[Zeitschrift für Theaterpädagogik]

Editorial

Theater und Digitalität – eine komplexe Herausforderung

Simone Boles 
Die­ses Edi­to­ri­al erschien zuerst in der Zeit­schrift für Thea­ter­päd­ago­gik, Aus­ga­be 78. 
Inhalt 

Digi­ta­li­tät stand als Schwer­punkt­the­ma für die­se Aus­ga­be bereits fest, bevor Coro­na uns in den kul­tu­rel­len Lock­down zwang. Der Dis­kurs um den gegen­wär­tig infla­tio­när ver­wen­de­ten Begriff weist ein Axi­om auf: Gegen­wär­tig Geschrie­be­nes über Digi­ta­li­tät unter­liegt dem Phä­no­men, dass es zum Rezep­ti­ons­zeit­punkt über­holt ist. Der Begriff besitzt zahl­rei­che Bedeu­tungs­ebe­nen, wird bereits mit­hil­fe von Prä­fi­xen modi­fi­ziert (Post-Digi­ta­li­tät) und sys­tem­über­grei­fend ver­wen­det. Alles ist im Fluss.

Absichten

Was heißt Digi­ta­li­tät für das Arbeits­feld und Selbst­ver­ständ­nis der Thea­ter­päd­ago­gik gegen­wär­tig 2020/21? Eine kom­ple­xe Her­aus­for­de­rung, aus der sich inhalt­li­che, künst­le­risch-ästhe­ti­sche, (theater)pädagogische Aspek­te und Fra­gen erge­ben, die wie­der­um ein­ge­bet­tet sind in aktu­el­le kul­tur- und gesell­schafts­po­li­ti­sche Ent­wick­lun­gen. Ein Rie­sen­the­ma, die­se Kom­ple­xi­tät und die sich dar­aus erge­ben­den meta­theo­re­ti­schen Dis­kur­se wer­den hier höchs­tens ange­ris­sen und in viel­fäl­ti­ge Pra­xis­be­rich­te ein­ge­bun­den. Das vor­lie­gen­de Heft ver­steht sich sowohl in der Auf­ma­chung als hybri­de Publi­ka­ti­on – es gibt einen Print­teil und einen Online-Teil – als auch in der The­men- und Berichts­viel­falt der ein­zel­nen Arti­kel als eine Situa­ti­ons­be­schrei­bung. Es zeigt in gewis­ser Wei­se den aktu­el­len Refle­xi­ons­stand und die Refle­xi­ons­lust unse­res Arbeits­fel­des. Pan­ta rhei. 

Der kon­ven­tio­nel­le Print­teil als Heft­aus­ga­be (ISSN 1865–9756) wird hier mit dem digi­ta­len Teil spie­le­risch ver­bun­den. Bei­de Tei­le sol­len sich wech­sel­sei­tig ergän­zen. Eini­ge Bei­trä­ge begin­nen im Print­teil und wer­den hier im Digi­ta­len fort­ge­setzt, ande­re Bei­trä­ge sind nur im Digi­ta­len zu finden.

Das hybri­de Heft­for­mat ver­ste­hen wir als ein Expe­ri­ment,  ins­be­son­de­re bei dem The­ma Digi­ta­li­tät anders zu kom­mu­ni­zie­ren bzw. zu publi­zie­ren: Die Autor*innen the­ma­ti­sie­ren die not­wen­di­ge Aus­ein­an­der­set­zung des Thea­ters, der Thea­ter­päd­ago­gik mit Digi­tal­ti­tät, die unter den pan­de­mi­schen Coro­na­maß­nah­men lebens­echt ver­stärkt, bedroh­lich bedeut­sam einen neu­en Umgang der Kunst­schaf­fen­den mit der gesell­schaft­li­chen, sozia­len und ästhe­ti­schen Rea­li­tät ver­langt. Dabei fällt auf, dass die meis­ten Bei­trä­ge für ein ana­lo­ges For­mat, in ana­log-chro­no­lo­gi­scher Schreib- und Denk­wei­se ver­fasst sind und die meis­ten Autor*innen auch lie­ber in die ana­lo­ge Print­aus­ga­be als ins digi­ta­le For­mat wol­len. So gibt es kei­ne krea­ti­ven Über­ra­schun­gen, die sich auf unkon­ven­tio­nel­le Wei­se im Digi­ta­len aus­pro­biert und mani­fes­tiert haben. Digi­ta­les Prä­sen­tie­ren, eine „post­di­gi­ta­le Nor­ma­li­tät“ ist hier in die­ser Aus­ga­be, ist hier in der digi­ta­len Kom­mu­ni­ka­ti­on über und alsTheater(pädagogik) (noch) kaum angekommen.

