Tanja Finnemann
Eigenproduktion nach Igror Bauersima
Geschwister-Scholl-Gymnasium, Daun
Rheinland-Pfalz
Freie Gruppe aus ehemal. Theater-AG und DS-Kurs MSS 12
Mitwirkende: 10 Schüler*innen
Spielleitung: Tanja Finnemann und Volker Weinzheimer
Projektentwicklungen im Schultheater sind immer wieder einzigartig. Die Teilnehmenden sind aktiv in den Entstehungsprozess eingebunden und fühlen sich im Probenprozess verantwortlich für das gemeinsame Produkt. Eines ist aber all diesen Prozessen gemein: Die Vorfreude auf die Präsentation vor Publikum und die Freude über ein wertschätzendes Feedback.
In diesem Projekt bestimmte vor allem die Vorfreude auf die „große Bühne“ und „jede Menge Publikum“ die anfängliche Probenzeit: Die Schüler*innen hatten sich zum Teil seit der 5. Klasse in der Theater-AG engagiert und wollten zum Abschluss ein ganz besonderes Stück für ihre Jahrgangsstufe, für Freund*innen und Familien inszenieren. Doch dann kam die Pandemie und schnell wurde klar, dass ein Auftritt vor Publikum vor dem Abitur im März in immer weitere Ferne rückte und schließlich gänzlich unmöglich wurde.
Zunächst herrschte lähmende Stille in der Gruppe. Die Proben am Dienstagnachmittag fielen aus und die Schüler*innen konzentrierten sich in der letzten anstrengenden Phase vor dem Abitur auf den Distanzunterricht. Doch je mehr deutlich wurde, dass auch die Abifeier und die üblichen Partys dem Lockdown zum Opfer fallen würden, desto größer wurde der Unmut.
Irgendetwas musste passieren. Es konnte doch nicht sein, dass nach einer langen Schul- und Theaterzeit der Abgang so still und leise sein würde. So kam die Idee auf, sich zumindest digital von der Schulgemeinschaft zu verabschieden. Und bei allem Brainstorming zur Ideenfindung war doch immer etwas Wehmut dabei, dass das eigentliche Stück Tattoo von Igor Bauersima nun doch keine Bühne finden würde.
„Man hat sich schon voll mit seiner Figur identifiziert und jetzt wird nichts draus“, war nur eine von vielen Stimmen, die unser neues Projekt letztendlich ins Rollen brachte. Warum eigentlich nicht die Figuren, die schon Teil des Alltags der Schüler*innen geworden waren, zum Leben erwecken?
Nach der Erarbeitung des eher ernsten und emotional mitreißenden Stücks Alice im Anderland im Jahr 2019 war es der Gruppe wichtig, zu einer auch komödiantischen Vorlage zu arbeiten, und dabei stand der Wunsch im Vordergrund, etwas in Richtung des Stückes Kunst von Yasmina Reza zu erarbeiten. So fiel die Wahl auf Tattoo von Igor Bauersima (Bauersima 2003), ein Stück, das ähnlich wie Kunst die großen Themen „Freundschaft“ und
„künstlerische Freiheit“ in den Fokus rückt. Da das Stück den Schüler*innen nur zum Teil bekannt war, bestanden die ersten Stunden aus Übungen, die das Annähern an den Text fokussierten und dabei Inspirationen und Bilder aus den Bereichen Freundschaft und Kunst erschaffen sollten.
Beispiel 1: Raumlauf mit assoziativen Gefühlszuständen (nach Kündiger 2019, S. 82)
Beispiel 2: Eine Gruppenskulptur bauen (nach Kündiger 2019, S. 90)
Dieser Phase folgte das intensive Arbeiten und Sich-Beschäftigen mit dem Text. Bereits hier war die Probenarbeit pandemiebedingt einigen Einschränkungen unterworfen. Zunächst fanden mehrere Sitzungen statt, in denen das Stück mit verteilten Rollen mehrmals neutral und ohne spielerische Aspekte in der Gruppe gelesen wurde. Dabei entstanden immer wieder innerhalb der Gruppe durch Verständnisfragen und Kommentare angeregte Diskussionen über Inhalt und Figurenzeichnung. Klar war, dass noch eine Menge Arbeit an der Textvorlage auf die Gruppe zukam, da das Stück gekürzt werden musste und auch neue Figuren erfunden werden sollten, denn die Gruppe besaß mehr Mitglieder als Rollen im Stück vorhanden waren.
So stand zu Beginn die Überlegung, welche Teile des Stücks für das inhaltliche Verständnis unabdingbar seien.
Eine spielerische Herangehensweise, um herauszufinden, welche Teile des Stücks für das inhaltliche Verständnis unabdingbar sind, ist das Nacherzählen des Textes:
Beispiel: Erzählkreis
Variation:
Diese Übung legt das dramaturgische Grundgerüst fest. Hier kristallisiert sich heraus, welchen Erzählstrang die Gruppe als wichtig erachtet. Im sich anschließenden Reflexionsgespräch kann thematisiert werden, welche Teile gelungen scheinen und wo Verbesserungs- und Erklärungsbedarf besteht.
