SCHUL.THEATER

Fokus

Spielt doch keine Rolle!

Von Klaus Wegele

Ursprüng­lich erschie­nen in Spiel & Thea­ter Heft 210, Okto­ber 2022, S. 30 ff

Vier – nicht zusam­men­hän­gen­de – Zita­te aus der Pro­ben­ar­beit an einem Stück:

„Du kannst die Rolle nur spielen, wenn du über den Text verfügst.“
„Das ist mir noch nie passiert. Ich habe Angst vor jedem Wort, vor jeder Zeile, vor jedem Vers. Es sind so viele.“
„Das darf nicht echt sein, was ihr da spielt, ihr verstellt euch doch voreinander …. Geschmacklos, überschminkt, billig. Ich bin doch nicht Peymann, ihr spielt ja wie für Peymann.!“
„Alles hat gestimmt, leider war es nur vollkommen tot, was ihr gemacht habt. …. Es geht nicht darum, hier etwas perfekt zu machen. …. Ihr müsst eure Rollen jedes Mal neu erfinden, ihr dürft nicht auftreten und gut sein wollen oder perfekt. Ihr müsst alles, was ihr macht auf der Bühne, in jeder Sekunde neu erfinden. Sonst ist es tot. Diese Inszenierung lebt nur, wenn ihr alles riskiert. Sobald ihr euch absichert, wird es tot. …“

Die­se Zita­te stam­men aus der Pro­ben­ar­beit zu Zadeks Ham­let 1999. Der Schau­spie­ler Klaus Pohl, der als Hora­tio mit­ge­wirkt hat, hat sich wäh­rend der Pro­ben­ar­beit in Straß­burg Noti­zen gemacht und ein Tage­buch geführt, am Ende waren es ca. 1000 Sei­ten. Zwan­zig Jah­re spä­ter hat er dar­aus einen Roman gemacht, der aber durch­aus doku­men­ta­ri­schen Cha­rak­ter hat1Klaus Pohl, Sein oder Nicht­sein; Roman, Galia­ni Ber­lin, Ber­lin, 2021, Zita­te aus den Sei­ten 79, 126, 143 und 259. Es wer­den nicht nur die abend­li­chen Trin­ke­rei­en erzählt, son­dern es wer­den auch die Nöte der betei­lig­ten Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler, u. a. Ange­la Wink­ler und Ulrich Wild­gru­ber, haut­nah nach­er­leb­bar geschil­dert. Und man ist dabei, wie der gro­ße Dik­ta­tor Ulrich Zadek sei­ne Trup­pe durch die Höl­le jagt bis zu tri­um­pha­len Erfol­gen in Straß­burg, Wien und Berlin.

Peter Zadek (1926−2009) hat­te im Jahr 1977 in Bochum eine legen­dä­re Ham­let-Insze­nie­rung abge­lie­fert, mit Ulrich Wild­gru­ber in der Titel­rol­le. Allein die Beset­zung der Rol­le 22 Jah­re spä­ter mit Ange­la Wink­ler war schon ein Aus­ru­fe­zei­chen. Hier soll­te etwas ganz Neu­es ent­ste­hen, das zum Teil auf der Angst der Schau­spie­le­rin vor der Rol­le beruht, nicht nur vor dem Text, wie es in den ers­ten bei­den Zita­ten deut­lich wird. Die Arbeit Zadeks mit den Schauspieler*innen an den Rol­len ist extrem for­dernd, er bringt sie an ihre Gren­zen und dar­über hin­aus. Nicht nur ein­mal scheint das Pro­jekt vor dem Aus zu ste­hen. Nie ist der Regis­seur zufrie­den, und wenn es ein­mal so scheint, so kann es am nächs­ten Tag schon wie­der anders sein: Denn die Rol­le steht zwar als Text(fassung) fest, aber sie muss, wie die ande­ren bei­den Zita­te ver­deut­li­chen, auf der Büh­ne in jeder Sekun­de neu erfun­den werden.

