SCHUL.THEATER

Fokus

Rollen – Vortrag von Ute Pinkert

Ute Pin­kert

Inhalt 

Die­ser Text ist der ers­te Teil eines Vor­trags, den ich gemein­sam mit Mela­nie Hinz und Sebas­ti­an Eggers auf dem Fach­tag des Schul­thea­ter­tref­fens der Län­der in Trier gehal­ten habe. Selbst­ver­ständ­lich gibt es meh­re­re Per­spek­ti­ven, unter denen für Thea­ter­päd­ago­gin­nen und ‑päd­ago­gen eine Refle­xi­on von Rol­len-Spiel inter­es­sant ist. Unter einer päd­ago­gi­schen Per­spek­ti­ve könn­te man das Phä­no­men Rol­le bei­spiels­wei­se aus dem kind­li­chen Rol­len­spiel her­lei­ten und unter­su­chen, auf wel­che Wei­se die­ses Rol­len­spiel in thea­ter­päd­ago­gi­schen Set­tings wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den kann. Uns haben hin­ge­gen anthro­po­lo­gi­sche, thea­ter­wis­sen­schaft­li­che und thea­ter­prak­ti­sche Aspek­te des Phä­no­mens Rol­le interessiert.

Zum Verhältnis von Menschenbild (Subjekt/Individualitätskonzepten) und menschlichen Verkörperungen (Rollenbildern) im Theater

Ich begin­ne mit der thea­ter­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­ti­ve von Eri­ka Fischer-Lich­te aus den Nuller-Jah­ren, die sich für einen anthro­po­lo­gi­schen Blick auf Thea­ter stark gemacht hat. Ihre Fra­ge rich­te­te sich dabei auf das Ver­hält­nis zwi­schen Mensch­sein auf der einen Sei­te und der Thea­ter­si­tua­ti­on auf der ande­ren. Sie lau­tet: Was ist der Mensch, was macht ihn aus? Wie geht die Kunst­form des Thea­ters mit die­ser Wesen­haf­tig­keit des Men­schen um? Und wie erscheint die­ses Men­schen­bild auf der Theaterbühne?

Es über­rascht nicht, dass Eri­ka Fischer-Lich­te eine genia­le Pas­sung zwi­schen dem Wesen des Men­schen und dem Wesen des Thea­ters kon­sta­tiert. Sie sagt:

„Thea­ter hat der­ge­stalt sein Fun­da­ment und die Bedin­gung sei­ner Mög­lich­keit in der con­di­tio huma­na (…).Denn die thea­tra­le Grund­si­tua­ti­on ent­hält immer schon alle für die con­di­tio huma­na kon­sti­tu­ti­ven Fak­to­ren – die Lust dar­an, sich selbst als einen ande­ren zu ent­wer­fen und zu erpro­ben, die Fähig­keit zum Han­deln, zum Dar­stel­len, zum Spiel. (…) In die­sem Sin­ne lässt sich die The­se ver­tre­ten, dass im Thea­ter die exzen­tri­sche Posi­ti­on des Men­schen, sowie die mit ihr gesetz­ten Fähig­kei­ten – zum Bei­spiel zur Spra­che, zur Selbst- und Fremd­wahr­neh­mung, zum instru­men­tel­len, expres­si­ven und semio­ti­schen Gebrauch des Kör­pers – als sol­che the­ma­ti­siert und reflek­tiert wer­den. (Fischer Lich­te 2010a: 3)

In die­ser Argu­men­ta­ti­on ver­birgt sich eine bestimm­te Thea­ter­de­fi­ni­ti­on, die für die zeit­ge­nös­si­sche Thea­ter­wis­sen­schaft nach wie vor Gül­tig­keit hat. Ich möch­te deren Aspek­te kurz erläutern:

