SCHUL.THEATER

Fokus

Wie viel Rolle braucht es?

Ein Vor­trag von Marei­ke Wenzel

Inhalt 

Im Fol­gen­den wer­de ich über Rol­len spre­chen und die unter­schied­li­chen Räu­me, die sie uns eröff­nen können.

Dabei muss ich zuerst die Tür für einen sehr unbe­kann­ten Raum für mich öff­nen und mich mit der Rol­le, der Vor­tra­gen­den, außer­halb des mir ver­trau­ten Büh­nen­raums bekannt machen. Die­ser klei­ne Bei­trag ist gleich­zei­tig auch ein Pro­ben­pro­zess für mich und Teil mei­ner Rol­len­fin­dung als Vor­tra­gen­de bzw. Schrei­ben­de. Schau­en wir wie und ob ich die Rol­le aus­fül­len und für Sie, die Lesen­den, einen klei­nen Raum öff­nen und Sie so an mei­nen Gedan­ken zur Rol­len­ar­beit teil­ha­ben las­sen kann.

Gehen wir also gemein­sam auf die Pro­be­büh­ne und debat­tie­ren wir, wel­che Räu­me sich für uns durch Rol­len öffnen.

Seit über 20 Jah­ren habe ich als Schau­spie­le­rin das Pri­vi­leg mit jeder neu­en Rol­le, einen Raum für mich zu öff­nen und zu erfor­schen. Im Fol­gen­den wer­de ich auf Rol­len als Möglichkeits‑, als Erfah­rungs- und als Schutz­räu­me ein­ge­hen. Nicht alle Erfah­run­gen aus mei­nem Berufs­le­ben als Schau­spie­le­rin las­sen sich auf die Arbeit im Schul­thea­ter über­tra­gen, aber ich arbei­te auch seit 7 Jah­ren mit mei­ner Thea­ter­kom­pa­gnie Ait­so­na-Dait­so­na (deutsch “die Wip­pe”) im Bereich Kinder‑, Jugend- und Schul­thea­ter in Geor­gi­en, daher wer­de ich mich auf bei­de Erfah­rungs­be­rei­che bezie­hen und auch auf die Fall­stri­cke und Gefah­ren, die bestimm­te Trends im zeit­ge­nös­si­schen Thea­ter in der Arbeit mit Lai­en mit sich brin­gen, eingehen.

Aber zunächst zur Ein­stiegs­fra­ge: Wie viel Rol­le braucht es? Mei­ner Mei­nung nach viel, sehr viel, es gibt nichts Span­nen­de­res als die Rol­len­ar­beit, das lang­sa­me Wach­sen und Ent­ste­hen einer Figur und mit ihr eines gan­zen Raums, der über die­se hin­aus­geht: das Rol­len­uni­ver­sum, mit dem alles in einer Insze­nie­rung ver­bun­den ist.

Schon an der Schau­spiel­schu­le war einer der größ­ten Momen­te immer der zum Beginn eines Tri­mes­ters (ich stu­dier­te in Eng­land), wenn die Stü­cke mit den Beset­zungs­lis­ten aus­hin­gen, die in der kom­men­den Zeit anstan­den. Wir stol­per­ten aus dem Fahr­stuhl in den Gemein­schafts­raum und dort hin­gen die Lis­ten am schwar­zen Brett, um das sich alle dräng­ten. Hat­ten wir das Stück und die Rol­le mit unse­rem Namen dahin­ter gefun­den, begann auch gleich der Fin­dungs­pro­zess: ein ers­tes Bild erscheint sofort im Kopf, eine Ges­te, ein Gefühl, eine Stim­me und Fra­gen, vie­le Fra­gen. Dann wur­den Stü­cke gele­sen, Lite­ra­tur gesucht, wir began­nen zu for­schen, aus­zu­pro­bie­ren, zu beob­ach­ten, zu ver­wer­fen und in ande­re Wel­ten ein­zu­tau­chen und sie gleich­zei­tig durch unse­re Arbeit ent­ste­hen zu lassen.

