SCHUL.THEATER

Fokus

Literarische Rollen … frei nach

von Ina Drie­mel, Lukas Gün­ther, Micha­el Aust

Da, wer Rol­le hört, in den meis­ten Fäl­len Dra­men­text asso­zi­iert, geht der ers­te Blick auf die­se Rol­len und stellt die Fra­ge, wel­che Zugangs­mög­lich­kei­ten Rol­len eröffnen.

Dass die Arbeit mit Stück­vor­la­gen auch eine Form der Eigen­pro­duk­ti­on dar­stellt – und eben nicht meint, den Text 1:1 umzu­set­zen –, davon konn­ten sich die Zuschau­en­den viel­fach beim SDL über­zeu­gen. So bei­spiels­wei­se bei der Mont­e­ban­de, der Thea­ter­grup­pe der Montesso­ri­schu­le Greifs­wald aus Meck­len­burg-Vor­pom­mern, die ihre eige­ne Ver­si­on des Schiller’schen Stof­fes von “Die Räu­ber” auf die Büh­ne gebracht haben – ganz nach dem Mot­to: sich den Text zu eigen machen.

Die Grund­hand­lung und Figu­ren­kon­stel­la­tio­nen haben die Greifswalder:innen über­nom­men und in ein neu­es, heu­ti­ges Gewand geklei­det. Die Insze­nie­rung ist bei­spiel­haft dafür, dass es nicht viel an Büh­ne und Requi­si­ten benö­tigt, um die Orte der Hand­lung, wie z.B. Böh­mi­sche Wäl­der, dar­zu­stel­len: in die­sem Fall braucht es nur eine Lein­wand, auf die Blatt­or­na­men­te pro­ji­ziert sind und eine in grü­nes Licht getauch­te Büh­ne, dazu atmo­sphä­ri­sche Live-Sounds. Die Insze­nie­rung arbei­tet mit vie­len Unter­bre­chun­gen und Brü­chen. Zu sehen ist ein selbst­iro­ni­sches Spiel mit einem Klas­si­ker und den Mit­teln des Theaters.

Her­vor­zu­he­ben ist die zei­gen­de Spiel­wei­se, d.h. die Spieler:innen zei­gen ihre Figu­ren, wor­über sich eine Distanz zum Stoff und zu den Figu­ren her­stellt. Dra­ma­ti­sches wird über­zeich­net dra­ma­tisch gespielt, span­nungs­rei­che Momen­te, z.B. wenn der Brief von Karl kommt, wer­den mit span­nungs­rei­cher Musik unter­legt (ein­gäng­lich: Pink Pan­ther The­me Song). Auch mit der Hand­lung an sich wird gespielt, indem die­se in Fra­ge gestellt wird. Die Spieler:innen stei­gen aus, dekla­mie­ren ins Publi­kum, spre­chen und han­deln als Figu­ren, um im nächs­ten Moment sich selbst zu kom­men­tie­ren. Da wird dann zwi­schen­drin auch schon mal das Reclam Heft her­aus­ge­holt und Ori­gi­nal­text zitiert, den ja eigent­lich kei­ner ver­steht. Mög­li­che Inter­pre­ta­tio­nen wer­den auf der Büh­ne durch­ge­spro­chen. Die Dia­lo­ge sind wit­zig und spritzig.

