Michael Aust & Michael Schwinning
Einige Produktionen des SDL lassen sich unter der Gemeinsamkeit präsentieren, dass sie von der Grundkonzeption her auf eine Veröffentlichung im Internet abzielen. Diese Beiträge sind dann gesondert zu behandeln, wenn sie dabei die Plattformen und Tools von Internet Content als Mittel der Darstellung benutzen.
Unsere Insel – Berlin, Willy-Brandt-Teamschule Wedding, Klasse 8b, Spielleitung: Sofie Hüsler, Klassenlehrerin: Jana Reulen, Videomontage: Toni Lind, Theaterpädagogische Betreuung: Maura Meyer, Junges Deutsches Theater
APPSOLUTELY. Wir, ich und die Apps – Hessen, Heinrich-von-Kleist-Schule Eschborn, WPU DS 9. Klasse, Spielleitung: Leonore Havemann und Sophia Rosenkranz-Kalis
@Tatto(o)Theater – Rheinland-Pfalz, Geschwister- Scholl-Gymnasium, Daun, Freie Gruppe aus ehemal. Theater-AG und DS-Kurs MSS 12 (Spielleitung: Tanja Finnemann und Volker Weinzheimer)
Society Killed Antigone – Hamburg, Gymnasium Othmarschen, Profilkurs Klasse 12 – KiK Theaterkurs, Spielleitung: Ina Steen und Caroline Zimmermann
Die Produktion Unsere Insel einer 8. Klasse aus Berlin bot eine chronologische Filmerzählung, die mit vielschichtigen Verblendungen digitaler Techniken aus verschiedenen multimedialen und Social-Media-Programmen eine eigenständige Geschichte erzählt, die sich „Chat Abenteuer“ nennt, eine Video-Blog-Präsentation, die im Rahmen des Festivals eine eigene Kategorie bildete.
Thema ist einmal mehr die Pandemie, der hier aber Paroli geboten wird. Gerade rechtzeitig entdecken Schüler*ìnnen nämlich auf einem Spielplatz in der Nähe der Schule einen geheimen Tunnel, der die Klasse in ein Phantasieland führt, in dem keine Coronasorgen existieren, dafür aber weise, sprechende Bäume. Es ist die Insel „Neverland“. Ohne Erwachsene verbringt die Klasse ein paar Tage an diesem magischen Ort. Sie dokumentiert ihre Reise nachträglich auf der Grundlage mündlicher Erzählungen mehrerer Schüler*innen, ergänzt durch Chatverläufe, Grafiken, Sprachnachrichten, Filmclips und Ergebnisse von Google-Recherchen.
Beindruckend ist dabei, wie die Illusion eines gemeinsamen Erlebnisses der Schüler*innen vermittelt wird, obwohl sie sich in der Zeit der Produktion persönlich nicht gesehen haben. Das Material aus Einzelbeiträgen folgt demnach entweder einer Art Drehbuch oder wurde im Nachhinein ausgewählt und wohl mit Hilfe von außerhalb der Gruppe aufwändig aufgearbeitet.
Der Zuschauer erlebt diesen Reisebericht als mediale Collage von Animationen mit Avataren und eingefügten „Beweisstücken“ der Reise. Es wird kompakt, rasant und multiperspektivisch meist aus dem Off erzählt. Die Erzählperspektive wechselt wie bei anderen Produktionen des Festivals auch zwischen einer kommentierenden Rückschau und unmittelbaren, emotionalen Äußerungen. Gerade mit letzterem Mittel wird die „Action“ der Handlung transportiert, zumal es keine gemeinsamen Szenen geben konnte.
Die Inhalte des Projekts gehen über den imaginierten Verlauf des Inselabenteuers hinaus. So gibt es etwa eine autobiografische Episode, in der die Reisenden sich an ihre (als fern empfundene) Kindheit erinnern, in deren Leichtigkeit sie sich dank der Nähe Peter Pans gerade zurückversetzt fühlen. Andererseits recherchierte die Gruppe Hintergründe der Disney-Erzählung von Peter Pan und entlarvt dabei en passant deren rassistische Tendenzen in der Darstellung von Ureinwohnern.