Im weiteren Verlauf rückten dann immer wieder Übungen in den Mittelpunkt, die das Einfühlen in die Rolle thematisierten.
Beispiel: Sitzen, um zu…
In einem sich anschließenden Gespräch wurde gemeinsam mit der Gruppe überlegt, welches Setting das schlüssigste für unsere Spielfassung sein könnte und welche Möglichkeit es gebe, das Figurenarsenal zu erweitern. So wurde aus dem Originalpaar Fred (Schriftsteller) und Lea (Schauspielerin) eine Frauen-WG, bestehend aus Frida (Schriftstellerin), Lea (Youtuberin) und Zoe (Aktivistin und Veganerin) und aus Tigers bestem Freund Alex wurde seine Managerin (Alex). Die restlichen Figuren blieben bestehen. Da mit der Youtuberin Lea das Feld für den Social Media-Bezug geebnet war, war auch schnell klar, dass weitere Figuren diesem Umfeld entspringen könnten (die TikToker @sorum und @andersrum, Bibi und Babsi von der Bravo-Social Media Crew, der Instagramer Alejandro, seines Zeichens Kunstfreak). Als die Rollen verteilt waren, hatten alle Ensemblemitglieder durch die Methode Rollenbiographie und vertiefende Übungen Gelegenheit ihre Rolle auszubauen.
Schreiben einer Rollenbiographie
Eine Rollenbiografie behandelt folgende Aspekte (vgl. Scheller 2004):
Beispiel: Inszenieren der Figur anhand von Fotos (Arbeitsauftrag)
Neben dem Verfassen der Rollenbiographie sollt ihr eure Figur natürlich auch noch inszenieren. Entwickelt bitte eine eigene Körperhaltung, überlegt euch ein passendes Kostüm und inszeniert euch auf fünf Fotos mit Körperhaltung, Kostüm und typischen Requisiten an typischen Orten in verschiedenen alltäglichen Situationen.
Beispiel: Interview Speeddating (Arbeitsaufträge)
Zeitungen:
Bild, FAZ, Bravo, Harper’s Bazaar, Runners World. Gala, Flow, In Style, Stilvoll Wohnen, Ein Herz für Tiere, Mein schöner Garten, Psychologie heute, Glamour, GQ, Fire and Food
Normalerweise wären wir an diesem Punkt in die intensive Probenarbeit eingestiegen. Da der Lockdown diese Pläne verhinderte und auch absehbar war, dass dieses Stück bis zum Ende der Schulzeit der Beteiligten nicht auf die Bühne gebracht werden könnte, waren wir kurz davor, alles abzusagen und zu resignieren. Einige Wochen vergingen, in denen nichts stattfand, die Schüler*innen sich mit den Abiturprüfungen beschäftigten und alle schon fast mit dem Projekt abgeschlossen hatten. Doch im Frühling, kurz vor der Verabschiedung der Abiturient*innen, gab es ein letztes Abschlusstreffen der AG. In diesem Gespräch ging es vor allem darum, dass man das Gefühl hatte, die Figuren des Stücks hätten bereits ein Eigenleben entwickelt. Und plötzlich war die Idee da: Warum nicht die Figuren weiterentwickeln und so tun, als gäbe es die Figuren und ihre Geschichte wirklich – gerade eine Social-Media Plattform bietet in diesem Zusammenhang viele Möglichkeiten. Gemeinsam mit den Schüler*innen entstand die Idee, das Stück über die Plattform Instagram zum Leben zu erwecken.
Dabei sollte es eine Hauptseite geben (@tattotheater => der Rechtschreibfehler erklärt sich durch die Rechtschreibschwäche der Hauptfigur Frida, die diesen Account angeblich ins Leben gerufen hat) und zusätzlich sollte jede Figur des Stücks auch eine eigene Seite besitzen, über die man zusätzlichen Content über das Stück hinaus posten und verfolgen kann.
Auf der Hauptseite werden auf einzelnen Fotos die Hauptfiguren des Stücks vorgestellt. Zusätzlich kann man über die Storys (festgehalten in den Highlights der Seite), den Inhalt des Stückes verfolgen, tagebuchartig dargestellt durch die einzelnen Figuren. Immer wieder kann man, auch geleitet durch die Storys der Hauptseite, die einzelnen Seiten der Figuren aus dem Stück besuchen.
Im Vorfeld der Veröffentlichung besprachen wir in der Gruppe das grobe Handlungsgerüst, machten einige Fotos für die Social-Media Präsenz, drehten kurze Videos und verabredeten Termine für die „Première“ und Folgeposts.
