André Studt
This business of ‘publish or perish’ has been a catastrophe.
People write things which should never have been written and which should never be printed.
Nobody’s interested.
But for them to keep their jobs and get the proper promotion, they’ve got to do it.
It demeans the whole of intellectual life.
Hannah Arendt 1Samantha Rose Hill / The Hannah Arendt Center: Crises in Academia Today (2018). Siehe: medium.com (letzte Sichtung am 27.11.2023).
Diesen Text schreibe ich aus Gründen.
Diese scheinen mir signifikant mit meiner professionellen Rolle verbunden: Ich lehre und forsche als Theaterwissenschaftler an einer Universität, unterrichte dort u.a. in der Ausbildung von Lehrkräften im Fach Darstellendes Spiel, bin seit einigen Jahren dem BVTS als wissenschaftlicher Begleiter des Festivals ‚Schultheater der Länder‘ verbunden, gebe – gemeinsam mit tollen Kolleg:innen – die Fachzeitschrift Schultheater heraus und so weiter. Wenn man mich vor diesem Hintergrund zum Thema ‚Rolle‘ befragt und einen Text erwartet, geht man wohl davon aus, dass ich dazu etwas zu sagen habe. Oder man weiß, dass ich in anderen Texten schon einmal etwas dazu gesagt hatte1So zuletzt in der Zeitschrift für Theaterpädagogik / Korrespondenzen, Heft 82 (April 2023): (K)eine Rolle spielen – aktualisierte Überlegungen zum Rollenbegriff in (schul-)theaterpädagogischen Kontexten. S. 9–11.
– und vertraut nun darauf, dass ich in der Lage bin, ohne allzu offensichtliches Selbstplagiat mir dieses Thema wieder neu, anders und mit besonderem Blick auf den Anlass – immerhin war das Schultheater der Länder 2023 in Trier mit dem Motto Schultheater.Rollen überschrieben – zu erschließen.
Verstehe ich diese grob skizzierten Umstände als Rollenzuschreibung, die eine spezifische Erwartungshaltung modelliert, sehe ich mich gewissermaßen unter Zugzwang gesetzt: So sollte mein Text bestenfalls einen Beleg für die kompetente Ausübung meiner professionellen Rolle liefern. Es liegt ganz bei mir, einen Teil dieser Zuschreibung (und den damit verbundenen Erwartungen, die ich spekulativ imaginieren muss => Rolle als Phantasma) zu erfüllen; mein eigenes aktives Handeln als denkender und schreibender Theaterwissenschaftler kann ich einigermaßen selbst beeinflussen und mit den mir gegebenen Möglichkeiten steuern.
Aber wenn dieser Text dann irgendwann auf Leser:innen trifft, können (und werden) diese das von mir Geschriebene mehr oder weniger mögen, verständlich finden und für sich selbst produktiv machen. Und vielleicht (denn ich weiß nie, ob jemand diese Texte überhaupt liest, und wer sich dereinst in eine:n Leser:in verwandeln wird) sind mit diesen Vorgängen Prozesse der Anerkennung verbunden, die mir attestieren, meine für mich vorgesehene Rolle angemessen ‚performt‘2 Vgl. dazu John McKenzie: Perform or else. From Discipline to Performance. London: Routledge, 2001.
zu haben. Ergo: Als Theaterwissenschaftler zu einem lesbaren Autor geworden zu sein, dessen Sachkenntnis sich nachvollziehbar im rhetorischen Vorgehen, den angeführten Argumenten und Beispielen als Text figuriert (=> Rolle und Figur). Allerdings sind diese Anerkennungsprozesse für mich weitgehend unzugänglich, weil sie nicht simultan, also unmittelbar an den Schreibvorgang gebunden, sondern sukzessiv im Nachgang erfolgen. Und vielleicht gilt ja tatsächlich das Arendtsche Diktum des nobody’s interested…
Wenn ich diesen grob skizzierten Mechanismus funktional bedienen will, muss ich so etwas wie Rollenaneignung betreiben. Diese berücksichtigt beide oben umschriebenen Facetten und muss ein potentiell vorhandenes Desinteresse Anderer zunächst ausblenden: Damit das eigenständige Handeln auf Grundlage der mit der Professionsrolle verbundenen Wissensbeständen und den damit zusammenhängenden Artikulationsformen – es heißt ja, dass man als Wissenschaftler Texte schreibt und auf bereits geschriebene Texte reagiert etc. – einigermaßen motiviert ist, bin ich zur Rollenarbeit genötigt.