Auch wenn der Stück­fas­sung anzu­mer­ken ist, dass die­se aus der Feder der Spiel­lei­tung stammt, so wis­sen die Spieler:innen, was sie tun. Die­se Schil­ler Ver­si­on von 2023 macht gro­ßen Spaß, ins­be­son­de­re an den Stel­len, wo mit Leich­tig­keit schwe­re The­men bespielt wer­den. So wird hier mit dem Kli­schee auf­ge­räumt, dass Män­ner­rol­len nur von Män­nern und Frau­en­fi­gu­ren nur von Frau­en gespielt wer­den dür­fen. Und es gibt Dop­pel- und Mehr­fach­be­set­zun­gen von Figu­ren. Franz(i) und auch die ande­ren Figu­ren wer­den von meh­re­ren Schüler:innen gespielt, wofür die Kos­tü­me und Requi­si­te klug ein­ge­setzt wer­den. So tra­gen alle Fran­zi-Figu­ren eine gol­de­ne (Klunker)Halskette und das Kenn­zei­chen der Figur der Ama­lia ist eine Müt­ze. Viel Spaß anzu­schau­en macht jene Sze­ne, in der ganz expli­zit mit Geschlech­ter­kli­schees gespielt wird. In die­ser Schil­ler-Ver­si­on übt die Räu­be­rin­nen­ban­de männ­li­che Ver­hal­tens­wei­sen ein, wobei sie von zwei männ­li­chen Jugend­li­chen gecoacht wer­den. Geübt wird z.B. wie typisch Mann eben schaut, geht (der Schul­ter­schwung ist ent­schei­dend) oder auch sitzt, die Hand­lungs­an­wei­sung hier­zu lau­tet: Ein Mann setzt sich nie an den vor­de­ren Rand des Stuhls, vor­her Hose hoch­zie­hen, in den Stuhl sin­ken, die Bei­ne viel wei­ter aus­ein­an­der… Die­ses Heu­ti­ge der Insze­nie­rung drückt sich auch dar­in aus, dass die Spieler:innen die Kli­ma­kri­se auf der Büh­ne zum The­ma machen. Bei­spiels­wei­se gibt es eine cho­ri­sche Sequenz, in der die Grup­pe inmit­ten der Zuschau­en­den geschlos­sen einen Text spricht, der von Karl han­delt, einem Jugend­li­chen, der in der heu­ti­gen Zeit auf­wächst und mit Kli­ma­wan­del und Arten­ster­ben kon­fron­tiert ist. Der fik­ti­ve Stoff wird hier mit den Bio­gra­fien der jun­gen Spieler:innen ver­wo­ben. Ähn­lich wie in der Insze­nie­rung Glück in Fes­seln wer­den auch hier Kata­stro­phen­sze­na­ri­en, Kipp­punk­te im Kli­ma­sys­tem ima­gi­niert und wird das (erwach­se­ne) Publi­kum mit Fra­gen kon­fron­tiert: Wir sind jung und wir leben in der Rea­li­tät, wo lebt ihr? Wenn Erwach­se­ne heu­te an die Zukunft den­ken, wie weit den­ken sie dann? Im letz­ten Akt ster­ben alle, weil es ist ja schließ­lich ein Trau­er­spiel – Ver­si­on Num­mer 1. Oder Ver­si­on Num­mer 2: Ama­lia stirbt am Ende nicht. Sie eman­zi­piert sich, will nicht nur im Schloss her­um­sit­zen, son­dern etwas tun. Sie gibt sich kämp­fe­risch und so auch der Rest der Grup­pe, wenn am Ende alle Schil­der hoch­hal­ten auf denen steht: The­re ist no Pla­net B! In die­sem Sin­ne endet die Insze­nie­rung mit einem (ein­deu­ti­gen) Appell, bei dem kei­ne Fra­gen offen­blei­ben. Scha­de eigentlich.

Eine gänz­lich ande­re Stoff­vor­la­ge hat sich die Thea­ter-AG Spiel­grup­pe vom Wein­berg Gym­na­si­um aus Klein­mach­now (Bran­den­burg) vor­ge­nom­men. Hier wird, frei nach Molié­re, krank sein gespielt. Im Zen­trum der Hand­lung steht die Figur Argan, der sich ein­bil­det, schwer krank zu sein, ganz zu Freu­den sei­ner Ärz­te­schaft, die ihm viel Geld für nutz­lo­se Behand­lun­gen abknöpft. Es han­delt sich um eine Komö­die, die im Kern um die Fra­ge kreist: was echt wirkt, was ein­ge­bil­det oder geheult ist und die die Macht der Medi­zin auf kri­tisch-humor­vol­le Art und Wei­se in den Blick nimmt. Ganz nach dem Mot­to: Auf­klä­rung durch lächer­lich machen. Die Bran­den­bur­ger blei­ben nah an der Vor­la­ge und stel­len dabei die Absur­di­tät des (kran­ken) Tuns in den Fokus.

