Ein Vortrag von Mareike Wenzel
Im Folgenden werde ich über Rollen sprechen und die unterschiedlichen Räume, die sie uns eröffnen können.
Dabei muss ich zuerst die Tür für einen sehr unbekannten Raum für mich öffnen und mich mit der Rolle, der Vortragenden, außerhalb des mir vertrauten Bühnenraums bekannt machen. Dieser kleine Beitrag ist gleichzeitig auch ein Probenprozess für mich und Teil meiner Rollenfindung als Vortragende bzw. Schreibende. Schauen wir wie und ob ich die Rolle ausfüllen und für Sie, die Lesenden, einen kleinen Raum öffnen und Sie so an meinen Gedanken zur Rollenarbeit teilhaben lassen kann.
Gehen wir also gemeinsam auf die Probebühne und debattieren wir, welche Räume sich für uns durch Rollen öffnen.
Seit über 20 Jahren habe ich als Schauspielerin das Privileg mit jeder neuen Rolle, einen Raum für mich zu öffnen und zu erforschen. Im Folgenden werde ich auf Rollen als Möglichkeits‑, als Erfahrungs- und als Schutzräume eingehen. Nicht alle Erfahrungen aus meinem Berufsleben als Schauspielerin lassen sich auf die Arbeit im Schultheater übertragen, aber ich arbeite auch seit 7 Jahren mit meiner Theaterkompagnie Aitsona-Daitsona (deutsch “die Wippe”) im Bereich Kinder‑, Jugend- und Schultheater in Georgien, daher werde ich mich auf beide Erfahrungsbereiche beziehen und auch auf die Fallstricke und Gefahren, die bestimmte Trends im zeitgenössischen Theater in der Arbeit mit Laien mit sich bringen, eingehen.
Aber zunächst zur Einstiegsfrage: Wie viel Rolle braucht es? Meiner Meinung nach viel, sehr viel, es gibt nichts Spannenderes als die Rollenarbeit, das langsame Wachsen und Entstehen einer Figur und mit ihr eines ganzen Raums, der über diese hinausgeht: das Rollenuniversum, mit dem alles in einer Inszenierung verbunden ist.
Schon an der Schauspielschule war einer der größten Momente immer der zum Beginn eines Trimesters (ich studierte in England), wenn die Stücke mit den Besetzungslisten aushingen, die in der kommenden Zeit anstanden. Wir stolperten aus dem Fahrstuhl in den Gemeinschaftsraum und dort hingen die Listen am schwarzen Brett, um das sich alle drängten. Hatten wir das Stück und die Rolle mit unserem Namen dahinter gefunden, begann auch gleich der Findungsprozess: ein erstes Bild erscheint sofort im Kopf, eine Geste, ein Gefühl, eine Stimme und Fragen, viele Fragen. Dann wurden Stücke gelesen, Literatur gesucht, wir begannen zu forschen, auszuprobieren, zu beobachten, zu verwerfen und in andere Welten einzutauchen und sie gleichzeitig durch unsere Arbeit entstehen zu lassen.
Ich schreibe ganz bewusst wir, denn Rollen entstehen nie alleine, sondern erst im Zusammenspiel mit den anderen Schauspieler*innen, erst das gemeinsame Proben, das Aufeinandertreffen der ersten Rollenentwürfe lässt die einzelnen Rollen entstehen. Rollen entwickeln sich nie ohne Gegenüber, selbst wenn ich eine Rolle allein auf die Bühne, bzw. in den Spielraum bringe, entsteht sie erst im Zusammenspiel, das heißt auch mit dem Publikum und dem Bühnenraum.