Der damit verbundene Aufwand unterscheidet sich vom Schreiben an sich; jenes wäre schon Arbeit genug, aber als Theaterwissenschaftler eben diesen Text zu schreiben bedeutet, in einer bestimmten Rolle für diese Rolle schreiben zu müssen: In dieser gestaltet sich die Annäherung an ein Schreiben anders als ein vermeintlich freies Fabulieren einer alternativen Fassung bzw. einer anderen Rolle von mir. Im Herausfinden anderer Optionen, auf die man manchmal mehr Lust haben kann, steckt ein Hinweis darauf, dass erst die Arbeit an einer Rolle die Grundlagen für das Rollenspiel schafft. Dessen Ausdrucksvermögen und potentielle Bedeutungshaftigkeit sind maßgeblich von dem vorhandenen Wissen um alternative Strategien der Expression abhängig. In diesem Spiel kann erkundet werden, worin der Kern der eigenen Rolle liegt bzw. wie sich die Ränder, Lücken und Leerstellen der durch die Rolle vorgegebenen Eigenschaften gestalten. Im besten Fall zeigen sich diese in der Interaktion mit den Mitspielenden, die ebenfalls in ihren Rollen auf meine Angebote reagieren und schlussendlich mit mir zusammen einen Bereich des Gemeinsamen als Spielwirklichkeit schaffen.
Übertragen auf die Rezeption dieses Textes ließe sich diese gemeinsame Spielwirklichkeit als Diskursraum beschreiben, in dem Einwände, Nachfragen, Kritik etc. als rezeptive und reaktive Gesten Anderer (in ihren jeweiligen Rollen und mit der damit zusammenhängenden Perspektiven) aufkommen könnten, auf die ich (in meiner Rolle als theaterwissenschaftlicher Autor) wiederum reagieren müsste. In dieser dialogischen Verschränkung – ich schreibe einen Text, eine Person reagiert darauf mit einer Anmerkung und lädt mich dazu ein, diese Anmerkung zu verarbeiten usw. – entsteht dann am Ende potentiell ein Diskurs.3 „Eine Aufführung vermag so auch immer einen Diskurs hervorzubringen, der sich auf sie bezieht, sich mit ihr auseinandersetzt und damit auch die Wahrnehmung von Aufführungen beeinflussen kann.“ Christel Weiler / Jens Roselt: Aufführungsanalyse. Eine Einführung. Tübingen (A. Francke) 2017, S. 365. Freilich nimmt in der Wissenschaft bzw. ihren Strategien der Kommunikation diese Bezugnahme viel Zeit in Anspruch und ist eigenen (Spiel-)Regeln unterworfen; man könnte Dialog, Debatte und Diskurs unterscheiden, wobei in dieser Triade eine immer höher wertige, weil komplexere Form des Austausches von zunächst individuellen, dann immer allgemeingültiger werdenden Sichtweisen zum Ausdruck kommt.4Die Notwendigkeit zur Unterscheidung von Dialog, Debatte und Diskurs kann vielleicht anhand eines Beispiels aus der jüngeren Vergangenheit – nämlich des Umgangs mit COVID 19 – erläutert werden: Da der Diskurs über die Gefährlichkeit des Virus sehr voraussetzungsreich war (niemand von uns war Expert:in, der bspw. dazu in der Lage wäre, unterschiedliche Schlussfolgerungen bei der Lektüre von Studien kompetent zu begründen), haben sich einige Expert:innen zu Medienfiguren gewandelt, die eine Debatte (um des Diskurses willen) führen wollten; diejenigen, die jenen Konstruktionen (jede Form der Rollenübernahme, die zur Figuration führt, ist eine Konstruktion) misstrauten, haben sich entweder in die Debatte eingebracht oder – was öfter geschehen ist – lediglich einen Dialog geführt, der nur auf Stichworte hin reagiert hat. Auch wenn diese Form der Entropie zu einer