von Melanie Hinz
Dieser Workshop ist maßgeblich inspiriert durch das künstlerisch-wissenschaftliche Masterprojekt von Melchior Silbersack im Studiengang MA Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin zum Thema „Zwischen Körper und Kostüm. Das (politische) Potenzial queerer Kostümbilder in der Theaterpädagogik am Beispiel der interdisziplinären Performance Angepasst – Zwischen den Welten eine Welt (2022). Ebenfalls fließen Übungsideen ein, die Studierende in meinem „Gender Performance”-Seminar im Studiengang BA Lehramt Theater an der Universität der Künste entwickelt haben. Für die Beschreibungsübung danke ich fürs Teilen der Choreografin Anna Konjetzky, die ich in ihrem Workshop “Wessen Perspektive zählt?” bei der Ständigen Konferenz Spiel und Theater in Salzburg 2023 kennengelernt habe.
Zeitrahmen: 3 Stunden
Benötigte Materialien: sehr viel unterschiedliche Kleidung, Kleiderstangen, Kleiderbügel, Spiegel, Musikbox und Mikrofon
Raum: Möglichst großer Raum, der bereits so eingerichtet ist, dass überall Kleidung hängt und Spiegel stehen.
Die Redewendung „Kleider machen Leute” weist auf das performative Potenzial von Kleidung hin, dass die Wirkung einer Person durch ihre Kleidung beeinflusst wird. Von der Kleidung im Zusammenspiel mit dem Habitus einer Person leiten wir Identitätskategorien, Lebensstile und (Gruppen)-Zugehörigkeiten ab. Insbesondere für Jugendliche hat Kleidung eine wichtige Bedeutung, um sich zum Ausdruck zu bringen. Für manche kann dieses Credo auch zum Stress werden, sich durch Kleidung erzählen zu müssen. Und manche sind froh über einen Hoodie, dessen Kapuze die Welt abschirmen kann. Warum tragen wir die Kleidung, die wir tragen, was wollen wir dadurch über uns zum Ausdruck bringen? Und welche Kleidung ist uns ‚fremd’ und warum? Was können wir Neues entdecken, wenn wir sie tragen und wer werden wir dann?
Kleidung bestimmt unsere Selbstinszenierung in einem Spannungsfüge von persönlichem Ausdruck und gesellschaftlichen Zwang, was wir wie aufgrund zum Beispiel unseres zugewiesenen Geschlechts, aufgrund einer sozialen Rolle, wie z.B. Lehrer*in zu sein, tragen sollten. Gleichzeitig ermöglicht Theater durch Verkleidung einen Freiraum, von dem Alltags-Ich Abstand zu nehmen, neue Facetten der eigenen Selbstinszenierung bis hin zur Figurendarstellung zu entdecken, die allein aus dem performativen Spiel mit Kleidung entstehen.
Der Workshop ist eine Einladung zu einer Verkleidungsparty, in der biografische und performanceorientierte Aufgabenstellungen am eigenen Leib erfahren und für die Arbeit mit Schüler*innen reflektiert werden.
Hinweis:
Im Workshop wird sich vor einander an- und ausgezogen. Dieser Vorgang sollte für die Teilnehmenden in Ordnung sein. Zu empfehlen ist, eine solche Unterbekleidung zu tragen, mit der man bereit ist, sich vor Kolleg*innen zu zeigen (z.B. Sport-Unterwäsche, Leggings und Unterhemd, etc.).
Alle bringen bitte
Beide Kleidungsstücke sollten so gewählt sein, dass sie grundsätzlich auch von anderen Personen getragen werden dürften.
Die Gruppe trifft sich im Kreis. Reih um, stellt sich jede Person mit Namen/Pronomen vor und erzählt eine Anekdote zu einem Kleidungstück, was er*sie gerade trägt, beispielsweise warum es das Lieblingskleidungsstück ist.
Im Anschluss gibt es eine gemeinsame Reflexion des Gesagten: Welche Qualitäten von Kleidung wurden hier bereits genannt?
Die Übung dient dem Kennenlernen, dem Erproben von biografischem Erzählen und bringt bereits verschiedene Themenaspekte von Kleidung hervor (Material, Form, Farbe, biografische Erinnerungen, politische Dimensionen von Kleidung, z.B. Nachhaltigkeit, Fast Fashion, Bezugnahme zu intersektionalen Kategorien wie Gender, Klasse, Alter, Herkunft, etc.)
1. Runde: Findet euch zu fünft zusammen. Jeweils eine Person stellt sich vor die anderen. Die Zuschauenden versuchen Körper, Habitus und Kleidung der anderen so genau wie möglich zu beschreiben, was sie sehen. Ziel der Beschreibung ist es, keine Wertungen über die Person vorzunehmen. Idealerweise wird jede Person drei bis fünf Minuten beschrieben. Dann wird gewechselt, bis alle einmal an der Reihe waren.
Reflexion: Wie einfach/schwer ist es euch gefallen, „neutral” zu beschreiben? Geht das überhaupt? Was ist euch aus der Perspektive der Beschreibenden aufgefallen? Waren die Beschreibungen für die Beschriebenen in Ordnung? Was möchte möglicherweise auch als Grenzerfahrung geteilt werden?