Rollenarbeit ist Gruppenarbeit, was besonders im Kontext Schultheater von Bedeutung ist. Die Teilnehmenden befinden sich im ständigen Austausch, in dem sie gemeinsam entwickeln und ausprobieren und so ihr Rollen- und Bühnenuniversum entstehen lassen. Diese Arbeit stärkt soziale Kompetenzen, Kreativität und Kommunikationsfähigkeit. Es heißt auszuloten, wie sich die Figuren zueinander verhalten, aber auch zum Raum und zum Publikum. Eine Rolle zu entwickeln, bedeutet immer in Kommunikation mit ihrer kompletten Umwelt zu treten. Aus dieser Zwiesprache und der Reibung wächst die Rolle und auch wir, die Spielenden, denn wir erschließen uns dadurch neue Welten, Denk- und Handlungsräume.
Rolle braucht also Reibung mit einem Gegenüber, mit einem Raum, um sich zu entfalten. Der Prozess der Rollenarbeit ist zum einen das eigene Eintauchen in eine andere Welt und zum anderen das Teilen dieser Welt mit anderen. Das ist noch einmal ganz besonders der Fall in meiner Arbeit mit der immersiven Performance Gruppe SIGNA, der ich seit 2007 angehöre.
Wenn ich von Rolle spreche, dann kann das die klassische Rolle aus einem dramatischen Text in einer klassischen Bühnensituation sein oder wie in meinem Fall oft in der immersiven Theaterarbeit mit SIGNA nur eine grobe Skizze. In dieser Arbeit steht zu Beginn der Rollenarbeit oft nicht viel mehr als ein Name, Alter, Funktion innerhalb der Stückkonstellation und ein paar Wörter zum Charakter, der Rest entsteht im Probenprozess und ist meine Aufgabe als Schauspielerin und entsteht im Kollektiv mit den anderen Schauspieler*innen. Wir Schauspieler*innen entwickeln unter der Regie von Signa Köstler nicht nur unsere Rollen und Rollenbiografien, sondern auch die komplette Welt um unsere Rollen herum und die Geschichte, die wir durch unsere Rollen erzählen. Ich werde im Verlauf noch weiter auf die Arbeit mit SIGNA und das immersive Arbeiten eingehen.
Zunächst zurück zur generellen Rollenarbeit. Ich spreche hier natürlich nur von meiner Herangehensweise, wir Schauspieler*innen arbeiten alle unterschiedlich und es gibt nicht die eine Anleitung zur Rollenarbeit. Für mich entsteht die Rolle und gewinnt an Kontur und Eigenleben durch kontinuierliche Reibung, in dem ich mich in Beziehung zur Rolle setze, mit ihr in Zwiesprache gehe, Konflikte mit ihr austrage, mich von ihr verführen lasse oder sie verführe. Der Kontrast, die Reibung zwischen mir und der anfangs noch abstrakten Rolle ist das, was mich interessiert und was die Rolle am Ende ausmacht. Diese Arbeit geschieht, aber wie gesagt nicht im luftleeren Raum, sondern immer in Kommunikation mit den anderen Schauspieler*innen, dem Raum, den ich bespiele und den Zuschauenden, denn selbst wenn ich nicht direkt mit diesen kommuniziere, muss ich sie mitdenken und mich zu ihnen verhalten.
Ich selbst arbeite viel von außen nach innen, das heißt ich erschließe mir eine Rolle stark über das Körperliche und die Stimme. Die Stimme ist für mich tatsächlich oft der entscheidende Faktor in der Rollenfindung, über die ich Zugang zum Innenleben einer Rolle finde, darauf baue ich meine Rolle auf. Ist die Stimme da, folgt die Haltung meist ganz von allein.
So viel allgemein zur Rollenarbeit, schauen wir nun genauer in die einzelnen Rollenräume und was sie für Theater in der Schule eröffnen können.
Nachdem wir kurz über das Erarbeiten von Rollen nachgedacht haben, lassen Sie uns den Fokus auf die unterschiedlichen Rollenräume richten und ihre Bedeutung in der Arbeit im Kinder‑, Jugend- und Schultheater.
Wir wollen unsere Themen bzw. die Themen der Kinder und Jugendlichen auf die Bühne bringen, aber wie können wir zum Teil sehr Persönliches verhandeln, ohne die Spielenden schutzlos dem Blick des Publikums auszuliefern?
