beschreibe er eine bestimmte Art der Sozialisation. In diesem Sinne rücke mit der Begrifflichkeit „Theater der Digital Natives“ die Lebenswelt der praktizierenden Akteur*innen ins Zentrum; die Verwendung digitaler Technologien im Theater hingegen trete in den Hintergrund. Eine zentrale Beobachtung zum Theater der Digital Natives lautet dabei: Im Theater der Digital Natives „[begeben] sich Vertreter/innen unterschiedlicher Generationen […] in eine ergebnisoffene Auseinandersetzung über die Welt. Kinder und Jugendliche erleben sich nicht als User/innen, sondern als selbstbewusste Expert/innen, Mitgestalter/innen und Hacker/innen“ (Barca/Grawinkel-Claassen/Tiedemann 2020: 19).
Mit Blick auf das SDL findet sich diese Beobachtung durchaus bestätigt. Beispielhaft ist hierfür die Tatto(o)Theater-Produktion aus Rheinland-Pfalz. Im Nachgespräch war von Seiten des Spielleitungs-Duo Tanja Finnemann und Volker Weinzheimer zu hören, dass die Jugendlichen die story, die Charaktere der Spielfiguren usw. mehr oder weniger alleine erarbeitet hätten und sich damit die gängige Rollenverteilung von Spielleitung und Spieller*innen aufgelöst habe. Es sei ein Projekt der Jugendlichen gewesen, sie – als Spielleitung – hätten die Rollen von Dramaturg*innen übernommen. Für mich hat sich hier das Konzept von Jugendlichen als Expert*innen tatsächlich eingelöst, was insofern erfreulich ist, als nach meinem Eindruck der Expert*innenbegriff in den letzten Jahren zu einer leeren Worthülse verkommen ist.
Bei der Bezeichnung der „Digital Natives“ handelt es sich um einen Terminus, der in den letzten Jahren im Feuilleton, aber auch in der Wissenschaft breit kursiert. Dabei handelt es sich um eine Wortschöpfung des US-amerikanischen Autors Marc Prensky, der in seinem Essay aus dem Jahr 2001 die nach 1980 geborenen Jugendlichen und deren Umgang mit den neuen Medien unter dieser Bezeichnung fasst (PDF).
In einem Artikel in der FAZ beispielsweise werden die „Digital Natives“ wie folgt charakterisiert: „Sie sind ständig von digitalen Geräten umgeben und Meister des Multi-Tasking. Sie beziehen Nachrichten – ‚News‘ – vor allem aus dem Internet und spielen ‚Games‘, statt Bücher zu lesen. ‚Digital Natives‘ sind jener Bevölkerungsteil, der in eine digital vernetzte Informationswelt hineingeboren wurde und nicht mehr zwischen Cyberspace und ‚realer‘ Welt unterscheidet.“
Aber auch im Bereich der Jugendforschung spielt der Begriff eine Rolle. In der jüngsten Shell-Jugendstudie von 2019 wird er aufgegriffen, um, wie die Autor*innen schreiben, einen „charakteristischen Wesenszug der […] jungen Generation einfangen zu können“ (Leven/Utzmann 2019: 251).
Weitere Jugendstudien lassen sich finden, die darüber informieren, wie die junge Generation in Bezug auf das Digitale „so tickt“. Im Rahmen einer Studie von pwc wird beispielsweise das Bild einer Jugend entworfen, die technikaffin und immer online sei.
Auch wenn sich die Ergebnisse dieser Umfragen in ihrer Beschreibung differenziert darstellen, zielt die empirische Jugendforschung auf Verallgemeinerungen und Typisierungen, die – unterstützt durch die Medien – auch gesellschaftlich kursieren. Die Wissenschaft wirkt zentral an der Beschreibung von Jugendbildern in der Gesellschaft mit, wie insbesondere die regelmäßig erscheinende Shell-Jugendstudie. Mit Blick auf das Konstrukt der Digital Natives ist dann davon auszugehen, dass auch die Theaterpädagogik davon Notiz nimmt, woran sich die Frage knüpft: Wie wird mit dieser (Generations)Typisierung und den damit einhergehenden Zuschreibungen im Theater gearbeitet?
Im Sinne einer Suchbewegung versuche ich dieser Frage im Folgenden anhand von Produktionen nachzugehen, die beim SDL eingeladen waren. Dabei habe ich solche Produktionen gewählt, die Anlass bieten, in diesen Denkprozess einzusteigen. Mir geht es um die Diskussion und Reflexion, nicht darum, die Produktionen in irgendeiner Weise zu bewerten.