Das Projekt ist im Folgenden von Improvisation und Überraschung geprägt. Am Premierenabend veröffentlichten wir zunächst nach und nach die Fotos der Hauptfiguren und gaben Einblick in den groben Inhalt des Stückes. Durch Verlinkungen, Hashtags, Einladungen an Freunde und Bekannte gelang es, eine immer größere „Follower-Gemeinschaft“ zu gewinnen, die den Lauf des Stückes verfolgte und auch beeinflusste.
In den folgenden Tagen veröffentlichten wir abendlich Story-Elemente, die den Fortlauf des Stückes prägten. Immer wieder integrierten wir Elemente, die auch die Interaktion mit den Followern förderten: Umfragen, Ratespiele, Verlinkungen, Fragen, Abstimmungen und auch die Möglichkeit, Figuren über den Messenger direkt zu kontaktieren, Beiträge zu kommentieren und zu liken. Hier zeigt sich eine Schnittstelle zwischen den Formaten Theater und Social Media, die sich von Videoformaten unterscheiden. Ähnlich wie im Theater schafft man es bei Social Media, in Interaktion mit dem Publikum zu treten und über Feedback-Instrumente das direkte Spiel zu beeinflussen. Durch dieses Feedback und die Zuschauerreaktionen entsteht auch eine weitere Besonderheit des Formates: die Improvisation und Überraschungsmomente. Das dramaturgische Grundgerüst besteht zwar, die einzelnen Beiträge wurden aber von den Schüler*innen improvisiert und hochgeladen, ohne dass alle die Beiträge vorher gesehen hatten. So entstand immer wieder ein Überraschungsmoment für das ganze Ensemble.
Im Hintergrund agierten wir über einen Gruppenchat, tauschten Ideen aus und gaben uns gegenseitig Feedback. Es entstand auch ein Lernprozess, da deutlich wurde, wie wichtig es war, Beiträge der einzelnen Figuren zur Hauptseite zu verlinken. Manchmal mussten wir auch vom Skript abweichen und Fragen der Zuschauer*innen beantworten, die uns zuvor verdeutlicht hatten, dass nicht alle Inhalte nachvollziehbar für außenstehende Personen waren.
Eine Besonderheit von Instagram Storys ist es, dass man sehr leicht Elemente einfügen kann, die der Story ein besonderes Erscheinungsbild geben (Musik, Filter, Gesichtsfilter, Gifs, Emojis,…). Auf der anderen Seite ist man immer wieder beschränkt auf kurze Clips. Soll ein längerer, zusammenhängender Film gezeigt werden, sind wir deswegen auf das ebenfalls von Instagram angebotene IGTV-Video ausgewichen. Die Zuschauer*innen mussten dann dem ausgewiesenen Link folgen.
Insgesamt zeigte sich für unser Projekt, dass Instagram die richtige Wahl war, um in Zeiten von Social-Distancing ein Theaterprojekt zu stemmen, da die Schüler*innen im Unterschied zum reinen Medium Film immer wieder in Interaktion mit dem Publikum treten konnten und ähnlich wie im „richtigen Theater“ auch direktes Feedback erhielten.
Natürlich bleibt aber auch zu beachten, dass das Medium aus Datenschutzgründen nicht unbedingt für Unterrichtszwecke zu empfehlen ist. In unserem Fall waren alle Beteiligten volljährig und bereits mit eigenen Accounts auf Instagram vertreten.
Trailer tato(o)theater
Bauersima, Igor: norway.today. Fischer Taschenbuch; 18. Edition 2003. Im Buch enthalten ist auch das Stück „Tattoo”. Die Rechte für die Aufführungen von Amateurtheatern und Schultheatergruppen liegen beim Deutschen Theaterverlag: https://www.dtver.de/de/theater/index/product/product_id/11990 (zuletzt aufgerufen am 31.07.2021)
Ingo Scheller, Szenische Interpretation, Theorie und Praxis eines handlungs- und erfahrungsbezogenen Unterrichts, 2004 Kallmeyer / Klett, S. 62 – 64, online zu finden hier: https://www.teachsam.de/deutsch/d_schreibf/schr_schule/protex/ protex10_8_4_2_2.htm
Kündiger, Sabine: Praxis Schultheater. Reihen und Modelle für die Sekundarstufe I und II. 2019, S.82 und S.90
Seit Ende 2021 Regionale Fachberaterin Darstellendes Spiel Rheinland-Pfalz Nord; Lehrerin am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Daun (Darstellendes Spiel, Deutsch, Erdkunde); Leitung der Theater-AG zusammen mit einem Kollegen, Teilnahme an verschiedenen Landesschultheatertreffen, 2019 beim SDL in Halle, 2021 in Ulm; 1999–2001 Mitglied im Jugendclub des Theaters Trier danach in verschiedenen Ensembles der Tufa Trier (Schauspiel); zur Zeit im Vorstand des Katz-Theaters Trier, dort Regietätigkeit und Schauspiel.