Auch dieses Projekt bietet keine Auseinandersetzung mit Digitalität, aber sie bildet ab, was Digitalität als Ausdruck für eine Lebenswelt ausmacht. Sie prägt die Ästhetik der Darstellung, die vor allem durch Multiperspektivität, kulturelle Zitate, Selbstdarstellung, Überlagerung, Ineinanderwirken, Nicht-Linearität und nicht zuletzt Fragmentierung geprägt ist. Der Zuschauer nimmt daran teil und wird sich bewusst, wie fordernd bzw. an manchen Stellen überfordernd diese Art der Sicht auf die Welt sein kann.
Der 30minütige Gastspielbeitrag APPSOLUTELY – Wir, ich und die Apps aus Hessen fokussierte thematisch die Homeschooling-Phasen des Vorjahres und das daraus resultierende Leben im Internet. Die Produktion besteht aus einer rasanten visuellen Collage aus selbstproduzierten Clips mit einer Länge zwischen 5 und 20 Sekunden, die nahezu alle Werkzeuge verwenden, die der Gruppe digital zur Verfügung standen. Inhaltlich wird ein Bogen über eine Fülle von Themen gespannt, in der Diätprogramme, Instagram-Filter, Whatsapp-Mobbing und Stalking, Probleme beim Onlineunterricht nebeneinander und scheinbar gleichberechtigt Platz fanden. Die Neuntklässler*innen haben ihre Themen in Gruppen bearbeitet, die Präsentation war offensichtlich eine Reihung der Ergebnisse, moderiert durch nicht immer ganz klar akzentuierte Überschriften. Diese „Anything-Goes-Mélange“ enthält originelle Spielmomente, etwa wenn Ensemblemitglieder selbst als lebendige Apps auftreten und sich gegenseitig „dissen“. Originell sind auch die gewählten Zoom-Hintergrundbilder (Lehrerin in Bücherei, Schülerin in Südsee oder die Schülerin, die direkt in die Kamera spricht, dass ihre Kamera nicht funktioniere). Insgesamt entstand dabei eine technisch und stilistisch oft etwas chaotisch anmutende Folge von Blitzlichtern aus größeren Zusammenhängen. Diese Präsentation ließ das Surfverhalten eines Users assoziieren, der nach interessanten Themen im Netz sucht, allerdings nirgendwo verharrt.
Im Hinblick auf eine Referentialität stellte die Produktion eine Art digitales „Jäger-und-Sammler”-Verhalten nach. Lieferte die Gruppe demnach einen kritischen Beitrag zur Nutzung digitaler Medien in ihrer Altersgruppe? Die beschriebene Distanz zu manchem Content ist erkennbar, etwa in der Parodie auf Detox-Pillen und Modeangebote, ebenso erkennbar ist aber auch die Faszination, etwa für die Reize des Darknet: „Kann man im Darknet wirklich alles kaufen, was man will,“ ist eine präsentierte Suchanfrage, die deutlich macht, dass das Faszinosum Internet einem kritischen Ansatz entgegenstand. Es fehlt die Konzentration auf Zusammenhänge, auf Wirkungen und Folgen, dem Projekt selbst dadurch ein roter Faden. In der Tat suggeriert der Titel so etwas wie einen Fokus auf „Apps“, im Verlauf werden aber dann auch „Netflix“ und der Tor-Browser als App verstanden bzw. einbezogen.
Dem Stück folgt eine Art filmischer Anhang, in dem Schüler*innen Auskunft über ihre Internetnutzung geben. Auffällig ist, dass die meisten mit Freude ihre „Lieblingsapp“ nennen und welchen Wert diese für sie hat. Das Stück ist letztlich die unterhaltsame Dokumentation eines Schwebezustandes zwischen Faszination und beginnender Reflektion über die Macht und Möglichkeiten des Internets. Digitale Erzähltechniken werden unterhaltsam kopiert, Digitalität als zu problematisierendes Thema wird nicht einbezogen.