Ich schrei­be ganz bewusst wir, denn Rol­len ent­ste­hen nie allei­ne, son­dern erst im Zusam­men­spiel mit den ande­ren Schauspieler*innen, erst das gemein­sa­me Pro­ben, das Auf­ein­an­der­tref­fen der ers­ten Rol­len­ent­wür­fe lässt die ein­zel­nen Rol­len ent­ste­hen. Rol­len ent­wi­ckeln sich nie ohne Gegen­über, selbst wenn ich eine Rol­le allein auf die Büh­ne, bzw. in den Spiel­raum brin­ge, ent­steht sie erst im Zusam­men­spiel, das heißt auch mit dem Publi­kum und dem Bühnenraum.

Rol­len­ar­beit ist Grup­pen­ar­beit, was beson­ders im Kon­text Schul­thea­ter von Bedeu­tung ist. Die Teil­neh­men­den befin­den sich im stän­di­gen Aus­tausch, in dem sie gemein­sam ent­wi­ckeln und aus­pro­bie­ren und so ihr Rol­len- und Büh­nen­uni­ver­sum ent­ste­hen las­sen. Die­se Arbeit stärkt sozia­le Kom­pe­ten­zen, Krea­ti­vi­tät und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit. Es heißt aus­zu­lo­ten, wie sich die Figu­ren zuein­an­der ver­hal­ten, aber auch zum Raum und zum Publi­kum. Eine Rol­le zu ent­wi­ckeln, bedeu­tet immer in Kom­mu­ni­ka­ti­on mit ihrer kom­plet­ten Umwelt zu tre­ten. Aus die­ser Zwie­spra­che und der Rei­bung wächst die Rol­le und auch wir, die Spie­len­den, denn wir erschlie­ßen uns dadurch neue Wel­ten, Denk- und Handlungsräume.

Rol­le braucht also Rei­bung mit einem Gegen­über, mit einem Raum, um sich zu ent­fal­ten. Der Pro­zess der Rol­len­ar­beit ist zum einen das eige­ne Ein­tau­chen in eine ande­re Welt und zum ande­ren das Tei­len die­ser Welt mit ande­ren. Das ist noch ein­mal ganz beson­ders der Fall in mei­ner Arbeit mit der immersi­ven Per­for­mance Grup­pe SIGNA, der ich seit 2007 angehöre.

Wenn ich von Rol­le spre­che, dann kann das die klas­si­sche Rol­le aus einem dra­ma­ti­schen Text in einer klas­si­schen Büh­nen­si­tua­ti­on sein oder wie in mei­nem Fall oft in der immersi­ven Thea­ter­ar­beit mit SIGNA nur eine gro­be Skiz­ze. In die­ser Arbeit steht zu Beginn der Rol­len­ar­beit oft nicht viel mehr als ein Name, Alter, Funk­ti­on inner­halb der Stück­kon­stel­la­ti­on und ein paar Wör­ter zum Cha­rak­ter, der Rest ent­steht im Pro­ben­pro­zess und ist mei­ne Auf­ga­be als Schau­spie­le­rin und ent­steht im Kol­lek­tiv mit den ande­ren Schauspieler*innen. Wir Schauspieler*innen ent­wi­ckeln unter der Regie von Signa Köst­ler nicht nur unse­re Rol­len und Rol­len­bio­gra­fien, son­dern auch die kom­plet­te Welt um unse­re Rol­len her­um und die Geschich­te, die wir durch unse­re Rol­len erzäh­len. Ich wer­de im Ver­lauf noch wei­ter auf die Arbeit mit SIGNA und das immersi­ve Arbei­ten eingehen.