Die Insze­nie­rung zeich­net sich durch einen gelun­ge­nen Ein­satz von Kos­tü­men aus, der das komö­di­an­ti­sche Spiel auf der Büh­ne unter­streicht: da sind die Ärzt:innen-Figuren mit Knol­len­na­se und Bril­le, die reich­lich clow­nesk anmu­ten. Die Diener:innen tra­gen (über­di­men­sio­nier­te) Reif­rö­cke in unter­schied­li­chen Far­ben, die gar lus­tig hin und her schwin­gen. Und natür­lich Argan, der­di­edas ein­ge­bil­de­te Kran­ke, der­di­edas mit wei­ßem lan­gem Haar und wei­ßem Man­tel um sich selbst und sei­ne Krank­hei­ten kreist. Er erin­nert ein wenig an den Kran­ken auf Lat­schen. Sein künst­li­ches Getue wird durch die Mas­ke­ra­de aus­ge­stellt und der Lächer­lich­keit Preis gege­ben – ein sehr gelun­ge­ner Kniff.

In die­ser Komö­die hier spielt nie­mand echt, nicht ein­mal die Frau Argans, der­di­edas sich beim (schein­ba­ren) Tode Argans plötz­lich die Perü­cke vom Kopf reißt – Mann ist Frau und Frau ist Mann oder auch nichts von beidem.

Und dann ist da noch die Sache mit der Lie­be: Argan möch­te sei­ne Toch­ter Angè­li­que, die sich jedoch bereits in einen ande­ren ver­liebt hat, mit einem Arzt ver­hei­ra­ten. Am Ende wil­ligt Argon jedoch ein, und damit doch ein Arzt ins Haus kommt, beschließt er selbst Arzt zu wer­den – qua­si im Quer­ein­stieg. Das Ende ist zugleich der Anfang, da Argan beschließt, sich in sei­ne neue Rol­le als Arzt ein­zu­fin­den. Sogleich hat er auch einen (ärzt­li­chen) Rat für die Zuschau­en­den: Wir kön­nen alle eine Rol­le ein­neh­men, den ande­ren etwas vor­spie­len. Im Thea­ter ist alles erlaubt.

Die Insze­nie­rung zeich­net sich durch humor­vol­le Sze­nen aus, der Spaß am Spiel ist den jun­gen Darsteller:innen anzu­mer­ken, wobei der Zugriff auf den Text wenig ent­schie­den ist. Auch kommt die Insze­nie­rung sehr text- und sprach­las­tig daher, der Ein­satz des Kör­pers spielt eher eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Die sinn­lo­sen Behand­lungs­ses­si­ons, die in einer repe­ti­ti­ven Bewe­gungs­ab­fol­ge dar­ge­stellt wer­den wie auch kur­ze Tanz­ein­la­gen, blei­ben Aus­nah­me – mehr davon hät­te der Insze­nie­rung durch­aus gutgetan.

 

Eigen­pro­duk­ti­on frei nach heißt es auch bei der Thea­ter­grup­pe TIG – Thea­ter im Güter­schup­pen vom Gym­na­si­um Ulri­cia­num Aurich (Sek I und II) aus Nie­der­sach­sen.

Die Auricher haben mit dem Stoff Ham­let­ma­schi­ne von Hei­ner Mül­ler gear­bei­tet und sich damit einer gro­ßen Her­aus­for­de­rung gestellt. Das Stück Mül­lers ver­zich­tet nahe­zu auf Hand­lung und Dia­log. Die Figu­ren, die auf­tre­ten(?), sind aus Shake­speares Stück ent­lehnt: in fünf auch for­mal unter­schied­li­chen Text­frag­men­ten erschei­nen u. a. Ham­let bzw. ein:e Schauspieler:in, die:der Ham­let spielt, und Ophe­lia. Die Grup­pe bringt ein alb­traum­ar­ti­ges Sze­na­ri­um auf die Büh­ne, wofür sie sich spe­zi­fi­scher thea­tra­ler Mit­tel bedie­nen: Die Büh­ne ist voll­stän­dig schwarz aus­ge­klei­det und auch die Spieler:innen tra­gen alle schwar­ze Klei­dung. Wir sehen Mas­ken, die geis­ter­haft anmu­ten und die von den Spieler:innen bewegt wer­den, wodurch sie ein Eigen­le­ben ent­wi­ckeln. Und auch wenn die­se nicht bespielt wer­den, so sind die­se doch auf der Büh­ne anwe­send, gleich einer Toten­mas­ke. In vie­len Sze­nen wird Musik ver­wen­det, ange­fan­gen von orches­tra­ler Instru­men­tal­mu­sik, über Pop bis hin zu Hea­vy Metall. Eben­so spielt Licht eine zen­tra­le Rol­le. Die Büh­ne ist abwech­selnd in blau­es, rotes oder auch wei­ßes Licht getaucht. Die unter­schied­li­chen Licht­stim­mun­gen tra­gen wesent­lich zur düs­te­ren und kal­ten Stim­mung bei. Aus dem Zusam­men­tref­fen des Spiels der Mas­ken­fi­gu­ren mit der Musik und dem Licht, ent­ste­hen düs­te­re, beklem­men­de Sze­nen. Hier ist viel Wut und Ver­zweif­lung im Spiel. Die (Hamlet)Figur(en) sind ver­zwei­felt, sie schrei­en und tau­meln ver­lo­ren über die Büh­ne, wirr vor Schmerz und ohne Hoff­nung. Es ist den­noch ein kraft­vol­les, kör­per­li­ches Spiel, die Spieler:innen rin­gen im wahrs­ten Sin­ne mit sich und ihren Figu­ren, was sehr ein­drück­lich ist.

