Michael Aust & Michael Schwinning
Theater im Lockdown, das hieß schon bald Kacheltheater. Das Konferenztool ZOOM kristallisierte sich dabei schnell als Werkzeug der Wahl heraus: Schnelles Zu- und Abschalten von Ton und Bild, hohe Übertragungssicherheit auch bei schlechter Netzqualität, virtuelle Hintergründe, verschiedenste Zuspielmöglichkeiten oder eine vergleichbar gute Tonqualität bei Musik- und Videoeinspielungen ließen über datenschutzrechtliche Bedenken hinweggehen. Es gab ein Spiel vor der Kamera in einem erahnbaren virtuellen oder realen Raum. Der Zuschauer war live dabei und konnte sich über Chat oder andere Möglichkeiten an der Aufführung beteiligen, was eine gewisse tatsächliche Präsenz von Spieler und Publikum suggerierte, inklusive einer Art von Feedback-Schleife. Dialoge und chorische Elemente waren möglich, sodass auf diese Weise eine gewisse Nähe zum Theater in seiner traditionellen Form bestand. Das ging so weit, dass digitales Theater und Kacheltheater per ZOOM fast zum Synonym wurden. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass im Programm des Festivals eine Reihe von Produktionen diesem Format folgten, es adaptierten oder produktionstechnisch nachvollzogen.
FeminisMuss – Bayern Albert-Einstein-Gymnasium München, Profilfach Theater und Film Q11/Q12, Spielleitung: Ingund Schwarz
Wir wollen alle eure Erwartungen erfüllen, aber werden daran scheitern – Thüringen. Evangelisches Ratsgymnasium Erfurt, Theaterkurs Klasse 9, Spielleitung: Arwen Burgau und Johanna Edom
The Waiting Room – Nordrhein-Westfalen, Marienschule Münster, Theater-AG-Ensemble ARTIG, Spielleitung: Christian Reick
Was wir dachten, was wir taten – Schleswig-Holstein, Berufliche Schule des Kreises Storman, Bad Oldesloe, Wahlpflichtkurs 13. Jahrgang, Spielleitung: Iris Klostermann und Knut Winkmann
Auffälligstes und sicher überzeugendstes Beispiel aus dieser Reihe ist das Stück FeminisMuss einer Oberstufen-Mädchen-Spielgruppe aus München.
Das ca. vierzigminütige Stück konfrontiert den Zuschauer mit verschiedenen performativen Szenen zum Thema Feminismus im weitesten Sinne. Neben Definitionsaspekten bietet es Zitate von Prominenten wie Emma Watson und Malala, die von einzelnen Schülerinnen präsentiert werden. Andere Szenen spielen dialogisch Männergehabe im Streit mit Frauenfragen aus oder schalten junge Frauen zusammen, die unterschiedliche Ansichten vertreten, wie die ideale Kleidung, nebst Beinrasur, auf einer Party aussehen könnte. Politische Zitate als Reeinactment einzelner Spielerinnen wirken humorvoll im Vergleich zu betroffen machenden Szenen mit sexistischen Werbemotiven als virtuellem Hintergrund oder Zitaten von Schlagzeilen, in denen Gewalttaten gegen Frauen dokumentiert werden, während Spielerinnen in der Badewanne Todeskämpfe pantomimisch ausspielen. Die Performance gipfelt in einer langen Sequenz von chorisch gegen die Kameras vorgeführten aggressiven Handlungen und Leiden zum Song Renn! von Enno Bunger, bis alle Spielerinnen in eine synchrone Bewegung einstiegen, in der sie mit der rechten Faust und einer vor die Brust schlagenden Bewegung ihre Solidarität miteinander zelebrieren.
Theatral wirkt diese Performance betroffen machend durch die Präsenz der Spielerinnen und die Liveness der Darbietung auf dem SDL, inklusive einiger Umfrageelemente per slido.com, die den Zuschauer*innen eine aktive Mitsprache und Mitwirkung ermöglichten. Andererseits bleibt diese Art der Präsentation immer eine Konferenz, die den Zuschauenden auf Distanz lässt. Eine Ansammlung von optischen Kacheln, die alle Augen oder Münder präsentieren, beeindrucken zwar, sind aber letzten Endes weit weg. Zu dieser Distanz trägt die auf ZOOM unumgängliche filmische Komponente bei. Groß- und Detailaufnahmen überwiegen. Die Kamera spielt mit ihren möglichen Perspektiven, die hier beeindruckend ausgelotet werden, eine tragende mediale Rolle zwischen Zuschauenden und Spielenden.
Die Produktion bleibt in dieser Präsentationsform, in der Perfektion des Spiels und der Nutzung durchaus ein interessanter Beitrag zum Festival und seinem Thema. ZOOM erwies sich zum Transport der Botschaften und Inhalte als ideales Tool. Für in Präsenz gespieltes Theater bleibt es nur ein bedingter Ersatz.