radikalen Reduzierung der Komplexität führt, die sich weit von dem Diskurs und seinen Regeln entfernt hatte, wäre es wichtig zu berücksichtigen, dass auch diejenigen, die hier nur dialogisch involviert waren – auch wenn ihre Botschaften erratisch, misslich oder sachlich falsch waren – aus Ihrer Sicht (und in ihrer Rolle) Angebote für eine Teilhabe (an Debatte und Diskurs) gemacht haben. Wenn dieser Umstand jedoch keine Berücksichtigung findet, kann keine Vergemeinschaftung mehr stattfinden. So ließe sich vielleicht erklären, dass sich die Ausgeschlossenen eigene Formen der Figuration von Expertise suchen, diese kultivieren und am Ende den etablierten Formaten entgegensetzen.
Dieser Umstand ließe sich wiederum in die Proben für die Gestaltung einer Rolle rückübersetzen: Die zu findenden Sprach- und Sprechhandlungen einer Theater-Rolle werden im Prozess des Einstudierens als Steigerung der Verbindlichkeit angenommen: Von der Leseprobe, wo die Rolle auf Stichworte hin aktiviert wird und in Dialoge einsteigt, über erste Annäherungen an Verkörperungen, die in Proben entwickelt und debattiert wird, bis hin zur in den Aufführungen erfolgenden szenischen Verlautbarung als Figur, die Angebote für einen Diskurs macht, weil das, was sich auf Basis einer Rolle in der Figur (re-)präsentiert substantiell auf Referenzen und Kontexte bezieht und immer wieder neu verstanden werden will.
Da sich jedoch mein Schreiben zunächst ohne Andere gestaltet (diejenigen, die dazu eingeladen werden, meinen Text spielerisch zu erschließen, kommen ja erst nach Fertigstellung, Editierung und Veröffentlichung dazu, von mir bleibt dann nur noch dieser Text übrig), muss ich, um an die Ränder dessen, was meine Rolle mir vorgibt, zu gelangen, mein Schreiben spielerisch gestalten.
Ich könnte also mein Statement zum Aufenthalt in Trier beim SDL alternativ im Modus …
… schildern, um damit nicht nur alternative Entwürfe von mir als Schreibender (=> Rolle als Alternative) sondern auch des zu Beschreibenden und dessen Repräsentation zu generieren. Nicht ganz auszublenden ist dabei das Korsett (=> Rolle als Konstrukt) meiner professionellen Rolle und deren Kontext – z.B. meine theaterwissenschaftlichen Kolleg:innen, denen Meinung mir nicht ganz egal sein sollte (zumal ich von jenen auch eine Legitimation als ernstzunehmender Theaterwissenschaftler erhalte).
So benötige ich einen Gegenstand, aus dem ich – ganz im Sinne meiner mir unterstellten Profession – ein spezifisches Erkenntnisinteresse ziehen kann, das sich beispielsweise als Frage äußert, auf deren vorläufige Beantwortung die Konzentration des Denkens / Schreibens gerichtet ist. Dazu suche ich Material, Verweise, Belege und ringe nach Worten, die mein Anliegen hinreichend repräsentieren. Ich muss gleichzeitig (quasi im permanenten Modus der Autokorrektur) darüber nachdenken, ob dieser Gegenstand (und meine daran gekoppelten Aktivitäten, die kein Selbstzweck sind und selbstbezogen sein dürfen, sondern dialogisch als Angebot zur diskursiven Auseinandersetzung im Spiel der Lektüre formuliert sein sollten) für diejenigen, die diesen Text potentiell lesen, zugänglich, relevant und stimulierend ist. Denn erst damit verbinde ich mein Handeln mit anderen Anliegen und kopple mein Denken der Rolle mit gesellschaftlichen / politischen Dimensionen (=> Rolle und Gesellschaft).