Zunächst zurück zur gene­rel­len Rol­len­ar­beit. Ich spre­che hier natür­lich nur von mei­ner Her­an­ge­hens­wei­se, wir Schauspieler*innen arbei­ten alle unter­schied­lich und es gibt nicht die eine Anlei­tung zur Rol­len­ar­beit. Für mich ent­steht die Rol­le und gewinnt an Kon­tur und Eigen­le­ben durch kon­ti­nu­ier­li­che Rei­bung, in dem ich mich in Bezie­hung zur Rol­le set­ze, mit ihr in Zwie­spra­che gehe, Kon­flik­te mit ihr aus­tra­ge, mich von ihr ver­füh­ren las­se oder sie ver­füh­re. Der Kon­trast, die Rei­bung zwi­schen mir und der anfangs noch abs­trak­ten Rol­le ist das, was mich inter­es­siert und was die Rol­le am Ende aus­macht. Die­se Arbeit geschieht, aber wie gesagt nicht im luft­lee­ren Raum, son­dern immer in Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den ande­ren Schauspieler*innen, dem Raum, den ich bespie­le und den Zuschau­en­den, denn selbst wenn ich nicht direkt mit die­sen kom­mu­ni­zie­re, muss ich sie mit­den­ken und mich zu ihnen verhalten.

Ich selbst arbei­te viel von außen nach innen, das heißt ich erschlie­ße mir eine Rol­le stark über das Kör­per­li­che und die Stim­me. Die Stim­me ist für mich tat­säch­lich oft der ent­schei­den­de Fak­tor in der Rol­len­fin­dung, über die ich Zugang zum Innen­le­ben einer Rol­le fin­de, dar­auf baue ich mei­ne Rol­le auf. Ist die Stim­me da, folgt die Hal­tung meist ganz von allein.

So viel all­ge­mein zur Rol­len­ar­beit, schau­en wir nun genau­er in die ein­zel­nen Rol­len­räu­me und was sie für Thea­ter in der Schu­le eröff­nen können.

 

Rolle als Schutzraum – Für manche Themen braucht es Fiktion

Nach­dem wir kurz über das Erar­bei­ten von Rol­len nach­ge­dacht haben, las­sen Sie uns den Fokus auf die unter­schied­li­chen Rol­len­räu­me rich­ten und ihre Bedeu­tung in der Arbeit im Kinder‑, Jugend- und Schultheater.

Wir wol­len unse­re The­men bzw. die The­men der Kin­der und Jugend­li­chen auf die Büh­ne brin­gen, aber wie kön­nen wir zum Teil sehr Per­sön­li­ches ver­han­deln, ohne die Spie­len­den schutz­los dem Blick des Publi­kums auszuliefern?

Es braucht Rolle.

Die Rol­le als Schutz­raum gibt die Mög­lich­keit über Din­ge mit Distanz zu spre­chen. Das Anneh­men und Erar­bei­ten einer Rol­le, ermög­licht es der spie­len­den Per­son, die für sie nöti­ge Distanz zu den auf der Büh­ne ver­han­del­ten The­men auf­zu­bau­en, um sicher spie­len und sich aus­drü­cken zu können.

Gera­de im Trend hin zum bio­gra­fi­schen Arbei­ten mit Lai­en sehe ich die Gefahr, dass sich die Spie­len­den oft nicht wirk­lich dar­über im Kla­ren sind, was es bedeu­tet, die eige­nen Geschich­ten und Erfah­run­gen in einem thea­tra­len Kon­text an die Öffent­lich­keit zu brin­gen. Der ver­än­der­te Blick vom Außen, vom Publi­kum, wird oft unterschätzt.

Es muss mir klar sein, dass ich, wenn ich ohne den Schutz einer Rol­le auf die Büh­ne gehe und Per­sön­li­ches tei­le, danach anders betrach­tet wer­de als zuvor. Das Bild und die Geschich­te von mir auf der Büh­ne ist nun mit mir ver­knüpft und wird, auch wenn unter­be­wusst, immer mit­schwin­gen. Das ist nicht per se nega­tiv, aber die Per­son auf der Büh­ne muss sich des­sen bewusst sein und was das für Fol­gen haben kann.