Die Adaption der Künstlersatire Tattoo von Igor Bauersima wurde von der Gruppe aus Rheinland-Pfalz auf der Internetplattform „Instagram“ realisiert und ist dort für alle Interessierten abrufbar: tattotheater
Instagram ist kein geeignetes Medium für die Verbreitung umfassender Narrationen und Kontexte, der Erzählwert liegt in der Momentaufnahme einer Situation oder eines Zustandes, in der Unmittelbarkeit des vermeintlichen Dabeiseins und der schnellen Vergänglichkeit eines Ereignisses.
Igor Bauersimas Stück Tattoo legt einen verzwickten Plot mit zahlreichen Wendungen vor. Im Zentrum stehen die Freunde Lea, Fred und Tiger, alte Bekannte aus Schulzeiten, die sich nach langer Zeit wiedertreffen. Tiger ist ein erfolgreicher Szene-Künstler geworden, der dank seines vollständig tätowierten Körpers ein Statement damit setzen will, eben diesen Körper nach seinem Ableben „ausstopfen“ zu lassen, ihn Lea zu „vererben“ mit der Auflage, das Kunstwerk nicht zu verkaufen. Seine Managerin Alex und Agentin Naomi verfolgen eigene Interessen, sie sehen eher das Kunstinteresse der Gesellschaft, aber auch möglichen Profit. Tiger täuscht seinen Tod vor, um die Entwicklung zu Lebzeiten zu beobachten (als „Wachspuppe Tiger“). Am Ende ist er dann aber tatsächlich plastiniert. Diese drastische Satire auf den Kunstmarkt kreist nicht um ein jugendrelevantes Thema, die Gemeinschaft der jungen Clique, um die es auch geht, ermöglicht aber den Zugriff auf den Stoff über die Themen Freundschaft und Moral.
tattotheater ist grundsätzlich ein Account auf Instagram, der abonniert werden kann. Der Inhalt besteht hauptsächlich aus sechs montierten audiovisuellen Content-Einheiten, jeweils bestehend aus etwa 25 einzelnen Posts, durch die die zu erzählende Geschichte in etwa 20sekündige Statements einzelner Figuren segmentiert wird. Insgesamt entsteht eine Betrachtungszeit von knapp 50 Minuten aus den etwa 150 Einzelposts. In diesem Rahmen wird die adaptierte Erzählung der Vorlage umgesetzt. Umfassend wird dabei das Spektrum der Instagram-Erzählmöglichkeiten genutzt. Alle Figuren treten als Erzähler in ihren eigenen Posts auf. Eine weitere Gruppe von meist kürzeren Posts besteht aus die Vorgänge illustrierenden graphischen Elementen, jeweils mit anregender Musik unterlegt. Die Produktionsweise ermöglicht einen Einblick in die Art und Weise, wie in diesem medialen Kontext lebensnahe, autofiktionale oder fiktive Geschichten in der Gruppe der Follower verbreitet werden.
Das vorrangig benutzte Stilmittel ist die Abgabe von Statements direkt in die Kamera. Diese spiegeln die spontane Unmittelbarkeit des Mediums. Die Figuren haben gerade etwas erfahren, was sie bewegt und müssen es sofort mit der Community teilen: „Ihr glaubt nicht, was ich gerade erfahren habe“. So erhält der Betrachter meist auch mehrere Blickwinkel auf dasselbe Ereignis. Die Clique der Hauptfiguren ist der multiperspektivische Erzähler, die Community ist der an sich außenstehende Betrachter, der Follower, der sich die Ereignisfolge erschließen muss. Dramaturgisch gesehen handelt es sich bei der Erzählung um eine monologische Struktur, die den Figuren im gesetzten technischen Rahmen freie Selbstentfaltung ermöglicht. Dialogmomente kommen ansatzweise vor, tragen aber nie Konflikte. Leider lässt sich in diesem medialen Kontext eine Spannung durch Informationsvorsprung einer Figur nicht umsetzen, denn alle Posts stehen allen Accountbenutzern permanent zur Verfügung. Es gibt keine Geheimnisse.