Ist das bis hierhin soweit nachvollziehbar?
Weil ein Text an sich keine Figur hervorbringt, sondern diese erst gemacht werden muss, kommen Sie nun ins Spiel (und dieses Spiel kennen Sie sehr gut, wenn Sie Lehrer:in sind.5So Sie es wünschen (und es aktiv einfordern), kann ich Ihnen zu diesen Fragen meinen Erwartungshorizont nachreichen):
Ich habe ich ein paar weiterführende Fragen an Sie:
Können Sie mit der von mir vorgenommenen Systematisierung eines differenzierten Umgangs mit der ‚Rolle‘, ihrer Voraussetzungen und Begrenzungen etwas anfangen? Ist Ihnen der Unterschied zwischen Rolle und Figur klar?
Welche Aspekte der Rollenaneignung und Rollenarbeit lassen sich vom Schreibtisch des Autors dieses Textes in Ihren Probenraum transferieren? Schildern Sie die Eigenheiten dieser Übertragung!
Welche von mir geschilderten Dimensionen der Rollenzuschreibung werden bei Darsteller:innen eines Theaters in Schulen wirksam – welche nicht?
Geben Sie Beispiele!
Unterscheiden sich diese Dimensionen, wenn man diese auf die Spielleitung überträgt? Was wissen Sie als Theaterlehrer:in in dieser Rolle über die erfolgenden Zuschreibungen an Sie? Können Sie diese überhaupt klar formulieren?
Können Sie konkrete Phantasien für die Kostümierung, den körperliche Grundtonus, des mimischen und gestischen Repertoires für die von mir kurz angeschnittenen alternativen Textsorten entwickeln? Wie kommen Sie zu Ihren diesbezüglichen Phantasien?
Wie stehen Sie zur theatralen Nachahmung von Phänomenen aus dem Internet?
Lassen sich Personifikationen aus dem digitalen Raum (z.B. ein:e Influencer:in oder Greta Thunberg6Dieser Text hatte mehrere Vorgängerfassungen: In einem ersten Zugang, der noch konkreter an meinen Aufführungserfahrungen in Trier orientiert war, hatte ich mich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie es dazu kommen konnte, dass Greta Thunberg (beim SDL von mir in zwei Produktionen gesehen) zu einem szenischen Meme geworden ist. Ein Meme ist eine verdichtete Informationseinheit, die als Bild/Text-Gefüge ein kulturelles Phänomen zuspitzt und kommunikabel macht, wobei diese Form der Kommunikation stark auf die Logik der digitalisierten Kommunikation bezogen ist. Ich war einerseits der Frage nachgegangen, inwieweit Vorbilder aus der Welt der sozialen Medien bzw. dort oft anzutreffende Figuren als Rollenvorbild taugen, der man sich mimetisch per Rollenaneignung und ‑arbeit annähern kann. Andererseits hat mich in diesem Zusammenhang der Verlust an Komplexität bzw. die Entropie (= der Verlust von Informationen durch die Formatierung von Memes) interessiert, der stattfindet, wenn man Greta Thunberg als Meme (was einen Unterschied zur szenischen Typisierung aufweist) szenisch verwendet: Wenn tatsächlich vorhandene Emotionalität (‚how dare you‘) ins Lächerliche gezogen werden oder von einem ernsten Anliegen (das wahrscheinlich ohne Bewusstsein für die persönlichen Konsequenzen in der – mittlerweile ikonischen – Kombination von Ostfriesennerz und Protestplakat begonnen wurde) eben nur noch Jacke und Schild als Meme übrig bleiben, was wird dann noch erzählt? Allerdings haben die aktuellen politischen Entwicklungen im Nahen Osten, die – vorsichtig formuliert – ambivalente Positionierung von Greta Thunberg und die Frage, in welcher Rolle sie über was sprechen soll / kann / darf, mich von diesem Ansatz abgebracht.) in das Verhältnis Rolle–Figur bringen?