Die Produktion beginnt damit, dass die Jugendlichen zunächst auf witzige Art und Weise ihren Homeschooling-Alltag und die damit verbundenen (technischen) Herausforderungen (Stichwort: ist mein Mikro schon an?) zeigen. Im Folgenden haben Instagram und weitere Apps ihren Auftritt, es wird gewissermaßen social media (nach)gespielt: Eine Schülerin tritt ins Bild. Sie trägt einen schwarzen Pullover, auf dem das Instagram Logo abgedruckt ist. Sie spricht folgenden Text: „Schau dir die neuen Storys an, like die Bilder, mach eine Story, das könnte dir gefallen, deine Freunde wollen ein Kommentar sehen…“. Dann hat die Werbung ihren Auftritt, die 20 % Rabatt bei About you (Internethändler für Bekleidung) verkündet. Es folgen Snapchat und TikTok mit einer Lippensynchron-Impro. Twitter berichtet, wer alles getwittert hat (u.a. Prinz Charles). Den letzten Auftritt hat das Netzwerk facebook, das in der Figur der Oma dargestellt wird. Zu sehen ist eine Spielerin, die in gebeugter Haltung und mit Krückstock ins Bild läuft (ein Stereotyp von hochaltrigen Menschen, das häufig im Theater mit Jugendlichen zu sehen ist und als solches kritisch zu hinterfragen wäre).
App-Figuren
Dann geht es um das Thema darknet. Eine Person mit verzerrter Stimme gibt eine Definition und ich sehe eine Schüler*in, die sich über darknet informiert, Fragen in die Suchmaschine eingibt.
Darknet
Weitere Definitionen dieser Art folgen, zum Begriff App, Influencerin und Chatfish. Ich verfolge einen Chatverlauf, in der jemand einen Hasskommentar postet und eine Challenge um likes, an deren Ende es still wird, da eine Person jemanden geblockt hat. Gezeigt wird ein Theater, das „aufklärt“ (u.a. über Internetkriminalität), problematisiert und ein Stück weit auch belehrt (wer sich nicht informiert, ist selbst schuld). Dabei sind es die Spieler*innen selbst, die mich aufklären, d.h. über die Tücken des Internets erzählen, die ihr Wissen über social media präsentieren. Die Szenen vermitteln den Eindruck, dass hier Jugendliche auf der (virtuellen) Bühne stehen, die in Sachen Internet aufgeklärt sind, die sich informiert und recherchiert haben, ja die medienkompetent sind. Von einem ähnlichen, aufklärerischen Duktus zeugt auch die Sequenz, in der es um Tipps zum Abnehmen geht, die auf Instagram zu finden sind. Wer diese ausprobiert, ist selbst schuld bzw. wird dann einfach kurz ohnmächtig, weil Schluffi-Schlank-Pillen dann doch diverse Nebenwirkungen haben. Die Message lautet: Glaubt nicht alles, was im Internet steht.
In seinen Erläuterungen zu einer zeitgenössischen Form politischen Theaters spricht Patrick Primavesi im Verweis auf überholte Konzeptionen des Politischen – gemeint ist das politische Theater der 70er-Jahre, bei dem das Aufarbeiten politischer Themen oder die Proklamation ideologischer Botschaften im Fokus stand – von einer Entmündigung des Publikums. Er erteilt einem (politisch) belehrenden Aufklärungstheater eine Absage, rät zur Einsicht in die „Wirkungslosigkeit der Proklamation guter Meinungen und aufklärend-kritischer Gedanken“ (Primavesi 2011: 47). Ähnliches findet sich auch bei Hans Thies Lehmann, der zur „Vermeidung der moralistischen Falle“ rät, die an eine „spontane gemeinsame Reaktion“ auf der Grundlage „nur allzu scheinhafte[r] Gewissheiten der Unterscheidung zwischen Gut und Böse“ appelliert (Lehmann 2011: 37).
Warum dieser gedankliche Einschub an dieser Stelle? Die Kritik am sog. Aufklärungstheater ist insofern interessant, als sie den Blick öffnet dafür, wer wen „aufklärt“ bzw. wem was präsentiert wird – vor allem aber: wie.