2. Runde: In der gleichen Gruppe wird weitergearbeitet. Nun geht es um sprachliche Überschreibungen und um die These: Eine Figur entsteht durch die Benennung. Körper, Kleidung und Habitus der Person sind nun der Anker und das Sprungbrett, um eine fiktive Figur zu entwerfen. Versucht jeweils als Gruppe ein fiktives Porträt über jede Person zu erstellen, werdet nicht gemein, aber versucht, sprachlich zu überzeichnen, was ihr seht. Auch hier am besten 3–5 Minuten pro Person.
Reflexion: Die Übung führt Spielleitungen vor Augen, mit welchen Figurenzuschreibungen sie eine Person, ihren Körper und ihre Kleidung „besetzen”. Die Selbstinszenierung durch Kleidung ist zugleich häufig etwas, von dem aus Imaginationen über die Person entstehen, wer sie sein könnte.
Ziel der Übung ist es in Runde 1, Wahrnehmen und Beschreiben von Körpern, Habitus und Kleidung zu trainieren und das eigene Vokabular zu überprüfen, das dieses nicht übergriffig verwendet wird. In Runde 2 geht es darum, ästhetisch zu experimentieren, wie Sprache Figuren erschafft. Ein Aspekt der Übung ist aber auch, sich darüber klar zu werden, dass es keine Neutralität eines Körpers und von Kleidung gibt, sondern dass diese schon immer mit Kontexten, Geschichte, Projektionen versehen ist.
Mit Schüler*innen ist zu empfehlen, die Übung nicht am eigenen Leib zu erproben (außer die Lehrperson kennt die Klasse und ihre Achtsamkeit sehr gut), sondern Fotos (z.B. aus der Bildenden Kunst, aus Zeitungen oder aus Theaterinszenierungen) für die Beschreibung zu wählen, sodass die Übung durchgeführt werden kann, ohne dass sie jemanden ’sprachlich’ verletzt.
Wie sahen wir aus, als wir so alt, wie unsere Schüler*innen? Welche Jugendkulturen spiegeln sich in unserer Kleidung? Was ist uns heute fremd? Welche Rolle spielt Zugehörigkeit und Zwang? Welche Normen sind sichtbar? Welche Kleidung gefiel uns noch vor ein paar Jahren und warum heute nicht mehr? Warum passt uns das Kleidungsstück nicht mehr?
1. Nehmt euch nun das verhasste Kleidungsstück. Alternativ wählt ein Foto von einem Kleidungsstück, was ihr heute nicht mehr tragt oder was ihr nicht mögt. Jede*r schreibt einen Brief an dieses Kleidungsstück. Überlegt euch, welche Form hat eurer Brief (ist es ein Abschiedsbrief, eine Anklage, ein Gedicht, …).
2. Wählt im Raum einen Ort, wo ihr das Kleidungsstück oder Foto zusammen mit eurem Brief ausstellt. Überlegt euch, wie ihr eure Materialien als Objekt einer Ausstellung präsentieren könnt.
3. Ausstellungsrundgang und anschließende Reflexion im Plenum: Welche neuen Aspekte zum Thema Kleidung sind hinzugekommen? Was hat euch besonders interessiert, berührt?
Pause
Der bereits zu Beginn des Workshops gestaltete Raum wird nun zum Improvisationssetting mit Kleidung und Hits, Hits, Hits. Die Kleidung muss gut sichtbar im Raum sein. Bestenfalls gibt es Spiegel und eine Umkleidesituation. Außerdem gibt es in einem Teil des Raums zwei Reihen sich gegenüberstehender Stühle, sodass ein „Catwalk” in der Mitte entsteht. Die Workshopleitung moderiert durch eine Improvisation, die aus Spielprinzipen zum Anziehen und Bewegen besteht. Hierbei kann die Workshopleitung sich gerne selbst verkleiden und als „Figur” anleiten.
Mögliche Anmoderation mit Musik unterlegt und am Mikro:
Ich möchte euch herzlich einladen zu einer Verkleidungsparty. Herzlich willkommen. Hey du, hier im Raum hängen verschiedene Kleidungsstücke. Such dir doch eins aus und stell dich dann zu diesem Kleidungsstück hin.
Und jetzt ist es Zeit für einen Kleiderwechsel mit etwas Spannung, Spiel und Spaß. Ich stoppe gleich die Zeit von einer Minute. Du musst in dieser Zeit Deine Kleidung einmal komplett wechseln. Und los geht’s.
Der Countdown läuft… – die Zeit ist um. Schaut euch mal um, wie ihr nun ausseht, wer welches Kleidungsstück erwischt hat. Findet eine passende Tanzbewegung zu eurer Kleidung.
Und es ist Zeit für einen neuen Kleidungswechsel. Ihr habt 5 Minuten Zeit, euch Kleidungsstücke zu suchen und anzuziehen, die euch in der Haptik besonders gut gefallen.