Ich schreibe diesen Text aus Gründen.
Die qualitative Weiterentwicklung eines zeitgenössischen Theaters an Schulen, das signifikant durch Schüler:innen und ihre Positionierung zur Welt und ihren Wirklichkeiten geprägt sein sollte, ist mir ein zentrales Anliegen. Dabei begreife ich Theater als ein Mittel, um Einsichten über mir nicht unbedingt zugänglichen Lebensbereichen und Denkmustern (der involvierten Schüler:innen) zu gewinnen. Mir ist klar, dass dazu ein Prozess gehört, in dem Erwachsene nötig sind, die Ermunterungen aussprechen müssen. Allerdings muss jenen bewusst sein, dass es nicht hinreicht, lediglich Ermunterungen zu adressieren; im Sinne eines emanzipatorischen (und damit bildungstheoretisch relevanten) Ansatzes geht es um Ermutigungen, die die erwachsene Position kritisch berücksichtigen bzw. die erwachsene Person selbst kritisieren können / müssen.7„Der Theatermacher oder der Regisseur wollte, dass die Zuschauer dieses und jenes sehen und fühlen, dass sie dieses verstehen und jene Schlussfolgerung daraus ziehen. Das ist die Logik der verdummenden Pädagogik, die Logik der direkten und identischen Übertragung: es gibt etwas – ein Wissen, eine Fähigkeit, eine Energie auf der einen Seite – in einem Körper oder einem Geist, das auf eine andere Seite übergehen soll. Was der Schüler lernen muss, ist das, was der Lehrer ihn lehrt. Was der Zuschauer sehen soll, ist das, was der Regisseur, ihn sehen lässt. Was er fühlen soll, ist die Energie, die er ihm überträgt. Dieser Vorstellung von Ursache und Wirkung, die der Kern der verdummenden Logik ist, setzt die Emanzipation ihre Trennung entgegen. Das ist der Sinn des Paradoxes vom unwissenden Lehrmeister: Der Schüler lernt vom Lehrmeister etwas, was der Lehrmeister selbst nicht weiß. Er lernt es als Wirkung der Beherrschung, die ihn dazu zwingt zu suchen und diese Suche zu verifizieren. Aber er lernt nicht das Wissen des Meisters.“ Vgl. Jaques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, in: ders.: Der emanzipierte Zuschauer. Wien: Passagen, 2008, S. 11–34. Hier S. 24. Dass es so etwas wie die Gleichheit der Intelligenzen (von der Rancière spricht) geben kann, zeigen die Nachbesprechungsformate der Schüler:innen; ich bin fast sicher, dass dort substantiellere Dinge verhandelt werden als in den Fachforen der Erwachsenen…
In diesem Zusammenhang erlaube ich mir noch ein paar Bonusfragen, die sich einerseits an bestimmten Setzungen des SDLs abarbeiten und andererseits Anregungen für einen Transfer in eigene Praktiken bieten sollen, die das Ziel der intellektuellen Emanzipation verfolgen:
„Wer spielt welche Rolle und wozu? Wie füllt man eine Rolle? Um unsere Gesellschaft zukunftsfest zu machen, braucht es reflektierte und rollenerprobte Menschen. Menschen, die das Licht der Öffentlichkeit nicht scheuen und sich lautstark für eine weltoffene, solidarische und nachhaltige Gesellschaft einsetzen. Das SDL*23 zeigt, dass Schultheater ein Raum der kulturellen und sozialen Bildung ist – mit dem Anspruch, selbst Dinge ins Rollen zu bringen und Gesellschaft zu bewegen.“
Dieses Zitat stammt aus dem Vorwort zum Programmheft des SDL 2023 in Trier und ist von Malu Dreyer, der Ministerpräsidentin des Gastgeberbundeslands Rheinland-Pfalz. Wissen Sie, was der Begriff ‚zukunftsfest‘8siehe https://www.duden.de/rechtschreibung/zukunftsfest. Dort wird er als Adjektiv aus dem Politjargon bezeichnet… Ok, wenn zukunftsfest ein Adjektiv ist, müsste es auch ein Gegenteil dazu geben: Wäre das vergangenheitslos oder ‑locker? Oder Steigerung: Wie lautet der Superlativ von zukunftsfester? Und nach fest kommt ab? bedeutet?
