Tonio Kempf
Der Bundesverband Theater in Schulen e.V. (BVTS) ist als bundesweiter Interessenverband für das Schultheater in ganz Deutschland per se politisch und hat es sich vor einigen Jahren zur Aufgabe gemacht, durch Schultheater Gesellschaft zu gestalten. Damit rückt auch die künstlerische Erforschung der komplexen gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen wir leben, in den FOKUS. So lautete das Thema des wegen der Pandemie abgesagten Schultheaters der Länder (SDL) 2020 GLOBAL.LOKAL. Im Lockdown stellte sich die Frage, wie wir gemeinsam durch Schultheater Gesellschaft GLOKAL gestalten können, neu. Unter dem Thema THEATER.DIGITALITAET wurden Formen und Formate digitalen Theaters erprobt und beim digitalen SDL 2021 in Ulm aufgeführt, die sich zwischen Nähe und Distanz bewegten und damit das Thema des SDL 2020 zumindest implizit aufgriffen.
Vor der Pandemie haben zigtausende Schüler*innen jeden Freitag gemeinsam für eine lebenswerte Zukunft demonstriert, während des Lockdowns war das Gefühl von Einsamkeit und Ohnmacht bei vielen jungen Menschen groß. Es zeigte sich noch krasser, wie ungerecht Bildungschancen von Kindern selbst in einem so reichen Land wie Deutschland verteilt sind. Nach dem Lockdown begegnen wir uns über Monate in der Schule nur mit Maske. Psychische Probleme wie Depressionen, Zwänge und Neurosen haben während der Pandemie unter den Schüler*innen massiv zugenommen. Es erscheint angesichts vielfältiger psychischer Belastungen und Herausforderungen wichtig, dass junge Menschen nicht mit ihren Ängsten in einem dauerhaften Krisenmodus alleine bleiben oder gar in depressiven Ohnmachtsgefühlen bis hin zu Panik verharren, sondern wir jetzt durch Schultheater gemeinsam Zukunft performen! Vor diesem Hintergrund hat der BVTS im letzten Jahr zwei START-STOP-Initiativen ins Leben gerufen:
Beide Initiativen setzen politisch da an, wo Theater als soziale Kunst und künstlerische Praxis in besonderer Weise Schule und Gesellschaft transformieren kann: in der Begegnung von Spieler*innen und Publikum in neuen Resonanzräumen, die im Sinne eines künstlerischen Forschungsprozesses zwischen STOP ECOCIDE und GOOD LIVING bzw. EXCLUSION und INCLUSION erspielen und reflektieren, wie notwendig diese Veränderungen sind und wie Transformation gelingen kann. Daraus kann künstlerisches Wissen, ein Wissen in-between entstehen, in dem die Schüler*innen eigene Antworten finden, wie ein Transformationsprozess hin zu einem guten Leben aussehen könnte, die im Miteinander der Gruppe künstlerisch-ästhetisch erspielt, erprobt und reflektiert werden können. Dabei erfahren die Spieler*innen in besonderem Maße Resonanz, wenn ihre performativen Good-Living-Entwürfe wahrgenommen werden und sich wechselseitig in einem performativen Antwortspiel beeinflussen. Wir freuen uns auf alle, die an diesem grenzüberschreitenden Dialog teilnehmen. Eine länderübergreifende Arbeitsgruppe hat sich dazu bereits beim letzten BVTS COME TOGETHER gefunden, bei Interesse bitte gerne im FORUM melden!
Die Initiative „STOP ECOCIDE – START GOOD LIVING” ist aus dem kontinuierlichen Dialog von Joachim Reiss mit dem Community-Artseducator Dan Baron Cohen entstanden, der seit 2008 in Maraba/Brasilien lebt und dort in Cabelo Seco das afroamazonische Community-Projekt Rios de Encontro entwickelt hat.1Diese Zusammenarbeit begann bereits 2004 beim SDL in Stuttgart, 2010 nahm der BVTS aktiv am IDEA-Weltkongress in Belem/Maraba teil. Eine brasilianische Gruppe trat 2016 zum 25. Jubiläum im Schultheater-Studio Frankfurt auf, 2019 nahm eine afroamazonischeTanzgruppe mit Camylla Alves an der WAAE-Konferenz in Frankfurt teil, die maßgeblich vom BVTS getragen wurde. Er arbeitet künstlerisch und theaterpädagogisch nach der südamerikanischen Idee des Buen Vivir, einer ökologischen Kosmovision im Einklang mit und Respekt vor der Natur nach den Prinzipien der Gleichheit und des Gleichgewichts.2Vgl. dazu Alberto Acosta: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. 5. Auflage. München 2017. ECOCIDE (Ökozid) beschreibt die dramatische Zerstörung des natürlichen Gleichgewichts und der Lebenswelt unseres Planeten, insbesondere auch durch den vom Menschen gemachten Klimawandel. Die Organisation STOP ECOCIDE arbeitet international zusammen mit einem wachsenden globalen Netzwerk von Anwälten, Diplomaten, und aus allen Bereichen der Zivilgesellschaft daran, dass Ecocide als fünftes internationales Verbrechen beim Strafgerichtshof in Den Haag anerkannt wird. Nach einer Kommission von Völkerstrafrechtler*innen und Umweltjurist*innen bezeichnet ECOCIDE „rechtswidrige oder mutwillige Handlungen, die in dem Wissen begangen werden, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass durch diese Handlungen schwere und entweder weit verbreitete oder langfristige Umweltschäden verursacht werden“.3Vgl. dazu: https://taz.de/Vorschlag-von-Juristinnen/!5782671/ (letzter Zugriff 6.2.22) Es geht also juristisch um die Etablierung eines Rechts der Natur neben den Menschenrechten. Dieses ist unbedingt notwendig, da für Umweltzerstörung im Moment in den meisten Teilen der Welt niemand verantwortlich gemacht wird.