Die imagebewussten Statements der Figuren werden begleitet von Musik-/Tanz-Content-Elementen und die Handlung kommentierenden Schrifteinblendungen, in denen der Urheber anonym bleibt. Das erweckt den Eindruck, es gäbe noch einen weiteren, auktorialen Erzähler, eine Art Regie-Substrat.
Diese Art der Patchwork-Erzählung folgt konsequent der Charakteristik privater Kommunikation in der Welt des Digitalen. In Bezug auf Sprache bedeutet das, dass die Kunstsprache der Vorlage keine Aufnahme in das Projekt finden kann. Die Spieler*innen fühlen sich in ihre Figuren ein und formulieren ihre Statements in eigener, instagram-spezifischer Sprache des Jugendjargons („Freundschaft ist ein Riesending“ – „Ich melde mich heute mal mit einem weniger lustigen Video“). Zu den Erfordernissen an die Spieltechnik der Gruppe bleibt anzumerken, dass in den Beiträgen von oft weniger als einer Minute immer eine Emotion, eine Haltung und ein handlungstragendes Element gesendet werden müssen, was überraschend gut gelingt. Die Figuren werden tatsächlich zu unterscheidbaren Charakteren.
Das SDL bot der Gruppe ein Zeitfenster, das zur interaktiven Kommunikation mit dem Zuschaueenden zu nutzen war. Diese Nachahmung der Bindung der Follower innerhalb der Community erfolgte durch zahlreiche Kurzumfragen, in denen die Meinung der Betrachter zu Fragen der Geschichte per Mausklick entschieden werden konnte („Soll der plastinierte Tiger bei uns in der WG stehen bleiben?“). Das konstituiert eine Feedbackschleife, wie sie typisch für Instagram, aber auch ähnlich der für das Theater ist. Hier wird in spielerischer Weise der Aspekt der Gemeinschaftlichkeit zwischen Spieler*in und Zuschauer*in in einem geschützten digitalen Raum gemeinsamen Erlebens suggeriert; suggeriert, weil diese Feedbackschleife realiter ein Fake, die Unmittelbarkeit des Geschehens nur behauptet ist und die Abstimmungen ohne jede Folge sind. Die Gruppe nutzt das Element dann auch in ironisierender Form, wie das obige Beispiel belegen mag.
Das Konzept der Digitalisierung der erzählten Geschichte in Posts führt zu einem speziellen Umgang mit Raum und Zeit.
Die Reihenfolge der betrachteten Clips kann beliebig gewählt werden, auch innerhalb der Sequenzen kann vor- und zurückgesprungen oder übersprungen werden, die Geschichte ist demnach in Instagram-Häppchen beliebig konsumierbar und kombinierbar. Während die einzelnen Komponenten allesamt aus gegenwärtigen, spontanen Aktionen bestehen, also dem Betrachter vermitteln, „live“ dabei zu sein, erkennt der Betrachter natürlich schnell, dass ihm eine fiktive Geschichte erzählt wird, dafür sorgt spätestens der absurde Plot. Die Gruppe verschweigt das auch nicht. Sie benennt ihre Sequenzen mit inhaltlichen Überschriften:WG Leben, Tiger kommt, Forever, Comeback, Freundschaft, Final Count. In diesen versteckt sich, anfangs kaum erkennbar, die Dramaturgie der Erzählung, eine Art Einteilung in Akte, die in der Vorlage nicht ausgewiesen ist. Damit wird das Stück als vergangenes Ereignis etabliert, das von der Clique anscheinend aus Gründen der Dramatik der Ereignisse dokumentiert wurde. Es findet sich also ein Konzept in der Digitalisierung, das in vielem in der theatralen Darstellung funktional ähnlich ist, während die Rezeptionssituation eine individuelle bleibt.
