Sofie Hüsler
Eigenproduktion
Willy-Brandt-Teamschule Wedding
Berlin
Klasse 8b
Mitwirkende: 12 Schüler*innen
Spielleitung: Sofie Hüsler
Klassenlehrerin: Jana Reulen
Videomontage: Toni Lind
Theaterpädagogische Betreuung: Maura Meyer, Junges Deutsches Theater
Das Abenteuer beginnt direkt auf einem Spielplatz hinter der Schule im Wedding. Hier öffnet sich plötzlich ein Tunnel, der die zwölf Jugendlichen der Klasse 8b auf eine unbekannte Insel bringt. Am Anfang ist sie ein Traumort – ohne Schule, ohne Corona und vor allem ohne Erwachsene. Doch plötzlich sind drei Jugendliche verschwunden. Der Rest der Gruppe macht sich auf die Suche…
Mit GIFS, eigenen Avataren, Fotos, selbstgestalteten Stickern, Sprachnachrichten und Handyvideos wird der Klassenchat zur gemeinsamen Bühne. So entsteht ein digitales WhatsApp-Sticker-Drama, das die Zuschauer*innen herausführt aus dem Lockdown auf die Insel der 8b und das gleichzeitig ein Theaterprojekt in besonderen Zeiten dokumentiert.
Das Projekt fand im Rahmen einer TUSCH-Kooperation der Willy-Brandt-Teamschule mit dem Jungen Deutschen Theater statt. Die thematische Vorgabe lautete: Die Klasse gelangt in diesem Theaterstück allein auf eine Corona-freie Insel, erlebt dort Abenteuer und muss Regeln für den Umgang miteinander aushandeln.
Geplant war eine Aufführung im März 2021 auf einer kleineren Bühne im Deutschen Theater und eine Aufführung in der Aula der Schule.
Ab November 2020 wollten wir einmal wöchentlich proben. Zudem waren intensive Probenwochen vor den Winterferien im Februar und vor der Première im März vorgesehen.
Der Plan war schon bald hinfällig, da ab Mitte Dezember der zweite Lockdown das gemeinsame Proben in der Schule beendete.
Wöchentliche Probe in der Schule (1,5 Std. / Woche)
Im November und Dezember trafen wir uns einmal wöchentlich zu einer Theaterprobe à 1,5 Stunden. Alle Warm-up-Spiele fanden auf Abstand statt, alle Teilnehmer*innen trugen eine medizinische Schutzmaske.
Vorgegeben von mir war die Grundsituation der Geschichte: Bei der Silberkugel, auf dem Spielplatz neben der Schule, befindet sich ein geheimer Eingang. Dieser führt direkt zu einer einsamen Insel.
Was die Klasse sowohl auf dem Weg dahin als auch auf der Insel erlebt, wollten wir gemeinsam durch unterschiedliche theaterpädagogische Spiele und Übungen herausfinden.
In unserer ersten Theaterstunde gingen wir gemeinsam zu dieser Silberkugel und erfanden vor Ort eine gemeinsame Reise – den Weg aus der Realität zur fiktiven Insel: durch ein Süßigkeiten-Land, dann durch einen Wald, in dem die Bäume in den Herkunftssprachen der Jugendlichen sprechen konnten, und dann durch ein Schneeland. Die Klasse verschwindet in einem Iglu, und von dort gelangen sie direkt auf eine Insel.
Januar – Mitte Februar 2021
Unsere ersten Onlinetreffen waren sehr schwierig, weil nur einzelne Schüler*innen der Klasse 8b einen ruhigen Ort haben zu Hause, von wo aus sie an Onlinemeetings teilnehmen konnten. Der Großteil der Klasse musste sich in Ermangelung anderer Endgeräte (Tablets, Notebooks, PCs) mit dem Handy einwählen. Daher konnten wir viele der Online-Theaterspiele nicht gemeinsam durchführen, denn mit dem Handy sieht man immer nur die Person, die spricht. Spiele, in denen es zum Beispiel darum geht, sich einen virtuellen Gegenstand weiterzugeben oder überhaupt miteinander ins Spiel zu kommen, funktionierten nicht.
Es gab außerdem eine große Abneigung die Kamera einzuschalten und im Hintergrund waren ständig die Geschwister zu hören.
Dadurch war schnell klar, dass wir ein anderes Medium nutzen müssen, um tatsächlich gemeinsam unsere Geschichte weiterzuentwickeln.
Wir gründeten auf Wunsch der Schüler*innen neben der schulischen Kommunikationsgruppe mit der ganzen Klasse eine Whats-App-Gruppe nur für die Theatergruppe. Hier sprachen wir zunächst Details zu den Treffen ab. Auf dieser Plattform funktionierte die Kommunikation einfacher und wir begannen, diese kreativ zu nutzen.