Es braucht Rolle.
Die Rolle als Schutzraum gibt die Möglichkeit über Dinge mit Distanz zu sprechen. Das Annehmen und Erarbeiten einer Rolle, ermöglicht es der spielenden Person, die für sie nötige Distanz zu den auf der Bühne verhandelten Themen aufzubauen, um sicher spielen und sich ausdrücken zu können.
Gerade im Trend hin zum biografischen Arbeiten mit Laien sehe ich die Gefahr, dass sich die Spielenden oft nicht wirklich darüber im Klaren sind, was es bedeutet, die eigenen Geschichten und Erfahrungen in einem theatralen Kontext an die Öffentlichkeit zu bringen. Der veränderte Blick vom Außen, vom Publikum, wird oft unterschätzt.
Es muss mir klar sein, dass ich, wenn ich ohne den Schutz einer Rolle auf die Bühne gehe und Persönliches teile, danach anders betrachtet werde als zuvor. Das Bild und die Geschichte von mir auf der Bühne ist nun mit mir verknüpft und wird, auch wenn unterbewusst, immer mitschwingen. Das ist nicht per se negativ, aber die Person auf der Bühne muss sich dessen bewusst sein und was das für Folgen haben kann.
Ich kenne es aus eigener Erfahrung, wenn ich auf der Bühne oder wie letztens in einem Publikumsgespräch über meinen eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt spreche oder sie auf der Bühne behandele, dann weiß ich, dass ich danach anders angeschaut und von einigen Menschen auch anderes behandelt werde. Ich und mein Handeln werden danach immer in diesem Kontext gelesen. Ich kann damit umgehen und entscheide selbst wann ich meine Erfahrungen teile und wann nicht und kann sie auch künstlerisch einsetzen. Bei der Arbeit mit Laien ist das aber sehr oft nicht der Fall und als Regie oder Spielleitung ist es meine Aufgabe, die spielenden Personen zu schützen und einen Raum zu schaffen, in dem sie auf der Bühne bzw. im Spielraum sicher sind und ihn darüber hinaus auch sicher wieder verlassen. Daher plädiere ich immer für mehr Rolle, die eigenen Erfahrungen können in die Rolle einfließen, aber Fiktion und Rolle bieten Schutz und Abstand.
Vor kurzem sprach ich mit einer Bekannten, die in einem Museum arbeitet und dort im Rahmen von Führungen über jüngste Geschichte mit Schulklassen spricht. Sie sagte mir, dass sie in ihren Führungen keine eigenen Erlebnisse und Erinnerungen mehr teilt, da sie das Gefühl bekam, dass sie sie durch die ständige Wiederholung verliert oder manchmal nicht mehr weiß, was wirkliche Erinnerung ist und was nicht. Sie möchte keine persönlichen Erinnerungen mehr teilen, um ihre Erinnerung für sich zu bewahren.
Je öfter man eine Geschichte erzählt, desto mehr distanziert man sich auch oft von ihr. Wiederholen der eigenen Erlebnisse und Geschichten birgt immer die Gefahr, dass sie sich verselbständigen und ein Eigenleben bekommen. Das kann einerseits befreiend sein, da so Distanz entsteht, aber auch verwirrend, da man das Gefühl bekommt seine Geschichte zu verlieren und gerade bei traumatischen Erlebnissen, bei denen man selbst oft an sich zweifelt, kann das zu stärkeren Zweifeln führen. Es kann also sowohl bestärken als auch triggern.