Was erzählt der Vorgang, dass die Ministerpräsidentin des Ausrichterbundeslandes von einem Kind zu Werbezwecken gedoubelt wird?9Ich beziehe mich auf die Werbekampagne des SDL und den Auftritt des Doubles bei der Festivaleröffnung; siehe: https://sdl2023.de/mediathek (letzte Sichtung am 27.11.2023).
Worin bestehen genau die Qualitäten eines ‚rollenerprobt‘-Seins?
Warum werden junge Menschen in diesem Zusammenhang dazu ermutigt, sich lautstark für eine Gesellschaft mit progressiven Eigenschaften einzusetzen, um, wenn sie dies tatsächlich mit ihren Mitteln tun, stigmatisiert, kriminalisiert oder gar (bspw. in Bayern) inhaftiert zu werden?10Hier nur ein paar Beispiele dazu: https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2023/05/scholz-letzte-generation-blockaden-voellig-bekloppt-.htm/listallcomments=on.html – oder: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022–11/alexander-dobrindt-klimaaktivisten-strafen-raf – oder: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-demonstration-praeventivhaft-klimaschutz‑1.5695288 (alle zuletzt gesichtet am 27.11.2023).
Wie steht es um die politische Lobby11gl. dazu https://www.prif.org/fileadmin/HSFK/hsfk_downloads/prif0522_barrierefrei.pdf (zuletzt gesichtet am 27.11.2023). für die Anliegen der Heranwachsenden? Besteht nicht ein gravierendes Missverhältnis zwischen den Ansprüchen der Erwachsenen und den Erwartungen an die Jugend bzw. der Jugend selbst? Immerhin projiziert hier eine Erwachsene in einer exponierten Position, in der Rolle einer Ministerpräsidentin, so etwas wie einen gesellschaftlichen Fortschrittswunsch an den Umstand, sich in der Adoleszenz möglichst reflektiert viele Rollen anzueignen – aber wozu denn eigentlich?
Welche Rolle kommt Kindern und Jugendlichen in der Politik, dem politischen Diskurs und gegenüber den politischen Akteuren (die man als boomer bzw. best ager bezeichnen könnte) denn überhaupt zu?
Besteht ein Zusammenhang zwischen den Erfahrungen des Ausgeschlossenseins von demokratischen Prozessen und gesellschaftlicher Teilhabe und der Zuneigung von immer mehr Jugendlichen an Formen regressiver Politik (wie es die Autoritarismus-Studie von 2020 aufgezeigt hat12siehe: https://www.gwi-boell.de/de/autoritarismusstudie-2020 (zuletzt gesichtet am 27.11.2023).
– und sich im überproportionalen Anstieg der Erstwähler:innen-Stimmen von rechtsextremen Parteien bei den letzten Landtagswahlen manifestiert)? Wird sich damit perspektivisch die empfundene Krise der Demokratie weiter verschärfen (was niemand wollen kann, der irgendwie ‚zukunftsfest‘ sein will)?
Hat das vielleicht etwas mit dem von mir geschilderten Verhältnis von Dialog, Debatte und Diskurs zu tun? Bzw. mit der vorgesehenen Rollenaufteilung von Expert:innen (= Diskurs)13Siehe: https://twitter.com/c_lindner/status/1104683096107114497?lang=de (zuletzt gesichtet am 27.11.2023). und Anderen, die davon ausgeschlossen werden?