Ich ken­ne es aus eige­ner Erfah­rung, wenn ich auf der Büh­ne oder wie letz­tens in einem Publi­kums­ge­spräch über mei­nen eige­nen Erfah­run­gen mit sexu­el­ler Gewalt spre­che oder sie auf der Büh­ne behan­de­le, dann weiß ich, dass ich danach anders ange­schaut und von eini­gen Men­schen auch ande­res behan­delt wer­de. Ich und mein Han­deln wer­den danach immer in die­sem Kon­text gele­sen. Ich kann damit umge­hen und ent­schei­de selbst wann ich mei­ne Erfah­run­gen tei­le und wann nicht und kann sie auch künst­le­risch ein­set­zen. Bei der Arbeit mit Lai­en ist das aber sehr oft nicht der Fall und als Regie oder Spiel­lei­tung ist es mei­ne Auf­ga­be, die spie­len­den Per­so­nen zu schüt­zen und einen Raum zu schaf­fen, in dem sie auf der Büh­ne bzw. im Spiel­raum sicher sind und ihn dar­über hin­aus auch sicher wie­der ver­las­sen. Daher plä­die­re ich immer für mehr Rol­le, die eige­nen Erfah­run­gen kön­nen in die Rol­le ein­flie­ßen, aber Fik­ti­on und Rol­le bie­ten Schutz und Abstand.

Vor kur­zem sprach ich mit einer Bekann­ten, die in einem Muse­um arbei­tet und dort im Rah­men von Füh­run­gen über jüngs­te Geschich­te mit Schul­klas­sen spricht. Sie sag­te mir, dass sie in ihren Füh­run­gen kei­ne eige­nen Erleb­nis­se und Erin­ne­run­gen mehr teilt, da sie das Gefühl bekam, dass sie sie durch die stän­di­ge Wie­der­ho­lung ver­liert oder manch­mal nicht mehr weiß, was wirk­li­che Erin­ne­rung ist und was nicht. Sie möch­te kei­ne per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen mehr tei­len, um ihre Erin­ne­rung für sich zu bewahren.

Je öfter man eine Geschich­te erzählt, des­to mehr distan­ziert man sich auch oft von ihr. Wie­der­ho­len der eige­nen Erleb­nis­se und Geschich­ten birgt immer die Gefahr, dass sie sich ver­selb­stän­di­gen und ein Eigen­le­ben bekom­men. Das kann einer­seits befrei­end sein, da so Distanz ent­steht, aber auch ver­wir­rend, da man das Gefühl bekommt sei­ne Geschich­te zu ver­lie­ren und gera­de bei trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen, bei denen man selbst oft an sich zwei­felt, kann das zu stär­ke­ren Zwei­feln füh­ren. Es kann also sowohl bestär­ken als auch triggern.

Als Regie und Spiel­lei­tung ist immer wich­tig die­se Punk­te zu beden­ken und auch zu bespre­chen. Ich habe oft erlebt, dass Teil­neh­men­de in mei­nen Pro­jek­ten unbe­dingt per­sön­li­che Erfah­run­gen eins zu eins tei­len wol­len. Wir füh­ren dann immer lan­ge Gesprä­che und schau­en, wie wir einen fik­tio­na­len Rah­men bau­en und eine Rol­le schaf­fen kön­nen, die der per­sön­li­chen Erfah­rung gerecht wird und trotz­dem einen schüt­zen­den Raum für die Spie­len­den schafft. Beim bio­gra­fi­schen Arbei­ten mit Lai­en soll­te immer die Sicher­heit der Teil­neh­men­den an ers­ter Stel­le ste­hen, auch wenn es manch­mal heißt span­nen­des Mate­ri­al zu ver­wer­fen. Es gilt genau aus­zu­ta­rie­ren, was ist die Inten­ti­on des Stücks, was ist der Wunsch der Dar­stel­len­de und wie ich als Regis­seu­rin dem Stück und den Dar­stel­len­den die­nen und einen siche­ren Rah­men schaf­fen kann. Füt­te­re ich gera­de mein Regie-Ego oder stel­le ich mich in den Dienst der Teil­neh­men­den? Die Fra­ge gilt es sich immer wie­der zu stel­len und eine Hal­tung dazu zu finden.