Als Regie und Spielleitung ist immer wichtig diese Punkte zu bedenken und auch zu besprechen. Ich habe oft erlebt, dass Teilnehmende in meinen Projekten unbedingt persönliche Erfahrungen eins zu eins teilen wollen. Wir führen dann immer lange Gespräche und schauen, wie wir einen fiktionalen Rahmen bauen und eine Rolle schaffen können, die der persönlichen Erfahrung gerecht wird und trotzdem einen schützenden Raum für die Spielenden schafft. Beim biografischen Arbeiten mit Laien sollte immer die Sicherheit der Teilnehmenden an erster Stelle stehen, auch wenn es manchmal heißt spannendes Material zu verwerfen. Es gilt genau auszutarieren, was ist die Intention des Stücks, was ist der Wunsch der Darstellende und wie ich als Regisseurin dem Stück und den Darstellenden dienen und einen sicheren Rahmen schaffen kann. Füttere ich gerade mein Regie-Ego oder stelle ich mich in den Dienst der Teilnehmenden? Die Frage gilt es sich immer wieder zu stellen und eine Haltung dazu zu finden.
Meine Arbeit mit Laien hat immer die Ideen, Wünsche und Erfahrungen der Teilnehmende als Ausgangspunkt und dann beginnt die gemeinsame Forschungsreise. Wir fangen an uns auszutauschen, Rollen zu den Erfahrungen zu entwickeln, schöpfen aus den gemeinsamen Erfahrungen, tauschen Rollen, überlappen und ergänzen Schicht um Schicht die Rollen mit unterschiedlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Wünschen, bis am Ende ein Rollenuniversum entstanden ist, dass für alle Erfahrungen und Ideen steht, aber nicht mehr auf die individuellen Teilnehmenden zurückzuführen ist. Das Biografische kann die Rolle ergänzen und untermauern, aber darüber werden verschiedene Schichten gelegt.
Eine Rolle einzunehmen, eröffnet gleichzeitig einen Möglichkeitsraum für Perspektiven und Optionen, die wir außerhalb von Rolle und Fiktion vielleicht nie denken und in Betracht ziehen würden. Das Einnehmen einer anderen Rolle ermöglicht uns gleichzeitig aus der eigenen Rolle zufallen und uns Räume zu eröffnen und zu nehmen, die uns sonst oft verschlossen bleiben oder die wir uns nicht trauen zu öffnen oder uns zu nehmen.
Auch wenn das Wort “Ermächtigung/Empowerment” mittlerweile überstrapaziert wird, kann das Ausprobieren und Annehmen einer Rolle ein Ermächtigungsvorgang sein. Ich kann mich in andere Denkmuster einfinden und Machtverhältnisse aus verschiedenen Perspektiven analysieren. Wenn ich bestimmte Machtstrukturen verstanden habe, dann kann ich sie auch verändern oder zumindest hinterfragen. Das ist besonders in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wichtig und prägt stark meine Arbeit mit meinem Kindertheater Aitsona-Daitsona (die Wippe) in Georgien. In unseren Theaterworkshops und Stücken geht es viel um existierende Machtstrukturen, durch das Schlüpfen in verschiedene Rollen bekommen die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit im Spiel diese Strukturen zu hinterfragen und neue Räume für sich zu erschließen. Nicht nur in Georgien, auch in Deutschland und wahrscheinlich fast überall auf der Welt, gibt es immer weniger Raum für Kinder und schon gar keine Möglichkeitsräume, besonders nach Corona und mit wachsendem Leistungsdruck in Schule und Gesellschaft allgemein.
Kinder spielen im öffentlichen Raum kaum eine Rolle und wenn, dann sind ihre Rollen klar definiert und auf kleinstmöglichen Raum begrenzt. Weder in der Schule noch im öffentlichen Leben wird ihnen genug Freiraum eingeräumt, in dem sie ohne Druck und Erwartungshaltung von außen experimentieren und aus der Rolle fallen können. Aber gerade dieses aus der Rolle fallen müssen wir Kindern ermöglichen, damit sie sich ausprobieren und entfalten und in ihrer Umwelt orientieren können. Das braucht Zeit und geschützte Räume.
Je weniger Raum vorhanden, desto weniger trauen sich die Kinder auch Raum für sich in Anspruch zu nehmen und für sich zu definieren. Immer wieder stellen wir mit Aitsona-Daitsona fest, wie Kinder ihre von der Erwachsenenwelt zugewiesenen Rollen übernehmen und sich nicht trauen aus diesen Rollen auszubrechen und sich Raum zu nehmen, da sie den von ihrem erwachsenen Umfeld ganz klar definierten und eingeschränkte Rahmen übernehmen.