Die Inszenierung APPSOLUTELY setzt sich aus einer Reihe von (Kurz-)Vorträgen zusammen. Die Schüler*innen treten ins Bild und dabei in erster Linie als Schüler*innen in Erscheinung, die einen Vortrag halten. Das Recherchematerial wird hier im Stil eines (schulischen) Referats vorgetragen und lässt damit ein Stück weit das Potential ungenutzt, damit zu spielen. Mein Kritikpunkt ist nicht der, dass die Schüler*innen ihr Wissen über social media auf der Bühne vortragen. Vielmehr geht es mir um die Frage: Wie setzen sich die Jugendlichen in Szene? Ich sehe denn in erster Linie Schüler*innen, die ein Bild von sich als aufgeklärte Jugendliche auf der Bühne re-/präsentieren, wobei ich mich frage: welchem Bild – oder auch welchen Erwartungen – entsprechen sie, dem der Erwachsenen, Lehrenden oder anderer Jugendlicher?
Neben diesen „Aufklärungssequenzen“ gibt es auch Szenen, in denen die Jugendlichen mit Formen von Selbstinszenierung auf social media spielen und dabei Strategien der Verfremdung und Dekonstruktion verwenden. Zu sehen sind zwei Spieler*innen, die lässig auf einer Parkpark „abhängen“. Sie tragen blaue Perücken und sprechen folgenden Satz in die Kamera: „Schau mal Schatz, wenn du hübsch aussehen möchtest, dann musst du leider Photoshop benutzen“.
Es folgen Vorher-Nachher-Fotos, Photoshopsequenzen, die zeigen, wie der Körper bearbeitet wird, in diesem Fall schlanker gemacht wird. Dann spricht die Spielerin mit Perücke in die Kamera: „Ich meine, man muss ja irgendwie rausstechen, um eine Besonderheit zu sein.“ Daraufhin sehen wir die Spielerin, wie sie vorm Spiegel steht und ihre Lippen deutlich überzeichnet, bis das gesamte Gesicht mit rotem Lippenstift bedeckt ist. In dieser Szene führen die Spieler*innen Strategien der Selbstdarstellung auf social media vor, d.h. sie legen diese offen. Die Szene zielt weniger auf Aufklärung ab, da die Spieler*innen selbstreflexiv mit dem Bild der Star-Jugendlichen spielen. Dabei bedienen sie sich bestimmter Mittel, wie der Perücke, die den Eindruck der Künstlichkeit, des „Ge-fakten“ herausstellt. Auch wird hier das Bild von der „schönen jungen Frau“ durch das fehlerhafte Nachzeichnen der Lippenkontur dekonstruiert, zugleich die sexualisierte Darstellung des weiblichen Körpers offengelegt.
Photoshop
Dramaturgisch betrachtet schließt die Inszenierung mit einem positiven Bild: eine Jugend, die die Vor- und Nachteile von social Media kritisch reflektieren kann. Auch hier lässt sich die Frage nach Fremd- und Selbstbild stellen, die – dies möchte ich betonen – nicht auf Kritik abzielt, sondern vielmehr zum kritischen Nachdenken anregen soll: Was wollen wir (Erwachsene) von Jugendlichen auf der Bühne sehen? Diese Frage stellt sich nicht nur mit Blick auf einzelne Produktionen, sondern auch mit Blick auf das Festival selbst. Welches Bild von Jugend (im digitalen Zeitalter) wird im Rahmen eines solchen Festivals repräsentiert? Angesprochen sind die Vorstellungen und Zuschreibungen, die wir uns – als erwachsene Theaterschaffende, die mit Jugendlichen theaterpädagogisch arbeiten – von der „Jugend“ machen und mit denen wir „Jugend“ konstruieren. Was tragen wir an (Vor-)Annahmen von und über Jugendliche in uns und in die Welt des Theaters hinein? Was ist unser Bild von „Jugend“, welches Bild haben die Jugendlichen von sich (selbst)?