Mei­ne Arbeit mit Lai­en hat immer die Ideen, Wün­sche und Erfah­run­gen der Teil­neh­men­de als Aus­gangs­punkt und dann beginnt die gemein­sa­me For­schungs­rei­se. Wir fan­gen an uns aus­zu­tau­schen, Rol­len zu den Erfah­run­gen zu ent­wi­ckeln, schöp­fen aus den gemein­sa­men Erfah­run­gen, tau­schen Rol­len, über­lap­pen und ergän­zen Schicht um Schicht die Rol­len mit unter­schied­li­chen Beob­ach­tun­gen, Erfah­run­gen und Wün­schen, bis am Ende ein Rol­len­uni­ver­sum ent­stan­den ist, dass für alle Erfah­run­gen und Ideen steht, aber nicht mehr auf die indi­vi­du­el­len Teil­neh­men­den zurück­zu­füh­ren ist. Das Bio­gra­fi­sche kann die Rol­le ergän­zen und unter­mau­ern, aber dar­über wer­den ver­schie­de­ne Schich­ten gelegt.

 

Rolle als Möglichkeitsraum

Eine Rol­le ein­zu­neh­men, eröff­net gleich­zei­tig einen Mög­lich­keits­raum für Per­spek­ti­ven und Optio­nen, die wir außer­halb von Rol­le und Fik­ti­on viel­leicht nie den­ken und in Betracht zie­hen wür­den. Das Ein­neh­men einer ande­ren Rol­le ermög­licht uns gleich­zei­tig aus der eige­nen Rol­le zufal­len und uns Räu­me zu eröff­nen und zu neh­men, die uns sonst oft ver­schlos­sen blei­ben oder die wir uns nicht trau­en zu öff­nen oder uns zu nehmen.

Auch wenn das Wort “Ermächtigung/Empowerment” mitt­ler­wei­le über­stra­pa­ziert wird, kann das Aus­pro­bie­ren und Anneh­men einer Rol­le ein Ermäch­ti­gungs­vor­gang sein. Ich kann mich in ande­re Denk­mus­ter ein­fin­den und Macht­ver­hält­nis­se aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven ana­ly­sie­ren. Wenn ich bestimm­te Macht­struk­tu­ren ver­stan­den habe, dann kann ich sie auch ver­än­dern oder zumin­dest hin­ter­fra­gen. Das ist beson­ders in der Arbeit mit Kin­dern und Jugend­li­chen wich­tig und prägt stark mei­ne Arbeit mit mei­nem Kin­der­thea­ter Ait­so­na-Dait­so­na (die Wip­pe) in Geor­gi­en. In unse­ren Thea­ter­work­shops und Stü­cken geht es viel um exis­tie­ren­de Macht­struk­tu­ren, durch das Schlüp­fen in ver­schie­de­ne Rol­len bekom­men die teil­neh­men­den Kin­der und Jugend­li­chen die Mög­lich­keit im Spiel die­se Struk­tu­ren zu hin­ter­fra­gen und neue Räu­me für sich zu erschlie­ßen. Nicht nur in Geor­gi­en, auch in Deutsch­land und wahr­schein­lich fast über­all auf der Welt, gibt es immer weni­ger Raum für Kin­der und schon gar kei­ne Mög­lich­keits­räu­me, beson­ders nach Coro­na und mit wach­sen­dem Leis­tungs­druck in Schu­le und Gesell­schaft allgemein.