Was hat das nun mit Theater und Rollenarbeit zu tun? In dem wir Räume und Rollen neu denken und vermischen, entstehen neue Zwischen- und Möglichkeitsräume und alte Strukturen werden spielerisch hinterfragt. So schaffen wir mit Aitsona-Daitsona theatrale Rahmen und Räume, in denen Kinder sich neue Räume erspielen und ausprobieren können, in dem sie Rollen annehmen, die ihnen Macht geben Dinge selbst zu entscheiden und mitzubestimmen. Wir können durch Rollen neue Räume schaffen, in dem wir die Rollen, die einem Raum zugeschrieben werden, wegnehmen und durch neue, eigene Rollen ersetzen.
Das Öffnen dieser Räume braucht Zeit, wenn wir zu Beginn unserer Workshops Kinder ganz frei entscheiden lassen, wie sie einen Raum gestalten wollen, sind sie oft überfordert und versuchen sich an gängige Nutzungen und Ideen anzupassen, statt ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Erst wenn wir den Kindern die Möglichkeit geben sich eigene Rollen zu suchen und diese den Raum betreten und definieren zu lassen, beginnen die Kinder, den Raum wirklich zu ihrem zu machen und für sich zu entdecken. Es dauert einige Zeit und als Spielleitung müssen wir immer wieder Impulse geben, bis sich die Teilnehmenden trauen vorgefertigte Rollen- und Denkmuster zu verwerfen und sich und den Raum um sie herum neu zu denken, neue Funktionen zu erforschen und sich zu eigen zu machen.
So bedeutet Rollenarbeit auch immer gleichzeitig aus der eigenen Rolle zu fallen, zumindest zum Teil.
Um das aus der Rolle zu fallen zu erreichen, müssen wir wieder lernen, uns neu zu erfinden und somit Rollen wie auch Räume neu zu denken. Wenn ich in einer Rolle denke, dann denke ich auch den Raum, in dem sie sich befindet mit, weil Rolle und Raum immer verbunden sind.
An die Möglichkeit schließt sich die Erfahrung an. Rollenarbeit und szenisches Forschen gehen Hand in Hand. In dem wir uns Rollen erarbeiten, erarbeiten wir uns neue Horizonte und Erfahrungswelten. Dabei ist es wichtig, dass es beim Erarbeiten einer Rolle nicht um die Nachahmung von Verhaltensmustern geht, sondern um das Verstehen und das Übertragen auf die eigenen Erfahrungshorizonte.
Da kommen wir auch zum Immersiven. Rollenarbeit bedeutet das Eintauchen in eine andere Welt, in das Universum einer Person und das Erforschen des Erfahrungsraums dieser Person. Rollenarbeit ist der Versuch des Verstehens und das hinter die Fassaden blicken. Forschen bedeutet auch gleichzeitig immer die Option des Scheiterns und des Verwerfens. Forschen nicht im Sinne von Zielsetzungen erfüllen zu müssen, sondern im Sinne von erfahren und spüren. Auch hier kommen wir wieder zur Reibung und Zwiesprache mit der Figur, die wir spielen, wir lassen uns bis zu einem gewissen Punkt von ihr verführen und loten dabei gleichzeitige die Punkte aus, die uns fremd sind, die unserem eigenen Wesen konträr gegenüberstehen, diese Reibung eröffnet einen Zwischenraum zwischen uns und der Rolle und ist die Basis für die Rollenarbeit. Diesen Raum zu erforschen und für sich einzunehmen lässt neue Einsichten zu.
Rolle ist der Versuch zu verstehen und sich diesen Zwischenraum zu eröffnen, dass bedeutet nicht Verständnis im Sinne von Empathie oder dem kompletten Aufgehen im anderen, sondern auch hinter Fassaden zu schauen und den Dialog zwischen verschiedenen Welten.