Peter Zadek eig­net sich nicht, da bin ich ganz sicher, als Vor­bild für die thea­ter­päd­ago­gi­sche Arbeit. Die abso­lu­te Domi­nanz der Regie steht in kras­sem Gegen­satz zu dem Anspruch auf par­ti­zi­pa­ti­ves Arbei­ten. Die Kin­der oder Jugend­li­chen sol­len sowohl, was die Inhal­te, als auch, was die Gestal­tung betrifft, Aus­gangs­punkt der thea­ter­päd­ago­gi­schen Arbeit sein, es ist ihr Schau­spiel. Das ist com­mon sen­se. Und was ist mit der Rol­le? Spielt sie über­haupt noch eine Rol­le? Gehört sie ein­fach ein­ge­rollt?2https://bvts.org/assets/bvts/media/Uploads/ausschreibungstext-layout‑2.pdf

Die „klas­si­sche“ Thea­ter­rol­le, das heißt der Text, den die Schauspieler*innen wie­der­zu­ge­ben  haben, scheint ja nicht so ein­fach ein­zu­rol­len zu sein. Schaut man zum Bei­spiel in der „nacht­kri­tik“, was gera­de so auf deut­schen Büh­nen gespielt wird, dann ent­steht der deut­li­che Ein­druck, dass es nach wie vor Tex­te sind, die insze­niert wer­den, in denen Rol­len vor­ge­ge­ben sind. Die soge­nann­ten „Text­flä­chen“, die auf eine dif­fe­ren­zier­te Rol­len­ver­tei­lung ver­zich­ten, haben sich auf kei­nen Fall flä­chen­de­ckend durch­ge­setzt.3Elfrie­de Jel­li­nek bie­tet auf ihrer Home­page https://www.elfriedejelinek.com/ frei ihre Tex­te an, dar­un­ter auch Bei­spie­le für soge­nann­te Text­flä­chen Man kann aber sicher sein, dass es in allen Insze­nie­run­gen von Thea­ter­tex­ten oder auch Büh­nen­fas­sun­gen von Pro­sa­tex­ten nicht dar­um geht, dass Tex­te „nach­ge­spielt“ wer­den, son­dern dass mit ihnen gear­bei­tet wird, von der Sei­te der Regie, aber auch der Schauspieler*innen, dass der Text, die Rol­le zum Eige­nen gemacht wird.

Ein kur­zer his­to­ri­scher Rück­blick sei hier erlaubt. Nein, nicht bis zu den alten Grie­chen, aber ein Blick auf die com­me­dia dell‚arte kann hilf­reich sein. Der Begriff der Rol­le passt hier eigent­lich nicht, es sind fest­ste­hen­de Typen, defi­niert durch Mas­ke, Kos­tüm, Kör­per­hal­tung, die in wech­seln­den Geschich­ten doch immer wie­der gleich sind. Auch im bür­ger­li­chen Thea­ter des 19. Jahr­hun­derts gibt es noch das soge­nann­te Rol­len­fach: Der Schau­spie­ler, der als „jun­ger Lieb­ha­ber“ zur Trup­pe gehör­te, spiel­te immer die­sen – bis er halt zu alt ist. Ein biss­chen was davon ist in der Oper geblie­ben, ganz ein­fach, weil hier die Rol­len an bestimm­te Stimm­la­gen gebun­den sind. Mit der Wen­de zum 20. Jahr­hun­dert kam dann die Hin­wen­dung zu fast wis­sen­schaft­li­chem Her­an­ge­hen an die Rol­le. Sta­nis­law­ski muss hier genannt wer­den, Ziel ist ein „natu­ra­lis­ti­sches Spiel“. Das method acting des US-Ame­ri­ka­ners Lee Strasberg greift das auf. Dage­gen wen­det sich Brecht, sei­ne Schauspieler*innen machen immer wie­der deut­lich, dass sie die Rol­le nur spie­len. Ganz in Oppo­si­ti­on steht z. B. das „Teatr Labo­ra­to­ri­um“ Jer­zy Gro­tow­skis, das alles aus dem Kör­per und den Emp­fin­dun­gen der Schauspieler*innen her­aus ent­wi­ckeln will, spä­ter ganz von der Auf­füh­rung weg­geht und die Schau­spiel­ar­beit als the­ra­peu­ti­sche Arbeit ver­ste­hen will. Heu­te haben wir mit Post­dra­ma­tik und per­for­ma­ti­ven Ansät­zen wie­der eine ande­re Situa­ti­on. Am Ende aber spie­len die Schauspieler*innen eine Rol­le, sobald sie auf der Büh­ne stehen.