Kin­der spie­len im öffent­li­chen Raum kaum eine Rol­le und wenn, dann sind ihre Rol­len klar defi­niert und auf kleinst­mög­li­chen Raum begrenzt. Weder in der Schu­le noch im öffent­li­chen Leben wird ihnen genug Frei­raum ein­ge­räumt, in dem sie ohne Druck und Erwar­tungs­hal­tung von außen expe­ri­men­tie­ren und aus der Rol­le fal­len kön­nen. Aber gera­de die­ses aus der Rol­le fal­len müs­sen wir Kin­dern ermög­li­chen, damit sie sich aus­pro­bie­ren und ent­fal­ten und in ihrer Umwelt ori­en­tie­ren kön­nen. Das braucht Zeit und geschütz­te Räume.

Je weni­ger Raum vor­han­den, des­to weni­ger trau­en sich die Kin­der auch Raum für sich in Anspruch zu neh­men und für sich zu defi­nie­ren. Immer wie­der stel­len wir mit Ait­so­na-Dait­so­na fest, wie Kin­der ihre von der Erwach­se­nen­welt zuge­wie­se­nen Rol­len über­neh­men und sich nicht trau­en aus die­sen Rol­len aus­zu­bre­chen und sich Raum zu neh­men, da sie den von ihrem erwach­se­nen Umfeld ganz klar defi­nier­ten und ein­ge­schränk­te Rah­men übernehmen.

Was hat das nun mit Thea­ter und Rol­len­ar­beit zu tun? In dem wir Räu­me und Rol­len neu den­ken und ver­mi­schen, ent­ste­hen neue Zwi­schen- und Mög­lich­keits­räu­me und alte Struk­tu­ren wer­den spie­le­risch hin­ter­fragt. So schaf­fen wir mit Ait­so­na-Dait­so­na thea­tra­le Rah­men und Räu­me, in denen Kin­der sich neue Räu­me erspie­len und aus­pro­bie­ren kön­nen, in dem sie Rol­len anneh­men, die ihnen Macht geben Din­ge selbst zu ent­schei­den und mit­zu­be­stim­men. Wir kön­nen durch Rol­len neue Räu­me schaf­fen, in dem wir die Rol­len, die einem Raum zuge­schrie­ben wer­den, weg­neh­men und durch neue, eige­ne Rol­len ersetzen.

Das Öff­nen die­ser Räu­me braucht Zeit, wenn wir zu Beginn unse­rer Work­shops Kin­der ganz frei ent­schei­den las­sen, wie sie einen Raum gestal­ten wol­len, sind sie oft über­for­dert und ver­su­chen sich an gän­gi­ge Nut­zun­gen und Ideen anzu­pas­sen, statt ihrer Fan­ta­sie frei­en Lauf zu las­sen. Erst wenn wir den Kin­dern die Mög­lich­keit geben sich eige­ne Rol­len zu suchen und die­se den Raum betre­ten und defi­nie­ren zu las­sen, begin­nen die Kin­der, den Raum wirk­lich zu ihrem zu machen und für sich zu ent­de­cken. Es dau­ert eini­ge Zeit und als Spiel­lei­tung müs­sen wir immer wie­der Impul­se geben, bis sich die Teil­neh­men­den trau­en vor­ge­fer­tig­te Rol­len- und Denk­mus­ter zu ver­wer­fen und sich und den Raum um sie her­um neu zu den­ken, neue Funk­tio­nen zu erfor­schen und sich zu eigen zu machen.

So bedeu­tet Rol­len­ar­beit auch immer gleich­zei­tig aus der eige­nen Rol­le zu fal­len, zumin­dest zum Teil.

Um das aus der Rol­le zu fal­len zu errei­chen, müs­sen wir wie­der ler­nen, uns neu zu erfin­den und somit Rol­len wie auch Räu­me neu zu den­ken. Wenn ich in einer Rol­le den­ke, dann den­ke ich auch den Raum, in dem sie sich befin­det mit, weil Rol­le und Raum immer ver­bun­den sind.