Theater bildet sich hier in besonderer Form in choreographierten Kacheln im digitalen Raum ab. Das verändert die Art theatraler Präsentation auch, indem sie Einblicke in private Lebenswelten gibt, die hier unter anderem als „Bühnenbild“ erscheinen. Die Darstellung wird geprägt von Formaten der Selbstdarstellung, mit deren Hilfe wirkungsvoll kommuniziert werden kann.
Gleichzeitig spiegelt diese Form digitale Welten wider. Informationen werden vielfach über filmisch vermittelte Blog-Formate oder filmische Reportagen verbreitet. Auseinandersetzungen mit Inhalten und Meinungen nutzen die Möglichkeiten der Konferenzwerkzeuge und der bildgebenden digitalen Verfahren. Menschen synchronisieren und verlieren sich über digitale Medien in ihrem Engagement und ihrer Verweigerung.
Gleichzeitig kann diese Form den Zuschauer zu kritischer Haltung gegenüber medialen Inhalten anregen: Was sind die Umfrageergebnisse wert? Wie repräsentativ sind die ausgewählten Zitate und Bilder zum Thema? Wie sehr nimmt die Ernsthaftigkeit in Spiel und Format den Zuschauer ein – und manipuliert in gewisser Weise schon in der Form? Fragen, die nicht nur den Umgang mit digitalen Medien betreffen, zu denen aber diese Aufführung bei kritischer Betrachtung unbedingt hinführt.
Ähnliches leistet Wir wollen alle Erwartungen erfüllen, aber werden daran scheitern (Thüringen), eine ZOOM-Präsentation als Gameshow mit einem Moderator und sieben Teilnehmer*innen, die verschiedenen Live-Challenges ausgesetzt werden. Die Punkte für Sieger und Verlierer, die der Moderator in Form von bunten Bällen in Gläser mit Namen der Spieler*innen füllt, ergeben sich zum Teil aus der Rangfolge beim jeweiligen Game oder aus der Abstimmung des Publikums. Dazwischen werden die Spieler*innen mit persönlichen Daten bzw. Beschreibungen von Haltungen vorgestellt, während sie wie ruhende Gaming-Figuren in ihren Räumen zu Hause wippen. An verschiedenen Stellen, nicht zuletzt am Schluss, präsentieren ausgewählte Spieler*innen selbst verfasste Texte rund um das Thema „Erfüllen von Erwartungen“ oder „Scheitern“ aus dem Blickwinkel von Erfolg oder Schönheit.
Obwohl das Thema selbst auf die im Internet (und im Leben) omnipräsente Frage wirkungsvoller Selbstpräsentation verweist, bleibt die Aufführung in dieser Hinsicht vergleichsweise zurückhaltend. Dieser Eindruck entsteht vor allem durch die etwas beliebig wirkenden Aufgabenstellungen. Auf der einen Seite ist es eine reale Herausforderung, in diesem Kontext das Publikum zu fragen, wer seiner Meinung nach verlieren solle oder wer das schönste Zimmer habe. Fragen, auf die die real Spielenden nicht nur Punkte, sondern eben auch ein öffentliches Feedback erhalten. Ähnlich auch die bekannte TikTok-Challenge „Nimm einen Finger runter, wenn…“, bei der die Bedingungen so gestellt sind, dass der Spieler aus dem niedrigsten sozialen Hintergrund die wenigsten Punkte bekommt. Andere „Spiele“ aber sind reine Geschicklichkeits- und Kraftspiele, bei denen die Gewinner innerhalb der Gruppe vorhersehbar sind.
Die Spieler*innen inklusive des Moderators bleiben fest an ihren Online-Plätzen, die erkennbar in ihren Zimmern verortet sind, und begeben sich höchstens für sportliche Übungen in die Standwaage, in eine bis zum bitteren Ende durchgehaltene Kniebeugen-Challenge oder in eine körperliche Präsentation von sich selbst als Gaming-Figur. Insgesamt drängte sich der Eindruck auf, dass etwas verschwamm, was real und was „scripted“ war. Ist der Persönlichkeitsstriptease eventuell ein dramaturgisches Mittel? Und wird damit nicht der Verdacht einer Fake-Reality aufgedeckt, wie er uns ja tatsächlich aus allen Unterhaltungsprogrammen entgegen leuchtet? Die Gruppe unterstützt eine solche Sicht durch eine immer absurder werdende Punktvergabe, die einerseits allen Prinzipien von Gerechtigkeit widerspricht, andererseits aber auch eine Gewinnerin am Ende kürt, deren Sieg von Anfang an in der Luft lag.