Zurück zum eige­nen Geschäft. Die Aus­schrei­bung zum SDL 2023 macht deut­lich, dass man dem tra­di­tio­nel­len Begriff der Rol­le mit einer gewis­sen Skep­sis gegen­über­steht. SCHULTHEATER.ROLLEN: Da könn­te man den Punkt auch ger­ne durch ein Fra­ge­zei­chen erset­zen: „Nun ist das mit den Rol­len­tex­ten im Schul­thea­ter so eine Sache, denn die Sehn­sucht, Rol­len zu ver­kör­pern, bleibt.“4https://bvts.org/assets/bvts/media/Uploads/ausschreibungstext-layout‑2.pdf Ich den­ke, dass es eine urmensch­li­che „Sehn­sucht“ ist, ande­re Mög­lich­kei­ten für sich aus­zu­lo­ten, dazu muss man nicht gleich von „Welt­flucht“ spre­chen. Schon sehr klei­ne Kin­der tun das, ohne dass man sie dazu anlei­ten muss. Ob sie „Vater-Mut­ter-Kind“ spie­len oder spä­ter (Ach­tung, Trig­ger­war­nung!) Cow­boy und India­ner oder noch spä­ter sich bei Tik­Tok in einer Rol­le(!) zei­gen – es geht immer um das Sich-Ausprobieren.

War­um ist das dann im Schul­thea­ter, im außer­schu­li­schen Jugend­thea­ter wird es nicht anders sein, „so eine Sache“? Es geht offen­sicht­lich um den Rol­lentext. Unum­strit­ten wird sein, dass bestimm­te Thea­ter­stü­cke sich aus haupt­säch­lich zwei Grün­den nicht eig­nen. Sie kön­nen text­lich und schau­spie­le­risch über­for­dern und – das ist noch ent­schei­den­der – sie haben nichts mit der Lebens­welt der Kin­der Jugend­li­chen zu tun.  Aber selbst das muss nicht immer stim­men. Beim dies­jäh­ri­gen Thea­ter­tref­fen der Jugend in Ber­lin gibt es auf den ers­ten Blick zwei Auf­füh­run­gen, die klas­si­schen Thea­ter­stoff auf­grei­fen, bei­de Male ist es die „Medea: ein­mal als Tanz­thea­ter, das ande­re Mal wird „Mede­as Weg aus der anti­ken Tra­gö­die des Dich­ters Euri­pi­des […] in dem Stück zu einer aktu­el­len Migra­ti­ons­ge­schich­te, ver­packt in einem Kri­mi­nal­fall“5https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfs–  gesamtprogramm/programmdetail_386581.html Über die­sen Link auch zu strea­men. Der Text gibt hier die Geschich­te vor, es wer­den Rol­len „ent­nom­men“, die aber in der Arbeit der Grup­pe inhalt­lich und schau­spie­le­risch eine „Aneig­nung“ erfah­ren. Sich frem­de his­to­ri­sche Rol­len zu erar­bei­ten, mag gera­de nicht so gefragt sein. Aber so wie es eine for­schen­de Arbeit ist, sich trans­kul­tu­rell zu ori­en­tie­ren, so kann dies auch bei der Aus­ein­an­der­set­zung mit einer his­to­ri­schen Gesell­schaft ver­lau­fen und Erkennt­nis­se über die eige­nen Wur­zeln brin­gen. In den 90er Jah­ren gab es dazu sehr gute und unter­richts­na­he Anre­gun­gen, der Name Ingo Schel­ler sei hier erin­nert6https://www.friedrich-verlag.de/shop/szenische-interpretation-12058 Die­se Ver­öf­fent­li­chung scheint noch greif­bar zu sein, ande­re dürf­ten nur noch in pri­va­ten Bücher­re­ga­len in Wür­de gehal­ten wer­den.: Unter dem Begriff der „sze­ni­schen Inter­pre­ta­ti­on“, eigent­lich für den Lite­ra­tur­un­ter­richt mit Thea­ter­mit­teln gedacht, wer­den dort vie­le immer noch brauch­ba­re „Tools“ ange­bo­ten, sich in Rol­len sze­nisch einzuarbeiten.