  1. Thea­ter in die­sem Ver­ständ­nis besteht wesent­lich aus der thea­tra­len Situa­ti­on der Auf­füh­rung. Deren Vor­aus­set­zung ist ein Zusam­men­kom­men von Men­schen, die im glei­chen Raum zur glei­chen Zeit anwe­send sind, also in Koprä­senz, und die die Funk­tio­nen „Dar­stel­len­de“ und „Zuschau­en­de“ unter­ein­an­der aufteilen.
  2. Thea­ter kann in die­sem Ver­ständ­nis über­haupt erst statt­fin­den, weil der Mensch nach Hel­mut Pless­ner eine so genann­te exzen­tri­sche Posi­ti­on inne­hat: Das bedeu­tet, der Mensch ist in der Lage, aus dem Zen­trum sei­ner Selbst­wahr­neh­mung ein Stück weit her­aus­zu­ge­hen und zu sich selbst in ein Ver­hält­nis zu tre­ten. Er lebt damit qua­si ver­dop­pelt: in einem erle­ben­den Teil (dem spü­ren­den Leib) und in einem sich selbst reflek­tie­ren­den Teil, der das Erle­ben in Spra­che fas­sen kann und instru­men­tell zu steu­ern oder spie­le­risch zu über­schrei­ten ver­sucht. Die­se exzen­tri­sche Posi­tio­nie­rung ist unauf­heb­bar, das Selbst­ge­fühl von Kör­per-Sein und gleich­zei­tig Kör­per-Haben, von Erle­ben und gleich­zei­tig Reflek­tie­ren kann nicht zuguns­ten einer Sei­te auf­ge­löst wer­den. Im Pro­zess des Schau­spie­lens las­sen sich den­noch unter­schied­li­che Wege zu und auch unter­schied­li­che Umgangs­wei­sen mit der Gleich­zei­tig­keit von Erle­ben und bewuss­tem Gestal­ten aus­dif­fe­ren­zie­ren (vgl. Hent­schel 2010)
  3. Thea­ter bekommt in die­sem Ver­ständ­nis die gesell­schaft­li­che Funk­ti­on zuge­wie­sen, immer wie­der neu das Wesen ‚des Men­schen‘ auf der Büh­ne zu the­ma­ti­sie­ren, zu unter­su­chen und zu reflek­tie­ren. In sei­ner gesell­schaft­li­chen Dimen­si­on ver­weist die­se Funk­ti­on auf die Not­wen­dig­keit, dass der Mensch sich mit­tels eines refle­xi­ven Medi­ums über die in sei­ner jewei­li­gen Zeit rele­van­ten Men­schen­bil­der und Sub­jekt­mo­del­le verständigt.

Was haben die­se Über­le­gun­gen mit der Thea­ter­rol­le zu tun?

In einem anthro­po­lo­gi­schen Thea­ter­ver­ständ­nis wird der Begriff der Rol­le nicht gebraucht, weil es statt­des­sen um das umfas­sen­de­re Phä­no­men der Ver­wand­lung geht. Fischer-Lich­te spricht hier einer­seits von der „Lust dar­an, sich selbst als einen ande­ren zu ent­wer­fen und zu erpro­ben“ und ande­rer­seits auch von der „Not­wen­dig­keit, sich das Ande­re – das Frem­de und Ima­gi­nier­te – anzu­eig­nen bzw. sich ihm anzu­ver­wan­deln“. (Fischer-Lich­te 1997: 985)

Unter einer anthro­po­lo­gisch aus­ge­rich­te­ten thea­ter­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­ti­ve ist die Rol­le also kein essen­ti­el­les Phä­no­men des Thea­ters. Sie ist viel­mehr ein Mit­tel, mit des­sen Hil­fe das jeweils aktu­el­le Bild vom Men­schen auf der Büh­ne erzeugt und prä­sen­tiert wer­den kann. – Und selbst­ver­ständ­lich muss sie dabei in ihren Inhal­ten und in ihrer Kon­struk­ti­ons­wei­se his­to­risch ver­än­der­bar sein.