Die Hamburger Produktion hatte mit dem Goetheschen Faust-Stoff gearbeitet: Gretchen und Faust lernen sich – wie sollte es in Zeiten des Digitalen auch anders sein – auf einer Dating Plattform kennen. Wer eine solche Plattform schon einmal genutzt hat, weiß, wie diese zu benutzen ist und was dann auch auf der Bühne gezeigt wird: Foto anschauen, und dann wird entweder nach links gewischt oder wie im Fall von Gretchen und Faust nach rechts, sodass es „matched“. Nach einem kurzen Austausch via Chat (der auf die Leinwand projiziert wird) folgt ein Treffen via Videokonferenz, die dann aber live auf der Bühne dargestellt wird. Hierfür stellen sich die Jugendlichen buchstäblich ins Bild (Fenster) und legen dabei Praktiken der Selbstinszenierung auf social media offen. „Wir alle spielen Theater“ – mit diesem Buch hat der Soziologe Erving Goffman den Blick auf Formen alltäglicher Selbstdarstellung gelenkt. Im Zusammenhang mit Kommunikation spielt Selbstinszenierung eine Rolle, die es – um nicht als Selbstdarsteller geoutet zu werden – möglichst zu verbergen gilt. Während mir bei der Begegnung mit anderen in der analogen Welt in erster Linie der Körper (Mimik, Gestik, Kleidung…) als Mittel der (Selbst-)Darstellung dient, bietet das Internet noch weitere Möglichkeiten, um mich meinem Gegenüber zu präsentieren. Genau diesen Aspekt greifen die Spieler*innen auf humorvolle Art und Weise auf, indem sie Selbstinszenierung im Videohintergrund zeigen (vorführen). Die Spieler*innen stehen in Vierer-Grüppchen rechts und links auf der Bühne. Während die vorderen zwei Spieler*innen Gretchen und Martha bzw. Faust und Mephisto darstellen, mimen die zwei hinteren Spieler*innen den Hintergrund oder vielmehr stellen sie das Bild nach. Zu sehen ist, wie Mephisto (der Faust in Liebessachen berät) die zwei anderen Spieler mit Büchern und Hanteln ausstattet. Martha (die wiederum Gretchen in Liebessachen berät) stellt die Spieler*innen mit Pflanze und BH ins Bild. Die Spieler*innen führen an dieser Stelle die Praktiken der Selbstinszenierung (#fakeinszenierung) auf social media auf der Bühne auf und vor. Zu sehen ist ein selbstreflexives Spiel der Jugendlichen mit medialer Selbstdarstellung (-optimierung).
Twitter und Selbstinszenierung im Videohintergrund
Das SDL setzt insofern ein Zeichen, als die Produktionen auf die Potenziale des Schultheaters verweisen, auf Momente gemeinsamer Reflexion und des Nachdenkens der Schüler*innen und Lehrer*innen über das Aufwachsen in der postdigitalen Welt. Das Festival selbst könnte m.E. noch stärker als Denkraum genutzt werden: als gemeinsames Nachdenken und Reflektieren darüber, in welche Diskurse und Bilder von und über Jugend sich das Theater einschreibt, welche Zuschreibungen auf der Bühne reproduziert werden, in wessen Interesse und mit welchen Absichten und Zielen etwas dargestellt wird.
Und eins steht fest: ich bin sowas von 2020 und noch weit dahinter…
Barca, Irina-Simona/ Grawinkel-Claassen, Katja/ Tiedemann, Kathrin (2020) Das Theater der Digital Natives. Einübung in Szenarien des Wiederstands und der Empathie. In: Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de (Hg.) Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. Heinrich Böll Stiftung. Schriften zu Bildung und Kultur. Bd. 14. Großbeeren, 15–19, als kostenloses PDF downzuloaden.
Brainard, Joe (2001) I Remember. New York City
Jörissen, Benjamin (2020) Digital Nature. In: Zeitschrift für Schultheater „theater:digital“. Nr. 41/2020, 6–8.
Lehmann, Hans-Thies (2011) Wie politisch ist Postdramatisches Theater?. In: Deck, Jan/ Sieburg, Angelika (Hg.) Politisch Theater machen: neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld, 29–40.
Leven, Ingo/ Utzmann, Hilde (2019) „Die Vielfalt der Digitial Natives“. In: Shell Deutschland Holding (Hg.) Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. Opladen, 247–287.
Primavesi, Patrick (2011) „Theater/Politik – Kontexte und Beziehungen.“ In: Deck, Jan/ Sieburg, Angelika (Hg.) Politisch Theater machen: neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld, 41–72.
Sozialwissenschaftlerin und Theaterpädagogin. Ihre Arbeitsschwerpunkte in Theorie und Praxis bewegen sich an der Schnittstelle von Vermittlung, schulischer und außerschulischer Theaterarbeit und produktionsorientierter Theaterpädagogik. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin des Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“ an der Universität der Künste Berlin (2015−2018). Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ästhetisch-Kulturelle Bildung, Abteilung Darstellendes Spiel, Theater und Performance an der Europa-Universität Flensburg. Promotion an der Universität der Künste Berlin zum Thema „Konstruktionen von Jugend in der Theaterpädagogik“.