Der Pro­zess kann auch umge­kehrt ver­lau­fen. Geht man von einem The­ma aus, das all­ge­mein zeit­ak­tu­ell ist oder in der Spiel­grup­pe gera­de im Vor­der­grund steht, dann ent­ste­hen in der Arbeit, z. B. in der Impro­vi­sa­ti­on, Geschich­ten mit ent­spre­chen­den Figu­ren, die in der Regel dann auch Tex­te spre­chen. Irgend­wann wird der Zeit­punkt kom­men, an dem dies fest­ge­hal­ten wird und durch­aus auch von Grup­pe und Spiel­lei­tung dra­ma­tur­gisch und sprach­lich gestal­tet wird, bis hin zu einem Rol­len­text. Beim per­for­ma­ti­ven Arbei­ten ist es wie­der etwas anders, aber irgend­wann pas­siert es: Die Spieler*innen „… unter­schei­den in ihrem Spiel – z. B. durch das Schaf­fen von Figu­ren – zwi­schen frem­den und eige­nen Wirk­lich­kei­ten und machen sie performativ/zeichenhaft sicht­bar“7https://www.hamburg.de/contentblob/1475196/16daee2cf3e75db7ea017d830c6fc6e4/data/darstellendesspiel-gyo.pdf  (Ein gera­de ent­ste­hen­der neu­er Bil­dungs­plan noch nicht berück­sich­tigt).

Die­ser Schritt ist eigent­lich für mich immer das Span­nends­te in der Thea­ter­ar­beit mit Kin­dern und Jugend­li­chen gewe­sen. Die papie­re­ne Rol­le erwacht erst dann zum Leben, wenn sie sich ver­bin­det mit dem Men­schen, der „sie spielt“, der eine Figur aus Fleisch und Blut dar­aus macht. Ob der Extrem­fall Zadek („Ihr müsst alles, was ihr macht auf der Büh­ne, in jeder Sekun­de neu erfin­den. Sonst ist es tot.) immer zu errei­chen ist, bleibt dahin­ge­stellt. Aber die Rich­tung stimmt.

Es wäre span­nend, sich mit der Fra­ge, wie das sowohl in der Schu­le als auch in der frei­en Jugend­thea­ter­sze­ne best­mög­lich zu errei­chen ist, sehr pra­xis­nah erneut aus­ein­an­der­zu­set­zen, und des­halb ist es eine sehr gute Idee, das The­ma Rol­le ins Zen­trum des SDL 2023 und der beglei­ten­den Fach­ta­gung zu stel­len. Der Aus­schrei­bungs­text gibt dazu schon eine gro­ße Zahl an Aspek­ten vor, dazu kön­nen über QR-Codes „Inspi­ra­tio­nen“ abge­ru­fen wer­den. Natür­lich ist der Begriff der „Rol­le“ schon längst geka­pert und wird in ande­ren Bedeu­tun­gen, etwa der der „sozia­len Rol­le“ auch in die Dis­kus­si­on ein­be­zo­gen wer­den. Es wer­den auch Schul­thea­ter­pro­duk­tio­nen gesucht, „… die sich mit sozia­len Rol­len aus­ein­an­der­set­zen (z. B. als Jugendliche*r in Gesell­schaft und Schu­le)“8https://bvts.org/assets/bvts/media/Uploads/ausschreibungstext-layout‑2.pdf. Der Fokus der Betrach­tung soll­te dabei aber bei der thea­tra­len Umset­zung lie­gen und nicht in die „sozio­lo­gi­sche“ Debat­te abdrif­ten. Ralf Dah­ren­dorfs „Homo Socio­lo­gi­cus“9Ralf Dah­ren­dorf, Homo Socio­lo­gi­cus, als Buch ver­öf­fent­licht 1965 aus den spä­ten 50er Jah­ren hat in der Wis­sen­schaft eine gro­ße Fol­ge­wir­kung gehabt, vie­le wei­te­re Homi­ni­den wie der Homo Oeco­no­mic­us und mög­li­cher­wei­se der Homo Oeco­lo­gi­cus sind nach ihm in unser Leben getre­ten. Im All­tags­ge­brauch haben die Begrif­fe aber ihre Schär­fe ver­lo­ren und ten­die­ren zu einer gewis­sen Belie­big­keit. Blei­ben wir doch beim Homo Ludens10Johan Hui­zin­ga, Homo ludens; Erst­ver­öf­fent­li­chung 1939, der besagt, dass die kul­tu­rel­len Fähig­kei­ten des Men­schen aus dem Spiel her­aus ent­ste­hen. Dem kön­nen wir Thea­ter­leu­te doch ger­ne fol­gen. Hat übri­gens auch Schil­ler11Fried­rich Schil­ler, Über die ästhe­ti­sche Erzie­hung des Men­schen in einer Rei­he von Brie­fen, 1793–1794. 15. Brief schon gesagt: Denn, um es end­lich ein­mal her­aus­zu­sa­gen, der Mensch spielt nur, wo er in vol­ler Bedeu­tung des Wor­tes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.

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