Und weil der schöne (und hier kostenlose) Bildungsbegriff in dem Grußwort auftaucht: Wieso scheint das Feld der Bildungspolitik und der damit zusammenhängenden Arbeit, die man planerisch, konzeptionell und in Anpassung an die exorbitant veränderten Bedingungen der diversifizierten Lebenswelten investieren müsste, mittlerweile so vernachlässigt, dass Wahlen damit nur verloren gehen können?
Lohnt sich vor diesem Hintergrund für die Schüler:innen überhaupt noch ein Engagement – v.a. wenn ihnen Gesellschaft und Politik so offenkundig oft die kalte Schulter oder wahlweise den gestreckten Mittelfinger zeigen? Und wieso sieht man keine Gegenreaktion in den Produktionen des Festivals, vor allem, wenn Theater und dessen Praktiken als genuin politisch verstanden werden könnten?
Macht es vor diesem Hintergrund Sinn, sich auf Basis einer (von anderen bereits definierten) Rolle zu exponieren?
Und (weil es in einigen Produktionen auf dem SDL zu sehen war): Worin liegt der Reiz, Heranwachsende als konsumorientierte Minderleister:innen am Rande des Debilität zu zeigen? Werden so nicht viel mehr die (Rollen-) Muster der Ausgrenzung reproduziert, wo die Doofen doof bleiben, die Engagierten zur Zielscheibe von Hohn und Spott werden und die Armen als erkennbares Zeichen ihrer mehrschichtigen Bedürftigkeit eine Plastiktüte in die Hand gedrückt bekommen und mit Proll-Akzent sprechen? Wieso wiederholen sich die Defizite der Repräsentation von tatsächlich vorhandenen sozialem Elend, von dem auch das zeitgenössische Theatertheater gekennzeichnet ist, auch wenn es sich gern die ‚soziale Frage‘ oder Klassismus in die Motti seiner Spielzeiten setzt?
Wird im Gegensatz dazu der Chor zum Inbegriff der Funktionalität – und damit der neoliberalen Ideologie, deren eigentlicher Betrug es ist, zwar Individualität zu feiern, diese jedoch an ökonomische Potenz zu koppeln?
Würden Sie meiner These zustimmen, dass es in den Praktiken des Theaters an Schulen gar nicht zentral um Rollenarbeit gehen kann, weil eine chorische Formation der Schülerinnen und Schüler ökonomischer ist? Reproduziert sich im Chor der Kapitalismus als neoliberales Mindset (mit allen seinen Ambivalenzen)?
Müsste man das nicht kritisieren?
Wieso habe ich kaum eine Aufführung auf dem SDL gesehen, welche unmittelbar aus dem Krisenherd Schule einen lebensweltlichen Fokus auf dysfunktionale Schultoiletten, permanenten Unterrichtsausfall, Gewalterfahrungen, Ausgrenzung oder mangelnden Ressourcen für individuelle Begabungen und Potentiale legt?
Ist das Theater an Schulen, wenn es sich generell mit dem Elend der Welt befasst, auch in die Falle der moralischen Überfrachtung gegangen, wo institutionalisierte Theaterformen schon längst sitzen – v.a. wenn es als Blaupause für ‚kulturelle und soziale Bildung‘ herangezogen wird?
In diesem Sinne plädiere ich abschließend dafür, den schulischen Raum viel signifikanter als kulturell und sozial zu erschließenden Kontext zu befragen: So wird uns allen (v.a. uns Erwachsenen) vielleicht klarer, welche ROLLEN jenseits der (normativen) Schüler:innen-Rolle für die jungen Menschen überhaupt zur Verfügung stehen. Bei diesen Recherchen und Aushandlungen kann Theater (entweder als Idee oder Repertoire an Praktiken) hilfreich sein, so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit zu organisieren, in denen Nicht-Gesagtes eine Stimme, Nicht-Wahrgenommenes einen Körper bekommt und Nicht-Gewusstes erkennbar wird.