Digitalität ermöglich Manipulation auf vielen Ebenen, etwa bei der Bildbearbeitung oder bei dramaturgischen Absprachen im Rahmen von Live-Inszenierungen, die den Sieger und die Spannungskurve der Präsentation vorausplanen. In dieser Hinsicht könnte die Performance ein kritischer Beitrag zum Thema Digitalität gewesen sein, was aber so nicht problematisiert wurde.
Eine weitere Produktion im ZOOM-Format behandelte das Thema The Waiting Room (Nordrhein-Westfalen). Das Stück zeigt in einer langen Serie von Monologen Menschen in Wartesituationen. Den thematisch-inhaltlichen Background liefert eine Art Mastermind-Figur mit allgemeinen Reflexionen, die immer wieder zwischen die Monologe geschaltet werden.
In der Präsentation sind stets drei bis vier Kacheln geöffnet, in denen eine Spielerin ihren Monolog spielt, während in den anderen Kacheln pantomimisch parallel agiert wird, wobei die dortigen Figuren zu anderen Zeiten die Hauptkachel bespielen bzw. bespielt haben und ihre eigene Präsentation dadurch vorbereiteten oder in gewisser Weise fortsetzen. Anders als in anderen Produktionen, die Zoom als zentrale Technik nutzten, wurden die Bildausschnitte hier inszeniert als ein Blick in Innenräume durch die 4. Wand. Der Zuschauer sieht Figuren als Handelnde in ihren Räumen, etwa einer Sporthalle oder auch nur dem oberen Teil eines Bettes. Daraus entwickelt sich eine Erwartungshaltung in Bezug auf das Problem der Figur. Schnell wird deutlich, dass Bestandsaufnahmen einer Situation gezeigt werden. In keiner der Szenen findet eine Entwicklung statt, so dass alle am Ende ihres Monologs in die Wartehaltung zurückkehren. Die Monologe werden zwangsläufig an das Publikum gerichtet, was schlussfolgern lässt, dass die Figuren wissen, dass sie beobachtet werden. Das Spiel zieht daraus aber keine Konsequenz.
Viele der Wartesituationen entnahmen die Schülerinnen den Erwachsenenwelten, die sie mit Bemühen nachzuempfinden suchten: Warten auf ein Casting, Abgeschiedenheit in einer Anstalt nach einer traumatisierenden Familienkatastrophe, Nicht-mehr-gefragt-Sein als Star oder Auf-Pausen-Warten im Büro. Andere Situationen werden durchaus dem Leben Jugendlicher abgeschaut: Warten auf das Computerupdate, obwohl dringend ein Bewerbungstermin eingehalten werden muss, Warten auf das Ergebnis eines Schwangerschaftstests oder Ausloten der Möglichkeit einer Verabredung. Neben den reinen Monologen präsentieren sich die Szenen als Dialog mit Stimmen aus dem Off, fiktiven Gesprächen oder Bewegungspräsentationen zu Musik. Die sichtbaren Kacheln liefern die Gegenwart von Parallelwelten, nehmen sehr selten oder eher zufällig Bezug auf die zeitgleichen Situationen. Ausnahme: In der Szene, in der eine Figur anfängt darum zu beten, nicht schwanger zu sein, falten in den anderen drei Kacheln die Spieler*innen auch die Hände wie zum Gebet. Es gab auch andere Momente, in denen man meinte, für einen Sekundenbruchteil eine Korrespondenz der Situationen zu erkennen, daraus entstand aber nie eine übergeordnete Erzählebene, die das Konzept ja im Grunde auch verbietet.
Bei dieser Produktion bekommen der Bühnenraum und das Kostüm größte Aufmerksamkeit, da sie sehr bewusst gewählt, nicht nur bespielt werden, sondern atmosphärisch mitspielen. Um dafür genügend Raum auf den Bildschirmen zu gewinnen, sind jeweils maximal vier Kacheln offen, was allerdings schon für ein Handydisplay ungünstig ist. Die Produktion verlangt eine größere Bildfläche, um die Bildhintergründe auszuloten.
Auch diese Präsentation war erkennbar der Distanzunterrichtsituation geschuldet, da der Isolationszwang logisch dazu führte, in Monologen zu arbeiten. Die relativ willkürliche Reihung der Szenen, die keine zwingende Dramaturgie erkennen ließen, versetzten den Zuschauer selbst in die dramatische Situation des Wartenden, denn das Konzept und damit die Anzahl der Monologe erschlossen sich schnell.