Einsichten

Die leben­di­ge Aus­ein­an­der­set­zung unse­rer Fach­com­mu­ni­ty mit dem The­ma Thea­ter und Digi­ta­li­tät zeigt sich in den viel­schich­ti­gen Blick­win­keln der Bei­trä­ge auf das sehr kom­ple­xe The­ma im The­men­teil wie im Maga­zin. Die theo­rie­ge­lei­te­te Dimen­si­on der Bei­trä­ge von Sabi­ne Kös­ter-Kili­an und Mar­ti­na Lee­ker mar­kie­ren einen fun­dier­ten Pro­blem­auf­riss über die Stich­wor­te Post­di­gi­ta­li­tät, Netz­thea­ter und post­hu­ma­ne Bil­dung und stel­len Fra­gen, zu denen sich Thea­ter­päd­ago­gik ver­hal­ten muss. Wel­che Hand­lungs­räu­me und ‑mög­lich­kei­ten kön­nen thea­ter­päd­ago­gi­sche Pro­jek­te unter post­di­gi­ta­len und post­hu­ma­nen Bedin­gun­gen ver­mit­teln? Wie ver­än­dert sich das Sub­jekt­ver­ständ­nis unter die­sen digi­ta­len Theo­rie- und Pra­xis­kon­tex­ten? Was heißt dann kri­tisch und ästhe­tisch kom­pe­tent han­deln oder hand­lungs­fä­hig wer­den im digi­ta­len Raum? Felix Büch­ner und Sören Traul­sen beschrei­ten einen theo­re­ti­schen Weg, indem sie den Dis­kurs über Schul­thea­ter und Digi­ta­li­tät empi­risch-qua­li­ta­tiv erfor­schen. Zusätz­li­che The­men­fel­der der Post­hu­ma­ni­tät schlie­ßen sich hier an z.B. Aspek­te der KI (Fre­de­rik Hoch­hei­mer), der Mensch-Maschi­ne-Dis­kurs, ver­än­der­te Welt­wahr­neh­mung der digi­tal natives/milleniums/pc/00er/2.0‑Generation etc. oder meist mit dys­to­pi­schen black mir­ror-Sze­na­ri­en.

Die Form als all­be­kann­te dicho­to­mi­sche Mit­spie­le­rin ist in unge­ahn­ter Wei­se her­aus­ge­for­dert, z.B. als zoom as a stage, digi­ta­les Sto­rytel­ling, Online-Thea­ter, digi­ta­le Tools wer­den ästhe­tisch thea­tra­li­siert (Gra­we, Porps/Peter, Kaiser/Tomruk,  Andritter/Jeroma). Was ist also genu­in thea­tral? Reicht es, wenn ein Mensch über die Büh­ne geht und einer digi­tal zuschaut? Wel­che Dif­fe­ren­tia Spe­ci­fi­ca sind not­wen­dig und/oder hin­rei­chend für das Genus Pro­xi­mum „Thea­ter“? Ist Hybri­di­tät im enge­ren Sinn mög­lich, nötig oder sowie­so schon post­di­gi­ta­le Rea­li­tät? Rezep­ti­ons­pro­zes­se, die Rol­le des Zuschau­en­den, die vier­te Wand, der Chor (Harald Som­mer), Immersi­vi­tät, Inter­ak­ti­on (Georg Rutt­ner), Kol­la­bo­ra­ti­on, Par­ti­zi­pa­ti­on (Wrentschur/Vieregg), Gami­fi­ca­ti­on (Mar­co Aul­bach), die Rol­le des Sub­jekts (André Studt) bekom­men eine Renaissance.