Testet nun die Haptik eurer Kleidung. Vielleicht möchtet ihr euch einen Platz suchen, an dem ihr euch wohlfühlt. Vielleicht wollt ihr auch die Augen mal schließen und stärker ins Spüren des Materials kommen. Wie fühlt es sich an? Wie könnt ihr euch darin bewegen? Welche Bewegungen gibt euch die Materialität eurer Kleidung vor? (Wenn möglich hier für einen Moment das Licht im Raum dimmen/ausmachen).
Und wir kommen zum vorletzten Kleidungswechsel. Ihr habt euch in den Kostümfundus nun schon ein wenig eingearbeitet und wisst, was es für Kleidung gibt.
Ihr habt 7 Minuten Zeit, euch ein Outfit zusammenzustellen, auf das ihr richtig Lust habt, was ihr in eurem Alltag nie tragen würdet oder was euch aufgrund eures lesbaren Geschlechts normativ nicht zugestanden wird. Setzt euch auf die Stühle, wenn die 7 Minuten rum sind und der Wecker klingelt.
Überlegt euch, wie bewegt ihr euch in dieser Kleidung, was für eine Figur seid ihr jetzt? Testet erste Bewegungen zu Musik. Und jetzt suchst Du Dir einen Ort im Raum, wo du dich wohlfühlst und jetzt frag dich mal, in welchen sozialen Raum Du Dich in dieser Kleidung siehst. In welcher Situation befindest Du Dich gerade?
Befindest Du Dich eher in einer großen Shopping-Mall mit vielen Menschen, die um dich herumlaufen (passendes Geräusch einspielen)
Oder stehst Du eher auf einem Bahnhof und wartest auf einen Zug (passendes Geräusch einspielen)
Oder bist Du vielleicht doch auf einer Party, mit viel lauter Musik und schweißgebadeten Menschen? (Techno-Musik einspielen)
Hey, als welche Person wirst Du jetzt eigentlich von außen gelesen?
Geh doch mal raus auf die Straße mit der Kleidung und schau, wie Du Dich dort bewegst und wie Du angeschaut wirst. Vielleicht hast Du auch Lust als Figur in eine Interaktion mit einer fremden Person zu gehen. Oder wenn Du Dich das in der Kleidung nicht traust, dann lauf mal die Treppen hoch in die nächste Etage. (10 Minuten Intervention im öffentlichen Raum)
Schön, dass ihr wieder alle da seid. Setzt euch doch mal alle auf die Stühle und zeigt nun, eure Figur und eure Bewegungen, die ihr gefunden habt. Dabei tanzen/bewegen sich die jeweils sich diagonal gegenübersitzenden Personen aufeinander zu.
Und nun zum Schluss schnappt euch jede*r ein Papier und einen Edding und schreibt eine prominente, reale Person (z.B. Angela Merkel, David Bowie, etc) oder eine Figur aus Literatur, Film, Theater, Musik (z.B. Pippi Langstrumpf, James Bond, etc). Wichtig ist, dass ihr davon ausgehen könnt, dass die Figur auch den anderen Teilnehmer*innen bekannt ist. Die eingereichten Papiere werden gemischt und jede*r Teilnehmer*in zieht nun einen Zettel. Die Aufgabe ist nun, sich bestmöglich, als die Figur auf dem Zettel zu verkleiden.
Die darauf stehenden Figuren werden in einer Modenschau (mit Verkleidung) vorgeführt. (Der Witz besteht darin, dass in der Regel die passenden Kostüme nicht vorhanden sind und ein kreativer Umgang mit Kleidung gefunden werden muss, die Figur dennoch zu charakterisieren.)
Jede*r findet einen passenden Gang und eine passende Pose und hält dann das Schild hoch, wen sie*er darstellt.
Abmoderation: Das war wild. Lasst uns zum Abschluss noch gemeinsam zu einem Song zusammen tanzen und die Figuren, die wir heute gespielt haben, abschütteln und die gemeinsam gemachten Erfahrungen heute feiern. Schön, dass wir hier zusammengekommen sind. (Musik: z.B. Time of my life/Dirty Dancing)
Abschlussreflexion zum gesamten Workshop: Was könnt ihr für die Arbeit mit Schüler*innen mitnehmen? Und was wollt ihr zum Workshop rückmelden?
Lehnert, Gertrud/Weiland, Maria (2016, Hg.): Ist Mode queer? Neue Perspektiven der Modeforschung. Bielefeld: transcript Verlag.
Silbersack, Melchior (2023): Zwischen Körper und Kostüm. Das (politische) Potenzial queerer Kostümbilder in der Theaterpädagogik am Beispiel der interdisziplinären Performance Angepasst – Zwischen den Welten eine Welt. Masterarbeit im Studiengang MA Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin. Unveröffentlichtes Dokument.
Vinken, Barbara (2022): Ver-kleiden. Was wir tun, wenn wir uns anziehen. Wien/Salzburg: Residenz-Verlag.
Melanie Hinz
Professur für Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin
Mitglied des Performancekollektivs Frl. Wunder AG
Email: hinz@udk-berlin.de oder melanie@fraeuleinwunderag.net