Benjamin Porps
„Mixed Reality“ (gemischte Realität) bezeichnet die Vermischung oder Überlagerung von realer und virtueller Welt.
Im Grunde genommen ist unser Alltag durch die Nutzung elektronische Kommunikations- und Unterhaltungsmedien und das ständige Mitführen mobiler Endgeräte bereits durch eine solche Realitätsvermischung geprägt. In der theaterpädagogischen Arbeit (sowohl im schulischen als auch außerschulischen Kontext) legen wir jedoch oft Wert darauf, ganz im „Hier und Jetzt“ zu sein und zu agieren.
Ziel des Workshops war es, im Gegenzug dazu, auszuprobieren, wie sich elektronische Medien in das Spiel integrieren und die Prinzipien virtueller Lebenswelten inszenatorisch nutzen lassen.
Der Workshop fand wie das ganze diesjährige SDL online statt. Die genutzten Methoden orientierten sich daher an der Umsetzbarkeit unter der Bedingung, dass sich alle Teilnehmenden an einem anderen Ort befinden und die Kommunikation und das Zusammenspiel in erster Linie über eine Videokonferenz stattfinden. Die zugrundeliegenden Ideen und Ansätze eignen sich jedoch gleichermaßen für die Arbeit in Präsenz und für hybride Mischformen. Ganz im Sinne des Themas rege ich dazu an, mit verschiedenen Graden der Überschneidung digitaler und analoger Ästhetik zu experimentieren.
Schon wenn alle an einem Workshop Beteiligten sich im selben Raum befinden, ist es wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass jede/jeder von allen anderen wahrgenommen wird. Daher beginnt Theaterunterricht meist mit Begrüßungsritualen. Bei der Zusammenarbeit über Videokonferenzsysteme fällt es nochmal leichter, andere Teilnehmende zu übersehen. Der Workshop begann daher mit einem Namensspiel, das gleich dazu anregen sollte, die Eigenheiten der (virtuellen) Bühne kennen zu lernen.
Erste Runde: Jede/jeder stellt sich mit dem eigenen Namen und einer Bewegung vor. Die anderen wiederholen gemeinsam den Namen und die Bewegung und versuchen dabei auch, das Videobild der Person, die sich vorstellt, möglichst genau zu imitieren. Da es in den meisten Videokonferenzsystemen keine „natürliche Reihenfolge“ gibt – meist bekommt man die anderen in unterschiedlicher Reihenfolge angezeigt – geben diejenigen, die dran waren, an jemand anderen ab.
Zweite Runde: Wiederholung. Diesmal liegt der Fokus aber stärker auf dem Spiel mit der Kamera. Wer an der Reihe ist, gestaltet einen Auftritt auf die eigene virtuelle Bühne, stellt sich dann vor und verlässt die Bühne wieder. Die Teilnehmer*innen sind also zu Beginn und am Ende des Auftritts im Videobild nicht zu sehen. Auch diesmal stellen die anderen den Auftritt nach.
In diesem Teil des Workshops ging es darum, alltägliche Technik, die Jugendliche und auch viele Kinder stets bei sich tragen, als inszenatorisches Werkzeug zu nutzen. Mit Smartphones und Tablets lassen sich unkompliziert Videos erstellen und zeigen.
Überlege dir einen kurzen Dialog; gerne einen, der als Selbstgespräch stattfinden könnte. Nimm dich selbst mit der Kamera des Smartphones oder Tablets auf, indem du eine Hälfte des Dialogs sprichst. Spiele dann das Video ab, so dass es vom Publikum gesehen werden kann und sprich den Gegenpart live.
Das ganze funktioniert nicht unbedingt beim ersten Versuch. Zum einen kann es einiges Ausprobieren erfordern, bis die Blickrichtungen innerhalb und außerhalb des Videos zueinander passen, zum anderen muss man den anderen Part des Dialogs mitdenken und nach Möglichkeit nicht nur genug Pausen für die Antworten einbauen, sondern auch die Reaktion darauf spielen.
Cyborgs (von „cybernetic organism“) sind Mensch-Maschine-Mischwesen. Die folgenden Übungen zielen darauf ab, mithilfe von Smartphone oder Tablet solche Mischwesen zu kreieren.
Filme mit deinem Smartphone nur einen Ausschnitt deines Gesichts, z. B. den Mund oder die Augen. Halte dann im Spiel das Smartphone so vor das Gesicht, dass der entsprechende Körperteil durch die Aufnahme „ersetzt“ wird.