Es geht nicht um Aneignung von mir Fremden, sondern um den Dialog mit anderen Erfahrungswelten.
Seit mehr als 16 Jahren arbeite ich als Schauspielerin hauptsächlich im immersiven Theater mit der Performancekompagnie SIGNA. Diese Arbeit hat auch meine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stark geprägt. Immersion im Theater bedeutet das vollkommende Eintauchen des Zuschauenden in die Bühnenwelt. Die Zuschauenden werden im immersiven Theater Teil des Geschehens und nehmen abhängig von der Stückform zum Teil aktiv am Geschehen teil. Eine ganze Welt und ein Rollenuniversum werden gebaut, in die das Publikum eintaucht und sich seinen Weg durch die Geschichte sucht. Dieser kann zum Teil durch die Darstellenden und die Dramaturgie gelenkt sein, aber abhängig vom Format, kann sich das Publikum auch frei durch den Raum bewegen und seinen eigenen Weg festlegen.
In den Arbeiten von SIGNA entwickeln wir Schauspieler*innen gemeinsam mit der Regie das Rollenuniversum und die Welt, in die das Publikum als Teilnehmende eintritt. Die Rahmenhandlung ist gegeben, aber die jeweiligen Vorstellungen sind improvisiert und so verläuft jeder Abend anders, da die Zuschauenden mit ihren Reaktionen das Geschehen zu einem Teil beeinflussen. Der Raum hat im immersiven Theater eine überragende Rolle, er steht gleichberechtigt mit den einzelnen Rollen und erzählt auch selbstständig einen Teil der Geschichte. Dies geschieht nicht nur durch die Ausstattung, sondern auch durch den Geruch und den Sound. Dabei lässt alles Rückschlüsse auf die Geschichte und die Rollen, die sie bewohnen, zu.
Diese Art von Theaterarbeit ist natürlich eine starke Herausforderung was die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen betrifft und benötigt einen langen und intensiven Probenprozess, ist aber aus meiner Erfahrung sehr bereichernd für alle Teilnehmenden. Anders als bei konventionellen Stücken können die spielenden Kinder und Jugendliche ihre Rollen nicht nur durch das direkte Spiel zeigen, sie bauen ihre Rollen auch in das Bühnenbild ein. Es werden Objekte, Kostüme, Zeichnungen, Schriftstücke und alles, was zur eigenen Rolle gehört entwickelt, gebaut und zusammengetragen, die allesamt in den Bühnen-/Spielraum einfließen und genauso von den Zuschauenden gesehen werden, wie das Spiel der einzelnen. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass es in dieser Form von immersivem Theater nicht unbedingt Haupt- und Nebenrollen gibt, denn alle Spielenden befinden sich immer im Bühnenraum und die Zuschauenden treffen auf alle Figuren in kleinen Begegnungen. So bekommen alle Spielenden den gleichen Raum und das Konkurrieren um den großen Monolog, die große Szene entfällt.
Wie schon unter Rolle als Schutzraum besprochen bedarf es besonders bei immersiven Arbeiten einer klaren Trennung von Rolle und der eigenen Person, um die Reaktion des Publikums auf die Rolle klar von der eigenen Person trennen zu können, sonst besteht die Gefahr, dass Traumata reproduziert oder getriggert werden.
Es bedarf starker Rollen (im Sinne von gut gebauten und geprobten Rollen), die nicht in erster Linie autobiografisch sind, um sicher spielen zu können.
Ich werde diesen Gedankenraum nun wieder verlassen und hoffe, dass ich auch einen kleinen gemeinsamen Raum öffnen konnte und wünsche uns allen viele neue Möglichkeits‑, Erfahrungs- und auch Begegnungsräume.
Theresa Schütz: Theater der Vereinnahmung ‑Publikumsinvolvierung im immersiven Theater; Verlag Theater der Zeit
https://kuenstlerische-interventionen.de/absolventinnen/wenzel-mareike-bio/