Den­noch bleibt hier die Fra­ge ein Stück weit offen, an wen sich die­se Wut und Ver­zweif­lung eigent­lich rich­tet. Das Stück stammt aus dem Jahr 1977 und basiert auf einer lang­jäh­ri­gen Aus­ein­an­der­set­zung Mül­lers mit Shake­speare. Der Text gilt als fremd­ar­tig und rät­sel­haft, lässt viel Raum für Inter­pre­ta­ti­on. Was genau ist hier Gegen­stand der Aus­ein­an­der­set­zung? Damit ist nicht gemeint, Ham­let so heu­tig wie mög­lich in Sze­ne zu set­zen. Viel­mehr geht es um die Fra­ge: in einer Welt, die aus den Fugen gera­ten ist, was haben uns die Figu­ren heu­te zu sagen?

 

Und auch die Schüler:innen des Dar­stel­len­den Spiel Grund­kur­ses (Jahr­gangs­stu­fe 12) des Ber­tha von Sutt­ner Gym­na­si­ums, die Rhein­land-Pfalz ver­tre­ten haben, sind ganz frei mit einer Stück­vor­la­ge umge­gan­gen. Die Insze­nie­rung Yolo* ist eine freie Adap­ti­on von Ionescos Stück Die Nas­hör­ner, des­sen Sto­ry­line schnell erzählt ist: in der Stadt wer­den Nas­hör­ner gesich­tet, was für mehr oder weni­ger Unru­he sorgt, bis der ers­te Fall einer Ver­wand­lung bekannt wird und wei­te­re Ver­wand­lun­gen fol­gen. Der Haupt­prot­ago­nist sträubt sich gegen die Ver­wand­lung, er möch­te Mensch blei­ben – wor­um es wohl auch im Kern des Stü­ckes geht: um Menschlichkeit.

Das Thea­ter­stück des Dra­ma­ti­kers Ionesco zählt zu den klas­si­schen Stü­cken des Absur­den Thea­ters. Und frei­lich absurd geht es auch in die­ser Insze­nie­rung zu, wie bereits die Figu­ren­kon­stel­la­ti­on zu erken­nen gibt: neben einem ver­kapp­ten Hans Chris­ti­an Anders Imi­ta­tor, der des­sen Song Es fährt ein Zug nach nir­gend­wo per­formt (und irgend­wie auch nicht) und einer Gothic-Emo-Hexe, die immer wie­der auf­tre­ten und sich der Nas­hör­ner erfreu­en, tre­ten noch wei­te­re Figu­ren in Erschei­nung. Hier­zu gehört eine Grup­pe jun­ger halb­star­ker Typen, die dar­über phi­lo­so­phiert, war­um es bei McDo­nalds kei­ne Bur­ger gibt. Es folgt eine Grup­pe Gir­lies, für die Shop­pen alles ist. Und dann ist da noch Gre­ta Thun­berg, die repe­ti­tiv How dare you… ins Mega­phon brüllt, vor den Nas­hör­nern warnt und eine Demo gegen Nas­hör­ner anzet­telt. Und nicht zu ver­ges­sen: der Prep­per, der aus­ge­stat­tet mit diver­sen Uten­si­li­en in sei­nem Bun­ker hockt, an sei­ner Sei­te Loki­pe­dia, eine weib­li­che KI.