Der Chat wurde zunächst genutzt, um die Klasse auf die Theaterprobe einzustimmen. Auf die Frage, ob jemand ein GIF zu Neverland hat, wurden sofort viele Bilder geschickt. Ebenso verhielt es sich bei der Frage nach Bildern zu Süßigkeiten, Wald, Schnee etc. So entstand die Idee der Spielleitung, die ganze Geschichte in Form eines Gruppenchats zu erzählen. Es entstand ein Chat-Dialog, eine Art Gruppenimprovisation über mehrere Wochen.
Ab dem dritten Onlinetreffen mit der ganzen Klasse trafen wir uns in kleinen Gruppen über eine Kommunikationsplattform, das war einfacher. Wir nutzten die Plattform, um uns Inselszenen auszudenken, die wir anschließend im Chat „spielten“, und um gemeinsam Dialoge zu lesen. Die Schüler*innen sendeten mir ihre Texte als Sprachnachrichten, die ich dann mit dem Programm „Soundtrap“ zusammenmontierte. Dadurch entstand nach und nach ein Hörspieltext.
Wir hörten im Onlinemeeting, weiterhin in kleinen Gruppen, den Hörspieltext und die Schüler*innen reagierten mit ihren eigenen Avataren, Stickern und GIFS in unserem Gruppenchat. Mit der kostenlosen „Sticker-Maker“-App stellten die Schüler*innen eigene digitale Sticker aus Fotos und Texten her. Noch war der Text abgekoppelt von der Bildergeschichte im Chat, aber es entstand eine Sammlung von Avataren, GIFS und Stickern und eine Dramaturgie in Bildern.
Von Anfang an wollten die Schüler*innen die Geschichte als Retrospektive erzählen.
Die Reise liegt bereits hinter ihnen und sie erzählen in Videoblogs, was passiert ist. Da die Menschen in der Geschichte von Peter Pan zwar großartige Abenteuer erleben, diese aber immer wieder vergessen, wenn sie die Insel verlassen, hielten die Jugendlichen ihre Erlebnisse mit Videoaufnahmen fest. Alle Schüler*innen drehten ein Video zu einem Erlebnis auf der Insel.
Mitte Februar schlossen zunächst die gemeinsame Arbeit ab, da wir die Geschichte zu Ende erfunden hatten, alle Texte zu mehreren Hörspieltexten zusammengeschnitten waren und ich von den Schüler*innen alle Fotos, GIFS, Avatare, Videobeiträge, Sticker und Sprachnachrichten erhalten hatte.
Mitte bis Ende Februar Fertigstellung:
Mitte Februar erhielt die Videokünstlerin Toni Lind, die für die Videomontage verantwortlich war, das gesamte Material: die Kindheitsfotos und montierten Hörspieltexte der Schüler*innen sowie alle Nachrichten, GIFS, Avatare und Videos in der dramaturgisch richtigen Reihenfolge (und zwar innerhalb von fünf Tagen, denn es war das Ziel, dass die Uhrzeiten im Chat mit dem fünftägigen Inseltrip übereinstimmten).
Zoomvideo-Gespräch zwischen Toni Lind und Sofie Hüsler über Videomontage und Herstellung und Fertigstellung des Chatmärchens mit Beispielen aus der Produktion
Parallelleben im Chat
Im Januar und den ersten Februartagen haben wir in unserem Klassenchat ein Parallelleben auf der Insel Neverland geführt. Die Uhrzeiten waren nicht festgelegt, es mischte sich ein, wer Lust hatte, Zeit hatten wir alle. Manchmal ging es besonders nachts hoch her in unserem Gruppenchat.
Ich gab immer wieder einen neuen Impuls, zum Beispiel: „Wir müssen uns doch etwas wünschen, um mit dem Feenstaub fliegen zu können! Was wünscht ihr Euch?“ – „Ich wünsche mir, shoppen zu gehen!“ Das passte sowohl zum Lockdown, indem die Geschäfte geschlossen waren, als auch zu unserer Insel, auf der es überhaupt nichts zu kaufen gab.
Mich interessierten diese unterschiedlichen Realitäten.
Auf meine Frage: „Hier in Neverland sind wir ja alle wieder wie Kinder, auch wenn wir nicht so aussehen – was habt ihr als Kinder am liebsten gespielt?“
Sofort ploppten viele Antworten im Chat auf: „In Syrien haben wir viel draußen gespielt“ – „Als kleines Kind habe ich in Syrien ganz viel gespielt. Ich habe in Syrien noch immer mein ganzes Zimmer voller Spielsachen, das ist alles noch da und wartet auf mich.“ Das Chatgespräch ähnelte sehr den Gesprächen, die sonst auf der Probebühne stattfinden.