 

Rolle als Erfahrungsraum

An die Mög­lich­keit schließt sich die Erfah­rung an. Rol­len­ar­beit und sze­ni­sches For­schen gehen Hand in Hand. In dem wir uns Rol­len erar­bei­ten, erar­bei­ten wir uns neue Hori­zon­te und Erfah­rungs­wel­ten. Dabei ist es wich­tig, dass es beim Erar­bei­ten einer Rol­le nicht um die Nach­ah­mung von Ver­hal­tens­mus­tern geht, son­dern um das Ver­ste­hen und das Über­tra­gen auf die eige­nen Erfahrungshorizonte.

Da kom­men wir auch zum Immersi­ven. Rol­len­ar­beit bedeu­tet das Ein­tau­chen in eine ande­re Welt, in das Uni­ver­sum einer Per­son und das Erfor­schen des Erfah­rungs­raums die­ser Per­son. Rol­len­ar­beit ist der Ver­such des Ver­ste­hens und das hin­ter die Fas­sa­den bli­cken. For­schen bedeu­tet auch gleich­zei­tig immer die Opti­on des Schei­terns und des Ver­wer­fens. For­schen nicht im Sin­ne von Ziel­set­zun­gen erfül­len zu müs­sen, son­dern im Sin­ne von erfah­ren und spü­ren. Auch hier kom­men wir wie­der zur Rei­bung und Zwie­spra­che mit der Figur, die wir spie­len, wir las­sen uns bis zu einem gewis­sen Punkt von ihr ver­füh­ren und loten dabei gleich­zei­ti­ge die Punk­te aus, die uns fremd sind, die unse­rem eige­nen Wesen kon­trär gegen­über­ste­hen, die­se Rei­bung eröff­net einen Zwi­schen­raum zwi­schen uns und der Rol­le und ist die Basis für die Rol­len­ar­beit. Die­sen Raum zu erfor­schen und für sich ein­zu­neh­men lässt neue Ein­sich­ten zu.

Rol­le ist der Ver­such zu ver­ste­hen und sich die­sen Zwi­schen­raum zu eröff­nen, dass bedeu­tet nicht Ver­ständ­nis im Sin­ne von Empa­thie oder dem kom­plet­ten Auf­ge­hen im ande­ren, son­dern auch hin­ter Fas­sa­den zu schau­en und den Dia­log zwi­schen ver­schie­de­nen Welten.

Es geht nicht um Aneig­nung von mir Frem­den, son­dern um den Dia­log mit ande­ren Erfahrungswelten.

 

Immersives Theater

Seit mehr als 16 Jah­ren arbei­te ich als Schau­spie­le­rin haupt­säch­lich im immersi­ven Thea­ter mit der Per­for­mance­kom­pa­gnie SIGNA. Die­se Arbeit hat auch mei­ne Arbeit mit Kin­dern und Jugend­li­chen stark geprägt. Immersi­on im Thea­ter bedeu­tet das voll­kom­men­de Ein­tau­chen des Zuschau­en­den in die Büh­nen­welt. Die Zuschau­en­den wer­den im immersi­ven Thea­ter Teil des Gesche­hens und neh­men abhän­gig von der Stück­form zum Teil aktiv am Gesche­hen teil. Eine gan­ze Welt und ein Rol­len­uni­ver­sum wer­den gebaut, in die das Publi­kum ein­taucht und sich sei­nen Weg durch die Geschich­te sucht. Die­ser kann zum Teil durch die Dar­stel­len­den und die Dra­ma­tur­gie gelenkt sein, aber abhän­gig vom For­mat, kann sich das Publi­kum auch frei durch den Raum bewe­gen und sei­nen eige­nen Weg festlegen.