Bisher war nur von dem Hauptcontent der Adaption die Rede. Der Account enthält jedoch mehr Material als nur die genannten sechs Episoden, da die Gruppe sich bemüht hat, ein Profil möglichst realitätsnah zu gestalten. Weitere Content-Elemente dienen dazu, dass alle handelnden Figuren sich selbst mit Foto und Kurzstatement vorstellen. Das bezieht auch Figuren ein, die in der dramatischen Vorlage nicht vorkommen, aber hier zu der Clique rund um Tiger gehören. Weitere Beiträge markieren die gesamte Seite dann schließlich auch als Theaterprojekt. So hat die Gruppe das online erfolgte Feedback während des Festivals in die Seite integriert, die Wochenaufgabe der Gruppe während des Festivals, die nichts mit dem Projekt zu tun hatte, ist hochgeladen. Interessant ist eine weitere Verlinkung zu einer digitalen „Applausordnung“, hinter der sich die Schüler*innen per Foto noch einmal persönlich präsentieren. Einige geben an dieser Stelle ihre tatsächlichen Instagram-Accounts an, so dass die Zuschauer aus der Fiktion in die reale Follower-Ebene gelockt werden („Don‚t follow your dreams – follow my YouTube“).
Abschließend kann gesagt werden: Die Geschichte der Vorlage ist zwar spürbar verflacht. Es gibt aber auch einen Gewinn. Während die Kunstsatire unterspielt bleibt, beweist die Adaption einen sehr ironischen Umgang mit dem gewählten Medium, die Verflachung wird zum Thema des Projekts selbst. Oft finden sich vielsagende Brechungen innerhalb eines Posts. Der plastinierte Tiger wird uns kurz durch Plastikfolie verfremdet zur Titelmelodie der Addams-Family-Verfilmung gezeigt. In einem anderen Post wird eine geheime Intrige gegen Tiger gepostet, die mit einem „Top Secret“-Stempel markiert wird. Mehrere Posts vermitteln, dass der weltberühmte Tiger vorrangig Titelblätter der Bravo schmückt, dem vielleicht tragischsten vordigitalen Medium der Jugend. Aus den zahlreichen Beispielen ironischer Distanz seien zwei weitere exemplarisch genannt. In einem Post benutzt die Spielerin den bei Influencern beliebten Usus des „Unboxing“. In dieser Szene schockiert dann der Inhalt des geöffneten Paketes dermaßen, dass die Kamera ihn nicht zeigen mag. In dem folgenden Post sollen die Zuschauer raten, welches Körperteil des Künstlers dort wohl zu sehen war. Wieder ein Post später wird erklärt, dass wahre Kunst eben immer schockieren muss.
Am Ende der letzten Sequenz wird schließlich ganz formal die komplette Fiktion aufgelöst. Der Zuschauende soll entscheiden, wie die Geschichte enden soll, es werden Alternativen angeboten. Das Ergebnis der Online-Abstimmung wurde am Aufführungsabend während des Festivals live gespielt und gestreamt, dieser abschließende Ausflug in die wirkliche Unmittelbarkeit karikierte rückwirkend die gesamte Erzählung. Ironischerweise entschied sich das Publikum in der Abstimmung für ein Happy End. Galerie-Besitzerin und Künstler verlassen den Spielraum als Paar, niemand muss für die Kunst sterben. Die hinterlistige Agentin, die Tigers Tod in die Tat umsetzen wollte, verliert. Das Feedback bedeutet für die Gruppe wohl die Erkenntnis: Wir haben den Followern ein Teenager-Drama mit harmonischem Ausgang geboten.
Die Leistung der Gruppe besteht zunächst darin, einen literarischen Stoff so in Elemente zu zerlegt zu haben, dass er sich in die Narration des Mediums integrieren lässt. Innerhalb des Projektes werden die zur Verfügung stehenden Tools im Sinne des Mediums geschickt und in ironischer Distanz benutzt, so entsteht eine instagram-kritische Produktion auf Instagram.
Hamburgs Beitrag Society killed Antigone ist der Produktion @tatto(o)theater in vielen Aspekten verwandt.
Die Hamburger Gruppe hat für ihr Projekt eine Web-Seite mit eigener Adresse geschaltet: https://antigone.sdl2021.de/. Damit machte sie sich unabhängig von vorprogrammierten Arbeitsoberflächen. Diese Freiheit beinhaltet gleichzeitig das Problem, dass alle Inhalte eigenständig generiert werden müssen.