Die Figu­ren kom­men skur­ril und über­zeich­net daher. Hier­zu gehö­ren bei­spiels­wei­se die schril­len, quä­ki­gen Stim­men der Mäd­chen­grup­pe oder die prol­li­ge Atti­tü­de der Jun­gen­grup­pe. Ins­ge­samt kommt die Pro­duk­ti­on mit wenig Aus­stat­tung aus, neben Kar­tons, Toi­let­ten­pa­pier und Dosen steht noch ein Kühl­schrank auf der Büh­ne, der inso­fern Hoff­nung gibt, als dar­in noch Licht brennt. Schließ­lich braucht es die­se Hoff­nung, wo doch über­all Nas­hör­ner gesich­tet wer­den, die denn auch das Inter­net getö­tet haben, Ins­ta und Co. sind also unmög­lich. Im Kühl­schrank brennt noch Licht, so singt der Chor gar hoff­nungs­voll gegen die kom­men­de Kata­stro­phe an.

Da gibt es aber auch noch die Grup­pe Pro-Nas­horn. Ich hab Nas­horn heißt es an einer Stel­le. Die Ver­wand­lung setzt ein, die ja doch auch Vor­tei­le hat, wie z.B. mit dem Kopf gegen die Wand ren­nen zu kön­nen. Und schließ­lich ist alles bes­ser, als Mensch zu sein, da die­ser die Erde kaputt macht und eige­ne Feh­ler ver­leum­det (Lügen­men­schen skan­diert die Grup­pe laut­hals). Hier erweist sich das Stück als kri­ti­sche Stim­me im Dis­kurs um die Kli­ma­kri­se. Die­se Les­art legt ins­be­son­de­re das Intro des Stü­ckes nahe, wenn auf der Lein­wand Video­pro­jek­tio­nen zu sehen sind, die blü­hen­de Land­schaf­ten zei­gen, die über­blen­det wer­den mit Bil­dern von Plas­tik-Müll­ber­gen. So dient das Stück als Folie, vor deren Hin­ter­grund die Zer­stö­rung der Umwelt durch den Men­schen ver­han­delt wird. Aller­dings schlägt hier die Umwelt – in Gestalt der Nas­hör­ner – zurück. Sur­vi­val of the fit­test, in die­sem Fal­le: der Nas­hör­ner. Die Grup­pe spielt mit ihrem Stück gegen die schwie­ri­ge Welt­la­ge an und zeigt dabei eine Form poli­ti­schen Thea­ters, die zeit­wei­lig wie eine Far­ce anmu­tet. Hier lie­gen auch die Fall­stri­cke: ein Thea­ter, das die Absur­di­tät der Welt ver­han­delt und dabei auf ste­reo­ty­pe Figu­ren­dar­stel­lung zugreift, läuft Gefahr, die­se Figu­ren auszustellen.

* wer es noch nicht wuss­te: ›Yolo‹ ist ein Akro­nym und steht für: ›You only live once‹

 

Auch die Spiel­grup­pe des Geschwis­ter-Scholl-Gym­na­si­ums aus Sang­erhau­sen (Klas­sen­stu­fe 7 bis 12) hat sich einer Vor­la­ge bedient. Die Pro­duk­ti­on Glück in Fes­seln basiert auf dem dys­to­pi­schen Roman Schö­ne neue Welt von A. Hux­ley, der hier­in ein Bild von Zukunft als Kata­stro­phe ima­gi­niert: Ein Erzäh­ler nimmt uns mit in das Jahr 632 nach Ford: Wirt­schaft­lich­keit und Effek­ti­vi­tät, Mas­sen­pro­duk­ti­on bestim­men das gesell­schaft­li­che Kli­ma. Bevor wir jedoch in die Geschich­te ein­tau­chen, per­formt der Erzäh­ler eine kur­ze Slap-Stick-Tanz­ein­la­ge zu dem Song von Cal­cha Can­de­la: Die Welt geht unter doch bei uns ist Par­ty hal­li-gal­li, alles im Eimer doch wir hüp­fen wie bei dal­li-dal­li. Herz­lich will­kom­men in unse­rer schö­nen neu­en Welt.