Die Nachrichten, dass der brasilianische Regenwald, die grüne Lunge der Erde, aufgrund von Brandrodung mehr CO2 ausstößt, als er aufnehmen kann, war für meinen Theaterkurs 8 und mich im zweiten Lockdown der Ausgangspunkt, Kontakt zu Dan Baron Cohen und den Jugendlichen aus Maraba aufzunehmen. Dan schuf digital einen musikalisch-poetischen Resonanzraum, indem er für die Schüler*innen das Urwaldinstrument Agogo erklingen ließ und eigene Gedichte über die Schönheit des Regenwalds rezitierte. Wie kann es zu dieser unvorstellbaren Umweltzerstörung im Amazonas kommen und was können wir dagegen tun? Die Schüler*innen recherchierten zur Frage, wo in Deutschland brasilianisches Rindfleisch und Soja verkauft wird, schrieben einen Brief an Brasiliens Präsidenten Bolzonaro und performten für die brasilianischen Jugendlichen digital eine Schiffsreise von Hamburg nach Maraba, woraufhin sie von diesen zu sich eingeladen wurden. Es entstand ein Moment lebendigen Schweigens, keiner meiner Schüler*innen konnte sich vorstellen, unter diesen Lebensumständen wirklich nach Brasilien zu reisen und trotzdem waren ihnen die Jugendlichen aus Maraba in diesem Moment sehr nahe gekommen. Große Nähe trotz räumlicher Distanz entstand dann insbesondere auch durch die digitalen Tanz-Performances der afroamazonischen Tänzerin Camylla Alves, auf die die Jugendlichen performativ und reflexiv auf Englisch in so intensiver Weise antworteten, dass es mir die Sprache verschlug.
Vor diesem Hintergrund haben wir Camylla und Dan zum digitalen Schultheater der Länder 2021 eingeladen, wo die teilnehmenden Gruppen im Vorwege die Möglichkeit hatten, performativ auf Camyllas Performance zu antworten.4siehe https://sdl2021.de/archive/2250/ Während des Festivals konnten Teilnehmer*innen Workshops besuchen und im digitalen Ulmer Roxy kam es zwischen Jugendlichen aus Russland, Baden-Württemberg und Berlin zu einem Gespräch über Umweltschutz, Demokratie, Zensur, Diktatur und sozialer Inklusion. Das Festival eröffnete so neue Resonanzräume und schuf Verbindungen, die wir in einem nächsten Schritt weiterentwickeln wollen.5Vgl. dazu: Julia Optiz: Neue Resonanzräume erspielen – her mit dem guten Leben. In: kubi. Magazin für kulturelle Bildung. No. 22–2022, S. 66–69. So haben wir beim ersten BVTS-COME TOGETHER 20226Der BVTS trifft sich seit 2021 digital immer am ersten Montag eines jeden Monats um 19.30 Uhr zu einem bestimmten Thema, das wir bewegen wollen, siehe BVTS Jahresüberblick. Ziele, Möglichkeiten und konkrete Projektideen erörtert, wie wir im Theaterunterricht performativ-theatral den Raum zwischen STOP ECOCIDE und GOOD LIVING künstlerisch erforschen7Mit Julian Klein: Was ist künstlerische Forschung? In: Kunsttexte.de. 2/2011 – 3. meint künstlerische Forschung einen ästhetischen Erfahrungsmodus, in dem ich mich zugleich reflexiv und innerlich bewegt mit einem Problem auseinandersetze. Vgl. dazu auch: Sybille Peters (Hg.): Das Forschen aller. Artistic Research zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Transkript 2013. und über Theater in Schule in einen grenzüberschreitenden, transkulturellen Dialog darüber kommen können, was ein gutes Leben bedeuten könnte und was dieses verhindert. Schule selbst hat einen Bildungsauftrag für nachhaltige Entwicklung (BNE), der junge Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigen soll, was nur gelingen kann, wenn dies in Resonanzbeziehungen im Dialog zwischen Menschen geschieht, die sich als unverfügbare Dialogpartner*innen wahrnehmen8Siehe dazu: Hartmut Rosa: Akzeptanz der Unverfügbarkeit. In: Resonanzpädagogik in Schule und Unterricht. Weinheim 2020, S. 30–39. Dieses erfordert von Lernenden und Lehrenden eine inklusive und teilmächtige Haltung, die offen dafür ist, vom Anderen etwas zu lernen und auf die individuellen Potentiale jedes Menschen zu schauen, die ihn einzigartig machen. Mit Theater in Schule kann es uns gelingen, diese vielfältigen Potentiale von Menschen in Resonanz zu bringen, woraus neue partizipative Formen des Zusammenlebens entstehen können, in denen junge Menschen Selbstwirksamkeit in dem Sinne konstruktiv erfahren und erproben, dass sie in ihrer Individualität wirklich ernst genommen werden.
Es geht uns darum, durch Theater in Schulen gesellschaftlich in einen grenzüberschreitenden, vielfältigen, performativen Dialog darüber zu kommen, was ein gutes, nachhaltiges Leben sein könnte, in dem jedes Lebewesen selbst artistisch (künstlerisch auf seine Art, mit seinen besonderen Fähigkeiten selbst tätig) werden und in Resonanzbeziehungen Potentiale entfalten kann, die Gesellschaft nachhaltig und inklusiv verändern.
Dieser Text ist zuerst in anderer Form erschienen in der Zeitschrift „Spiel & Theater“ No.209, April 2022, S. 22–24.
Gesellschaft und Politik