Die Web-Seite Society killed Antigone begrüßt den Besucher mit einer Startseite, die eine Gesichtscollage einer weiblichen Figur präsentiert, in der augenscheinlich prominente Persönlichkeiten zusammengeführt wurden. Im Hintergrund erkennt man Damenbeine und -schuhe, die den Kontext einer Abendgesellschaft assoziieren lassen. Unter diesem Plakat beschreibt die Gruppe den Hintergrund ihrer Veröffentlichung quasi als Vorwort zum Verständnis des Projekts. Dort findet sich auch ein kurzer Absatz zur Handlung der griechischen Vorlage.
Es fällt sofort ins Auge, dass diese Antigone komplett aus ihrem Legendenkontext befreit und sprachlich neu definiert wurde. Antigone ist hier „rebellisch“, lebt bei ihrem „etwas aggressiven Onkel“ Kreon, Schwester Ismene hat sie schon mehrmals vor „schlimmen Strafen“ bewahrt, Kreons Sohn Hämon steht in einem „Liebestumult“ zwischen beiden Schwestern, der ein „tragisches Ende hat“. Mit diesem Vorwissen klickt der Besucher sich zur Hauptseite und findet dort den komplett scrollbaren Seitencontent.
Die Seite ist aufgebaut in zehn Szenen mit insgesamt 34 Frames. Frames bezeichnet hier den Verbund von kurzen Videos (Reels), Tondateien, Schrifttafeln, Grafiken und Animationen. Zwar gibt die Einteilung in Szenen von oben nach unten eine Chronologie der Betrachtung vor, aber auch hier wählt der Betrachter selbst. Die einzelnen Film-Frames basieren auf YouTube Technologie und lassen sich daher auch bildfüllend darstellen. Die Spieldauer ist in diesem Projekt nicht limitiert, es zeigt sich aber, dass die meisten Clips kurz sind, manche bestehen auch nur aus Einzelbildern, die mit Musik unterlegt sind. Der längste Clip läuft 4:30 Minuten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings der Vorteil der freien Verfügbarkeit von Darstellungsoptionen. Offensichtlich wurde das visuelle Material mittels Zoom hergestellt, so gibt es einzelne in den Seitenaufbau eingebettete Zoom-Aufzeichnungen als auch parallel platzierte Zoomszenen, in denen die Figuren miteinander interagieren. Andere Frames haben Kommentarfunktion, eine vom Zuschauer animierbare Grafik visualisiert familiäre Verstrickungen in Form von beweglichen Vektoren.
Inhaltlich folgt die Gruppe konsequent ihrer eingangs erwähnten Vorankündigung. Die Handlung konzentriert sich auf die genannten Hauptfiguren, kreist erzählerisch um zwei „Partys“ und schickt die Hauptfiguren in therapeutische Behandlung. Antigone ist hier das Beziehungsdrama junger Frauen mit ihrem Erziehungsberechtigten und dessen Sohn, der beide Stiefgeschwister mag.
Das führt zu einer radikalen Verflachung des Stoffes durch Reduktion.
Reduziert wird auch die Sprache des Dramas auf heutige Alltagskommunikation (Ismene zur Therapeutin: „Auch das mit Hämon, das nervt so doll. …Ist alles irgendwie scheiße im Moment.“ – Kreon: „Ismene, ab auf dein Zimmer!“). Eine weitere Reduktion zeigt sich in der Gestaltung des Zoom-Materials. Es gibt keine raumspezifische Inszenierung. Die Zimmer, in die der Betrachter blickt, sind die tatsächlichen Jugendzimmer mit zufällig ins Bild rückenden Details. Die Kleidung ist legere Lockdown-Alltagskleidung. Kreon wird von einem Mädchen gespielt, das keinerlei männliche Rollenanverwandlung betreibt, und Ismene liegt am immer gleichen Kopfende eines Bettes, unabhängig davon, an welchem Ort die Situation angesiedelt ist. Handelt es sich hierbei also um eine absichtliche oder umständebedingt verweigerte Inszenierung? Sieht der Betrachter eine bewusst so angelegte Trash-Version eines klassischen Stoffes? Wenn es so intendiert war, ist es nicht deutlich herausgearbeitet. In der vorliegenden Form weht durch diese Antigone der Geist des alten Bravo-Fotoromans im neuen Gewand.