Wir waren zwar digital gemeinsam auf einer Insel aus einer anderen Geschichte, und doch nutzen die Schüler*innen diese Situation, um ihre eigenen biographischen Geschichten zu erzählen.
Einige Themen beschäftigten uns über mehrere Tage. Zum Beispiel die Suche nach den Jungen. Drei Jungen haben sich mehrere Tage nicht mehr in unserem Chat beteiligt, wir blieben damit im gemeinsamen Spiel. So fragte ich in die Runde: „Wo sind eigentlich die Jungs? Die habe ich schon eine Weile nicht mehr gesehen!“ Sofort antwortete jemand: „Ist eigentlich ganz gemütlich ohne die!“ Später in der Nacht schrieb ein anderer: „Sie sind noch immer nicht da!!“ Am Morgen darauf schrieb jemand aus der Gruppe: „Komm wir suchen sie!“ – „Ich schaue in den Bergen!“ –„Die sind bestimmt in der Meerjungfrauenbucht!“
Plötzlich meldete sich einer der drei Jungen: „Die Piraten haben uns gefangen genommen!“ So waren nun alle Spieler*innen wieder gemeinsam in der Diskussion, das Abenteuer hat eine neue Wende genommen und somit ging auch die Geschichte weiter.
Wir waren während dieser Wochen gemeinsam Teil einer Gruppenimprovisation, obwohl alle in ihren Wohnungen und Unterkünften saßen. Als Spielleiterin steuerte ich diese Gruppenchat-Improvisation, indem ich immer wieder neue Themen ins Spiel brachte. Doch diese Improvisationen über mehrere Wochen und 24 Stunden täglich waren nicht vergleichbar mit denen während der Theaterstunden, auch weil die Teilnahme freiwillig war.
Jana Reulen, die Klassenlehrerin, über die Nachhaltigkeit des Projekts:
Das Theaterprojekt beeinflusste die Schüler*innen positiv. Auch Schüler*innen, die sich nicht regelmäßig am „normalen“ Online-Unterricht beteiligen wollten oder konnten, blieben durch die unterschiedlichen Formate im Theaterunterricht ansprechbar: Sie kamen zu den Treffen, meldeten sich mit Sprachnachrichten zurück oder waren durch das Schicken eines GIFs in der Gruppe präsent. Die Gruppe wuchs so enger zusammen, während der Onlineproben vereinbarten die Schüler*innen unterschiedliche Farbthemen für die Kleidung, die sie zu den Proben trugen: Heute tragen wir alle blau, rot, grün… Darüber hinaus entdeckten die Schüler*innen neue Stärken, die sie selbstbewusster machten – früher Schüchterne nahmen lange Sprachnachrichten auf, ehemals Desinteressierte wurden zu Blog-Entertainern, technisch Versierte erklären anderen das Sticker-Machen. So gestärkt gehen sie jetzt auch im Präsenzunterricht an das nächste Stück heran: Wir haben gemeinsam einen Film gemacht, dann schaffen wir jetzt auch ein Bühnenstück.
Aufgewachsen in Zürich und in Italien auf dem Land, lebt seit 1996 in Berlin; seit 2021 Leitung Club Teleskop am GRIPS Theater zusammen mit Alexander Kuen; seit 2017 jährliche Inszenierung am Jungen Deutschen Theater mit jeweils einer Schulklasse (Tusch-Kooperation); seit 2015 Inszenierung einer szenischen Lesung mit Jugendlichen am Jungen Deutschen Theater zusammen mit Kristina Stang (Kooperationsprojekt mit LesArt); seit 2014 freie Mitarbeiterin von LesArt; seit 2012 Dozentin im Bereich Theaterpädagogik und Sprachförderung (SPI, BIfF, Paedagogika); seit 2012–2018: Inszenierungen und Kurse an der S27, Kreuzberg; seit 2007: TiL – Theater im Lehrplan, Grundschule an der Marie; 2007–2012 TUSCH und Leitung vom Jugendclub im Theater an der Parkaue; 2006–2007 BuT- theaterpädagogische Zusatzqualifikation am SPI; 2005–2007 Gastschauspielerin im Theater an der Parkaue, HAU; 1998–2005 Schauspielerin im Thalia Theater in Halle (Ensemble); 1996 – 1998 Berliner Schauspielschule, ZBF-Abschluss; 1994–1996 Grundstudium Theaterwissenschaften Universität Bern; 1992–1994 Élève am Theater für den Kanton Zürich; 1991 Matura in Zürich.
Foto Sofie Hüßler: Maxi Strauch