Tauscht die Aufnahmen untereinander aus (z.B. über einen Instant Messenger wie Signal, Telegram oder WhatsApp) und ersetzt im Spiel den Körperteil durch die fremde Aufnahme.
Frankenstein aus dem gleichnamigen Roman von Mary Shelley hat sein Geschöpf aus den Körperteilen verschiedener Leichen zusammengesetzt.
Erschafft mit mehreren Leuten zusammen ein solches „Ungeheuer“: Filmt Teile eures Gesichts und tauscht die Aufnahmen miteinander aus. „Ersetzt“ Teile des eigenen Gesichts mit einer fremden Aufnahme. Macht davon wieder ein Video, das ihr weitergebt …
Erstelle eine gezeichnete Stop-Motion-Animation1Für Stop-Motion-Animation eignet sich z.B. die App „Stop Motion Studio“, die für Android und iOS erhältlich ist. Die kostenlose Basisversion reicht hierfür vollkommen aus. von einem Teil eines Gesichts, beispielsweise der Augen, und „ersetze“ im Spiel deine Augen durch die Animation, indem du dir das Smartphone vor das Gesicht hältst.
Der Aspekt des Cyborgs als Mensch-Maschine-Mischwesen kommt in dieser Variante am deutlichsten zu Geltung.
Beispiel für eine Stop-Motion-Animation
Nach dem Ausprobieren kam es zum Austausch über die Übertragbarkeit und die Einsatzmöglichkeiten auf einer „klassischen“ Bühne.
Auch hier lässt sich selbstverständlich mit vorproduziertem Videomaterial arbeiten. Neben Smartphones und Tablets können hier auch Monitore oder Videoprojektion zum Einsatz kommen. So entsteht auch die Möglichkeit einer hybriden Produktion, in der Schauspieler*innen mitspielen, die sich an einem anderen Ort befinden. Beispielsweise indem sie das Gesicht eines Mischwesens auf der Bühne darstellen, dessen Körper entweder von einer Spielerin oder einem Spieler auf der Bühne gespielt oder durch unbelebte Objekte dargestellt wird.
In diesem Teil des Workshops haben wir damit experimentiert, wie sich Prinzipien, Methoden und die Ästhetik von Computer- und Videospielen theatral nutzen lassen. Im ersten Schritt (Vorübung und Labyrinthspiel) habe ich Spielideen mitgebracht. Im zweiten Schritt haben die Teilnehmenden selbst theatrale Adaptionen von Computerspielen entwickelt, umgesetzt und ausprobiert.
In einer ersten Übung haben wir die vorhandenen Funktionen der Videokonferenzsoftware genutzt. Jeweils zwei Personen werden „ferngesteuert“ (die anderen schalten ihre Kameras aus). Dafür erhalten sie Handlungsanweisungen über den „privaten Chat“, die sie ausführen.
Auf dem Boden ist ein Labyrinth aufgezeichnet (mit Kreide gemalt, aus Klebeband aufgeklebt oder mit Seilen gelegt). Eine Person stellt die Spielfigur2Im Folgenden benutze ich die Bezeichnungen „Spielfigur“ für die*den Schauspieler*in, die*der auf der Bühne agiert, dabei aber von jemand anderem gesteuert wird (die Spielerfigur – Player Character – im Videospiel) und „Spieler*in“ für die Personen, die Steuerung übernehmen (quasi die*derjenige die*der vor dem Bildschirm sitzt – Player). dar, die durch das Labyrinth bewegt werden muss. Eine andere Person ist Spieler*in und steuert die Spielfigur.
Hier haben wir mit unterschiedlichen Methoden der „Fernsteuerung“ experimentiert:
Veranschaulichung
Vorspann
Es wurde auch deutlich, dass die Spielregeln, auf die wir uns geeinigt haben, unterschiedlich aufgefasst werden konnten: Sind die Richtungsanweisungen aus Sicht der „Spieler*innen“ zu verstehen (z.B. als „gehe Richtung Bühnenrechts“, „gehe Richtung Bühnenhinten“) oder aus Sicht der „Spielfigur“ („gehe nach rechts“, „gehe rückwärts“ oder auch „drehe dich um 90° nach rechts“, „drehe dich um 180°“)? Bedeutet eine Richtungsanweisung, dass die „Spielfigur“ einen Schritt in diese Richtung macht, oder dass sie solange in die Richtung geht, bis eine neue Anweisung kommt oder sie gegen ein Hindernis stößt?