Aber statt Hüp­fen und Par­ty­ma­chen wird den Zuschau­en­den im Fol­gen­den eine Zukunft erzählt, in der Föten gene­tisch mani­pu­liert und Men­schen kon­di­tio­niert wer­den. Gemein­schaft­lich­keit, Ein­heit­lich­keit, Bestän­dig­keit ruft geschlos­sen der Chor der Wissenschaftler:innen, der mit wei­ßen Kit­teln aus­ge­stat­tet ist und des­sen Bewe­gung und Spra­che Uni­for­mi­tät aus­drückt. Das Sinn­bild einer genorm­ten Gesell­schaft. Kin­der wer­den in einer Kin­der­be­wahr­an­stalt kon­di­tio­niert und men­tal indok­tri­niert. Im Zusam­men­spiel der thea­tra­len Mit­tel wird eine Atmo­sphä­re sozia­ler Käl­te erzeugt. Hier­zu zählt u.a. die dump­fe Bass­gi­tar­ren­mu­sik und die in blau und weiß gehal­te­ne Licht­stim­mung. Mensch­lich­keit und Wär­me schei­nen nicht zu exis­tie­ren, jeder Indi­vi­dua­lis­mus wird ausgelöscht.

Die Grup­pe arbei­tet mit Live-Musik, bild­ge­wal­ti­gen Bewe­gungs­cho­reo­gra­fien und Sound­col­la­gen, die von einer uni­for­mier­ten, genorm­ten Gesell­schaft erzäh­len. Ein­drück­lich sind auch die raum­grei­fen­den, in blau-grün gehal­te­nen Licht­in­stal­la­tio­nen, die die Gren­zen zwi­schen rea­ler und fik­ti­ver Welt ver­schwim­men las­sen. Zen­tral für die Insze­nie­rung ist auch der Ein­satz von Kos­tü­men: die Spieler:innen tra­gen Anzü­ge – unter­schied­lich in Form und Far­be – die die ver­schie­de­nen gesell­schaft­li­chen Schich­ten reprä­sen­tie­ren. Die­se Schicht­zu­ge­hö­rig­keit drückt sich auch in der Kör­per­lich­keit der Spieler:innen aus, die kon­se­quent durch­ge­hal­ten wird. Wäh­rend die einen mit hän­gen­den Schul­tern und Köp­fen, in gebück­ter Hal­tung über die Büh­ne krau­cheln, prä­sen­tie­ren sich die ande­ren in auf­rech­ter, stand­haf­ter Haltung.

Fast wie neben­bei kommt das Spiel mit Rol­len­bil­dern daher, so in jener Sze­nen­se­quenz, in der zwei weib­li­che Figu­ren – in einer Art Gespräch unter Freun­den – über das ande­re Geschlecht spre­chen und die eine die ande­re ermu­tigt, sich nicht nur an einen Alpha-Mann zu bin­den, son­dern sich zu erman­nen, man(n) darf (als Frau) kein Spiel­ver­der­ber sein. In der rea­len Welt wer­den Frau­en ja schnell zu „Flitt­chen“ abge­stem­pelt, wenn sie vie­le Män­ner begeh­ren. In die­sem Sin­ne wohnt auch die­ser Dys­to­pie etwas Visio­nä­res inne, was jedoch nicht wei­ter aus­er­zählt wird, was sehr scha­de ist.

Auch wenn es den Spieler:innen anschei­nend in ers­ter Linie dar­um ging, eine Zukunft als Kata­stro­phe zu erzäh­len, so hät­te es doch mehr Mög­lich­kei­ten gege­ben, in und mit die­sem fik­ti­ven Rah­men zu spie­len. So fehlt es der Insze­nie­rung an Klar­heit, als sich nicht ein­deu­tig ver­mit­telt, was die Hal­tung der Spie­len­den zu die­ser schö­nen neu­en Welt ist oder viel­mehr war­um sie gera­de die­sen Stoff gewählt haben. Wie bli­cken sie von der Zukunft aus in die Gegen­wart? Was ist heu­te schon Wirk­lich­keit? In wel­cher Zukunft wol­len wir leben? Auf die letzt­ge­nann­te Fra­ge geben die Spieler:innen zumin­dest am Ende der Insze­nie­rung eine Ant­wort, wenn alle nach­ein­an­der auf die Büh­ne tre­ten und davon erzäh­len, was sie in einer idea­len Welt wären: ein Wis­sen­schaft­ler, der die Welt ver­än­dert, eine Bio­lo­gin, Umwelt­schüt­ze­rin, rebel­lisch, Dich­ter und Den­ker oder ein­fach Freun­din­nen … und schließ­lich alle gemein­sam iro­nisch Par­ty Hal­li­gal­li machen. Ganz nach dem Mot­to: Wenn die Welt schon unter­geht, kön­nen wir wenigs­tens feiern.

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