Es gibt allerdings dezente Hinweise darauf, dass es zumindest auch um Genderfragen gehen sollte. In fünf Textframes, die allesamt den Satz fortführten: „Wenn es die Gleichberechtigung von allen Geschlechtern gäbe, dann …“, zum Beispiel mit: „… dann würde der Druck wegfallen, sich einem Geschlecht zuordnen zu müssen.“ Die Anbindung an die Erzählung ist allerdings schwer nachvollziehbar. Diese Inhalte bleiben ein separates, wenn auch interessantes Element.
Zum Aspekt Digitalität finden sich zwei bemerkenswerte Inhalte auf der Seite, die hier erwähnt werden sollen. Auch diese Gruppe greift auf Instagram als Kommunikationsmedium in der Darstellung zurück. Zum einen haben die drei jungen Hauptfiguren jeweils einen Instagram-Account in eigenen Frames, sind also in ihrer Rolle in Social Media aktiv, zum anderen gibt es einen Filmclip, in dem zwei Schülerinnen, auf Zoom mit Headset verbunden, gemeinsam diese Accounts anschauen und dabei über ihr Verhältnis zu den Figuren reden, bevor sie „zu den andren zurück müssen“. Dieser Augenblick markiert eine innerhalb des Projekts neue, kreative Kombination digitaler Erzähltechniken. Der fingierte Instagram- Account wird durch Betrachtung dritter, erfundener Figuren belebt und als bedeutungstragendes Element auf einer Webpage für den Betrachter als Film eingestellt. Das ist doppelte Referentialität in einer imaginierten Realität.
Und letztlich gibt es den eingestellten Filmclip zu Antigones Tod. Hier werden drei Zoomclips nebeneinander montiert und mit sphärischer, hymnischer Musik unterlegt. Die Figuren in den Frames scheinen zunächst Stills, also Fotos zu sein. Nach gewisser Zeit aber fangen sie an, sich in einer Art ritueller Tanzbewegung in Zeitlupe zu bewegen, während der dritte Frame unbewegt bleibt. Dieser Clip erzeugt als einer der wenigen der Produktion eine Stimmung, die der dargestellten Situation angemessen erscheint und Raum und Zeit metaphysisch verbindet.
Der Titel Society killed Antigone lässt vermuten, dass es die rollenfixierte Gesellschaft ist, die selbstbewussten Frauen wie Antigone den Tod bringt. In der Umsetzung des Projekts sehen wir eher eine private Geschichte schwieriger Einzelbeziehungen, ohne Rücksicht auf Traditionen maximal modernisiert.
Lehrer am Egbert-Gymnasium der Benediktiner in Münsterschwarzach. Seit Beginn erzieherischer und unterrichtlicher Tätigkeit Theaterlehrer in verschiedensten Inszenierungsformen und Gruppierungen. Ausgebildet an der Akademie in Dillingen und an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seitdem als Referent und Autor in verschiedenen Zusammenhängen tätig. Vorsitzender des Verbands Theater am Gymnasium in Bayern und Mitglied des erweiterten Vorstands der Landesarbeitsgemeinschaft Theater und Film in Bayern, zuständig für die Organisation der Ausbildung von Junior Assistenten Theater.
Arbeitet seit den achtziger Jahren als Theaterlehrer an einem Hamburger Gymnasium, war von 2009 bis 2014 im Vorstand des Hamburger FvTS tätig und Mitorganisator des Schultheater der Länder 2009 in Hamburg (Site Specific) sowie des Hamburger Festivals „theatermachtschule“, tms. Er hat zahlreiche Texte für die Publikationen Spiel&Theater, Schultheater und für den Fokus Schultheater verfasst. Theatergruppen unter seiner Leitung nehmen regelmäßig an lokalen Wettbewerben teil.