Die thea­ter­päd­ago­gi­sche Agen­da muss sich alle sys­tem­im­ma­nen­ten Grund­fra­gen des Thea­ter­ma­chens neu stel­len. Beschleu­nigt durch die Pan­de­mie-Kri­se wird – mal mür­risch-zwangs­läufg, mal expe­ri­men­tell-krea­tiv – ein digi­ta­les Labor für die thea­ter­päd­ago­gi­sche Pra­xis eröff­net: expe­ri­men­tie­ren, erfor­schen, Ant­wor­ten suchen, erpro­ben (Hof­fel­ner, Kresse/Gralke, Morche/Krannich, Mül­ler, Ritter/Lerner, Roth-Lan­ge, Hül­ler, Ant­c­zack, Kind­ler, Rie­del, Eikel-Pohen, Rogmann/Alexius, Odier­na, Ams­beck). Die viel­schich­ti­gen Pro­jekt­be­schrei­bun­gen zei­gen, was und wie sich die thea­ter­päd­ago­gi­sche Arbeit durch den Lock­down ver­än­dert. Der dyna­mi­sche, krea­ti­ve, aber auch erzwun­ge­ne Umgang mit digi­ta­len For­ma­ten wird prä­gnant geschil­dert. Schwie­rig­kei­ten, Umwe­ge und Lösun­gen wer­den arti­ku­liert, aber auch die Fra­ge gestellt: „Ist das (noch) die Arbeit, die wir machen wollen?“

Aussichten

Von einer post­di­gi­ta­len und post­hu­ma­nen Thea­ter­päd­ago­gik sind wir weit ent­fernt, wie ist das ein­zu­schät­zen (posi­tiv oder nega­tiv), wo ste­hen wir? Eine Wider­stän­dig­keit gegen Ver­ein­nah­mung, Anpas­sung oder Über­for­mung durch das aktu­el­le Pri­mat oder die sich eta­blie­ren­de Domi­nanz des Digi­ta­len in Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren und Lebens­welt ist zu beob­ach­ten. Eine kri­ti­sche Thea­ter­päd­ago­gik wird sich zukünf­tig im Modus von Post­di­gi­ta­li­tät mit den Chan­cen und Risi­ken des Digi­ta­len aus­ein­an­der­set­zen – in Theo­rie und Pra­xis, künst­le­risch-ästhe­tisch und päd­ago­gisch. Neben der unan­fecht­ba­ren Rele­vanz des kri­ti­schen Umgangs mit und in der digi­ta­len, glo­ba­len Welt gilt es, sich thea­ter­päd­ago­gisch – im Bewusst­sein der Teil­ha­ben­den an, in und mit Digi­ta­li­tät – den Phä­no­me­nen der rasan­ten kul­tu­rel­len Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se refle­xiv, expe­ri­men­tier­freu­dig, ästhe­ti­sie­rend und poli­tisch zu stel­len. Wel­che Aus­wir­kun­gen hat das auf die Pro­gram­ma­ti­ken, Impe­ra­ti­ve und Prak­ti­ken der Kul­tu­rel­len Bil­dung? Binä­res Den­ken kann der gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Gegen­wart nicht gerecht wer­den. So wird die Dicho­to­mie analog/digital auch im thea­ter­päd­ago­gi­schen Arbeits­feld in viel­schich­ti­gen Aus­for­mun­gen hin­fäl­lig wer­den. Pan­ta rhei, ouden menei.

Wir sind gespannt, wie Sie und Ihr die­ses hybri­de Expe­ri­ment (The­ma und Heft) auf- und wahr­neh­men werden/t und freu­en uns über Reak­tio­nen ger­ne unter:

https://klub-schultheater.org/t/korrespondenzen-zftp-heft-78/82

Wir bedan­ken uns bei Nico­le Helms und Dani­el Köh­ler für ihre Geduld, Gelas­sen­heit und Fle­xi­bi­li­tät, ohne sie wäre die tech­ni­sche Umset­zung der Hybrid­aus­ga­be nicht mög­lich gewe­sen. Für die wie immer fun­dier­te Bear­bei­tung der Rubri­ken Archiv und Rezen­sio­nen dan­ken wir Katha­ri­na Kolar und Maik Wal­ter; für die wert­vol­le redak­tio­nel­le Zuar­beit geht unser Dank an Chris­tia­ne Man­gold und Til­mann Ziemke.

Erstellt: 3. Juni 2021 
Aktua­li­siert: 7. Juni 2021 

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