Hier sollte man nicht von vornherein alle Eventualitäten durchdenken und sich festlegen, sondern mit unterschiedlichen Regeln experimentieren. Missverständnisse und unterschiedliche Interpretationen führen erst zu einer Auseinandersetzung über Spielregeln und ‑prinzipien.
Eine Gruppe entwickelte das Labyrinthspiel zu einer Wettkampfsvariante für zwei Spieler*innen weiter. Über Messenger versuchten beide Spieler*innen, dieselbe Spielfigur zu einem je eigenen Ziel zu steuern. Dafür konnten sie Pfeil-Emoji senden, die mit den Anweisungen „Schritt vor“, „Schritt zurück“, „Schritt nach links“ und „Schritt nach rechts“ belegt waren. Spontan kamen dann noch „nach links drehen“ und „nach rechts drehen“ hinzu. Dadurch bekam das Spiel eine zusätzliche taktische Komponente, weil es jetzt möglich wurde, die Eingaben der Gegnerin/des Gegners zu antizipieren und durch Umdrehen der Spielfigur zum eigenen Vorteil zu nutzen.
Die Spieleerfinder*innen haben in ihrem Zimmer „Schätze“ versteckt, die die Spieler*innen finden mussten. Angelehnt an klassische Text- oder Point-and-Click-Adventures mussten sie dazu entsprechende Verb-Substantiv-Kombinationen nutzen („nimm Kissen“, „öffne Schublade“, „nutze Schlüssel mit Schranktür“).
Die „Spielfigur“ hatte sich das Smartphone als Kamera um die Brust geschnallt, so dass wie bei Egoshootern nur ihre Hände und Unterarme im Kamerabild zu sehen sind. Die Aufgabe für die Spieler*innen war es, sich für eine Einladung zum Abendessen fertig zu machen. Sie konnten die Spielfigur dafür mit verbalen Anweisungen durch ihre Wohnung steuern. Dabei mussten sie sich erst einmal orientieren und dann herausfinden, was alles zu tun ist. Sie mussten passende Kleidung aus dem Schrank suchen, sich schminken, eine Flasche Wein als Gastgeschenk aus dem Keller holen etc. Alle Spieler*innen haben bei diesem Spiel zusammengearbeitet, sich ausgetauscht und gemeinsam Lösungen gesucht. Der Umfang und die Komplexität der „Story“ war für den Workshop gut geeignet. Für eine Inszenierung lassen sich mit dem Prinzip auch deutlich komplexere Handlungen und Rätsel umsetzen und weitere Rollen als NPC (non-player character, Nicht-Spieler-Charakter) besetzen.
Die hier eingesetzten und erforschten Prinzipien von Videospielen lassen sich auch dann im Theater einsetzen, wenn sich Schauspieler*innen und Publikum am selben Ort befinden. Auch die Kommunikation über Smartphone und Messenger lässt sich im Theatersaal einsetzen. Der Einsatz einer Körperkamera wie im zuletzt geschilderten Spiel kann eine interessante „Doppelperspektive“ ermöglichen, indem das Bühnengeschehen sowohl von außen (Publikumssicht, Third Person Perspective) als auch von innen, quasi durch die Augen der Protagonisten (First Person Perspektive) erlebt wird. Es ließe sich dazu beispielsweise mit Videoprojektion oder mit einem Stream auf die eigenen Mobilgeräte der Zuschauer*innen experimentieren.
Die im Workshop verfolgten Ansätze sollen anregen und Mut machen, mit digitalen Medien und Prinzipien virtueller Welten auf der Bühne zu experimentieren und gemeinsam mit den Teilnehmenden (Kindern, Jugendlichen, Schauspieler*innen) eigene ästhetische Lösungen zu erfinden.
Theaterpädagoge (BuT), Dipl.-Medienpädagoge (AKB), Certified Laban Movement Analyst (EUROLAB), Theologe und Mathematiker – arbeitet schwerpunktmäßig mit Kindern und Jugendlichen in interdisziplinären Kontexten an den Schnittstellen zwischen den darstellenden und anderen Künsten sowie in ortsspezifischen Projekten.
Insbesondere seit Corona entwickelt und erprobt er Methoden und Konzepte um darstellende Künste und digitale Medien organische Symbiosen eingehen zu lassen. Er unterrichtet in der theaterpädagogischen Fort- und Weiterbildung und gibt Kurse und Workshops für unterschiedliche Bildungsträger, Theater und Verbände.