In den Arbei­ten von SIGNA ent­wi­ckeln wir Schauspieler*innen gemein­sam mit der Regie das Rol­len­uni­ver­sum und die Welt, in die das Publi­kum als Teil­neh­men­de ein­tritt. Die Rah­men­hand­lung ist gege­ben, aber die jewei­li­gen Vor­stel­lun­gen sind impro­vi­siert und so ver­läuft jeder Abend anders, da die Zuschau­en­den mit ihren Reak­tio­nen das Gesche­hen zu einem Teil beein­flus­sen. Der Raum hat im immersi­ven Thea­ter eine über­ra­gen­de Rol­le, er steht gleich­be­rech­tigt mit den ein­zel­nen Rol­len und erzählt auch selbst­stän­dig einen Teil der Geschich­te. Dies geschieht nicht nur durch die Aus­stat­tung, son­dern auch durch den Geruch und den Sound. Dabei lässt alles Rück­schlüs­se auf die Geschich­te und die Rol­len, die sie bewoh­nen, zu.

Die­se Art von Thea­ter­ar­beit ist natür­lich eine star­ke Her­aus­for­de­rung was die Arbeit mit Kin­dern und Jugend­li­chen betrifft und benö­tigt einen lan­gen und inten­si­ven Pro­ben­pro­zess, ist aber aus mei­ner Erfah­rung sehr berei­chernd für alle Teil­neh­men­den. Anders als bei kon­ven­tio­nel­len Stü­cken kön­nen die spie­len­den Kin­der und Jugend­li­che ihre Rol­len nicht nur durch das direk­te Spiel zei­gen, sie bau­en ihre Rol­len auch in das Büh­nen­bild ein. Es wer­den Objek­te, Kos­tü­me, Zeich­nun­gen, Schrift­stü­cke und alles, was zur eige­nen Rol­le gehört ent­wi­ckelt, gebaut und zusam­men­ge­tra­gen, die alle­samt in den Büh­nen-/Spiel­raum ein­flie­ßen und genau­so von den Zuschau­en­den gese­hen wer­den, wie das Spiel der ein­zel­nen. Ein ande­rer wich­ti­ger Punkt ist, dass es in die­ser Form von immersi­vem Thea­ter nicht unbe­dingt Haupt- und Neben­rol­len gibt, denn alle Spie­len­den befin­den sich immer im Büh­nen­raum und die Zuschau­en­den tref­fen auf alle Figu­ren in klei­nen Begeg­nun­gen. So bekom­men alle Spie­len­den den glei­chen Raum und das Kon­kur­rie­ren um den gro­ßen Mono­log, die gro­ße Sze­ne entfällt.

Wie schon unter Rol­le als Schutz­raum bespro­chen bedarf es beson­ders bei immersi­ven Arbei­ten einer kla­ren Tren­nung von Rol­le und der eige­nen Per­son, um die Reak­ti­on des Publi­kums auf die Rol­le klar von der eige­nen Per­son tren­nen zu kön­nen, sonst besteht die Gefahr, dass Trau­ma­ta repro­du­ziert oder getrig­gert werden.

Es bedarf star­ker Rol­len (im Sin­ne von gut gebau­ten und geprob­ten Rol­len), die nicht in ers­ter Linie auto­bio­gra­fisch sind, um sicher spie­len zu können.

Ich wer­de die­sen Gedan­ken­raum nun wie­der ver­las­sen und hof­fe, dass ich auch einen klei­nen gemein­sa­men Raum öff­nen konn­te und wün­sche uns allen vie­le neue Möglichkeits‑, Erfah­rungs- und auch Begegnungsräume.

Links und weiterführende Literatur

The­re­sa Schütz: Thea­ter der Ver­ein­nah­mung ‑Publi­kumsin­vol­vie­rung im immersi­ven Thea­ter; Ver­lag Thea­ter der Zeit

https://signa.dk/

https://kuenstlerische-interventionen.de/absolventinnen/wenzel-mareike-bio/

https://mareikewenzel.com/

Fokus

Fokus Schultheater

Forum Schultheater

Diese Seite wird gerade neu eingerichtet. Bald gibt es hier mehr!