Digitalität bildet sich hier ab als Realität, in der viele Welten und Wirklichkeiten nebeneinander existieren. Im digitalen Raum geschieht unendlich vieles parallel und in Form von Selbstdarstellung. Und es gibt eine Pseudokommunikation mit einem Gegenüber, das besonders schwer einzuschätzen ist. Da Waiting Room ohne aktive Publikumsreaktion konzipiert wurde, war immer unklar, ob die Performance live stattfindet, was die Form suggeriert. Nur Recherche bestätigt, dass es sich um ein Live-Event handelte, das schon vorher im schulischen Umfeld so realisiert worden war.
Bei Was wir dachten, was wir taten aus Schleswig-Holstein war von Anfang an klar, dass es sich um keine Liveproduktion handelte. Das Stück reflektiert in Selbstaussagen verschiedener Schüler*innen den Ablauf und die Hintergründe eines Amoklaufs. Es handelt sich um die Adaption der viel beachteten Romanvorlage von Lina-Lea Oppermann, die schon Bearbeitungen als Dramatisierung und Hörbuch erfahren hat. Eine maskierte, bewaffnete Person dringt in eine Schulklasse ein und bedroht die Anwesenden, zunächst ohne erkennbares Ziel. Schnell stellt sich aber heraus, dass die Person sehr viel unangenehmes Detailwissen über die Mitglieder der Gruppe hat. Es geht um Konsequenzen moralisch verwerflichen Handelns, die im Verlauf des Stückes eskalieren.
Die hier eingesetzte filmische Produktion bannt die Aussagen der Schüler vor jeweils weißer Rückwand in Kacheln eines Splitscreens und folgt so in der Ästhetik dem Theater-Kachelprinzip. Die festgehaltenen Texte, neutraler Bericht, Statements zur Situation oder zu Personen, aber auch wörtliche Zitate aus der Amoksituation, verweisen auf eine gute sprachliche Schulung der Spieler*innen. Trotz eines nicht immer linearen Vorangehens in der Handlung, ist stets klar, wer sich wozu gerade mit welcher Emotionalität wozu äußert.
Da es sich überwiegend um geschickt montierte Schnipsel von Zeugenaussagen handelt, ist die formal-ästhetische Entscheidung für das Splitscreen-Format konsequent. Die filmische Bearbeitung erlaubt eine rasante Text- und Fensterwechsel-Folge, in der der Klassenraum optisch evoziert wird. Im Kachelmuster entsteht eine feste Sitzordnung der Schüler*innen und des Lehrers. Die eigentliche dramatische Handlung wird nicht visualisiert, sondern erinnert an das dramaturgische Prinzip der „Mauerschau“. Die eingesetzten Mittel evozieren dabei sehr eindrücklich die beklemmende Vorstellung der Ereignisse.
Dazu kommen filmische oder fotografische Elemente, die den Kacheln hinterlegt oder eingefügt sind, wie etwa die anfängliche Durchsage einer Gefahr über die Lautsprecheranalage der Schule oder eine Kamerafahrt in Negativoptik durch einen Wald. Das sind filmische und bildhafte Ergänzungen, die den Inhalt szenisch visuell verdichten und die ohnehin schon spannende Präsentation positiv stützen. Ein zusätzliches dramaturgisches Element sind Wechsel in den Kachelgrößen, etwa um die Autorität der Lehrerfigur oder das Entsetzen einzelner Schüler*innen hervorzuheben.
Insgesamt war die Produktion eine gut durchdachte, überzeugend gespielte und professionell montierte Umsetzung der Romanvorlage in ein filmisches, digitales Format. Eine Auseinandersetzung mit der digitalisierten Welt, der diese ästhetische Form entlehnt war, war hier nicht Absicht und hätte der spannenden Wirkung der Erzählung eher geschadet.
Lehrer am Egbert-Gymnasium der Benediktiner in Münsterschwarzach. Seit Beginn erzieherischer und unterrichtlicher Tätigkeit Theaterlehrer in verschiedensten Inszenierungsformen und Gruppierungen. Ausgebildet an der Akademie in Dillingen und an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seitdem als Referent und Autor in verschiedenen Zusammenhängen tätig. Vorsitzender des Verbands Theater am Gymnasium in Bayern und Mitglied des erweiterten Vorstands der Landesarbeitsgemeinschaft Theater und Film in Bayern, zuständig für die Organisation der Ausbildung von Junior Assistenten Theater.
Arbeitet seit den achtziger Jahren als Theaterlehrer an einem Hamburger Gymnasium, war von 2009 bis 2014 im Vorstand des Hamburger FvTS tätig und Mitorganisator des Schultheater der Länder 2009 in Hamburg (Site Specific) sowie des Hamburger Festivals „theatermachtschule“, tms. Er hat zahlreiche Texte für die Publikationen Spiel&Theater, Schultheater und für den Fokus Schultheater verfasst. Theatergruppen unter seiner Leitung nehmen regelmäßig an lokalen Wettbewerben teil.