(Historische) Bilder vom Menschen auf der Theaterbühne

In der Thea­ter­wis­sen­schaft fin­den sich zwei Rich­tun­gen, mit die­ser his­to­ri­schen Sicht­wei­se auf die Rol­le umzu­ge­hen. Eine, die eher inhalt­lich ori­en­tiert ist und eine, die sich eher auf die Kon­struk­ti­ons­wei­se kon­zen­triert, wobei bei­de Sei­ten selbst­ver­ständ­lich nur ana­ly­tisch von­ein­an­der zu tren­nen sind.

Die ers­te stammt wie­der von Eri­ka Fischer-Lich­te. Aus­ge­hend von ihrem Ver­ständ­nis von Thea­ter als The­ma­ti­sie­rung der Con­di­tio Huma­na, bil­det für sie der Inhalt von Thea­ter eine Aus­sa­ge zum jewei­li­gen Cha­rak­ter des Mensch­seins in einer bestimm­ten Zeit. Eri­ka Fischer-Lich­te bezeich­net die­sen Cha­rak­ter als Iden­ti­tät: „Im Thea­ter der west­li­chen Kul­tur (…) sind sich Schau­spie­ler und Zuschau­er über­wie­gend des­sen bewusst, dass es in Thea­ter­auf­füh­run­gen um Insze­nie­run­gen von Iden­ti­tät geht.“ (Fischer Lich­te 2010a: 6).

In ihrer Unter­su­chung zur Dra­men­ge­schich­te syn­the­ti­siert Fischer-Lich­te ent­spre­chen­de his­to­ri­sche Typi­sie­run­gen des Men­schen, wie den tra­gi­schen Held in der Anti­ke, den vita­len oder gefol­ter­ten Kör­per in den mit­tel­al­ter­li­chen Spie­len, den Schöp­fer und Zer­stö­rer sei­ner selbst bei Shake­speare oder als auf die Fami­lie bezogene/n empfindsame/n Bürger/in im bür­ger­li­chen Trauerspiel.

Für ihre Fra­ge nach dem his­to­risch-typi­schen Bild des Men­schen auf der Büh­ne bezieht sich Fischer-Lich­te vor allem auf Dra­men­tex­te. Sie nutzt den Rol­len­be­griff dabei syn­onym zum Begriff der Figur oder des Cha­rak­ters. Und auch den Begriff der Iden­ti­tät wür­de ich in die­sem Zusam­men­hang nicht auf die Gold­waa­ge legen, son­dern lie­ber von „Men­schen­bild“ oder „Sub­jekt­kon­struk­ti­on“ sprechen.

Wel­ches Men­schen­bild sieht Fischer-Lich­te im gegen­wär­ti­gen Thea­ter auf der Büh­ne prä­sen­tiert? Zwar ist ihre Publi­ka­ti­on Ende der 1990er Jah­re erschie­nen und das letz­te Kapi­tel ist Hei­ner Mül­ler gewid­met, einem Autor, der 1995 ver­stor­ben ist. Aber Mül­ler war ein Visio­när, 1983 schrieb er:

Die tota­le Zer­reiß­pro­be, der die mensch­li­chen Kol­lek­ti­ve in unse­rem viel­leicht (…) letz­ten Jahr­hun­dert aus­ge­setzt sind, wird die Mensch­heit nur als Kol­lek­tiv über­dau­ern. Der kom­mu­nis­ti­sche Grund­satz KEINER ODER ALLE erfährt auf dem Hin­ter­grund des mög­li­chen Selbst­mords der Gat­tung, sei­nen end­gül­ti­gen Sinn. Aber der ers­te Schritt zur Auf­he­bung des Indi­vi­du­ums in die­sem Kol­lek­tiv ist sei­ne Zer­rei­ßung, Tod oder Kai­ser­schnitt, die Alter­na­ti­ve des neu­en Men­schen. Das Thea­ter simu­liert den Schritt, Lust­haus und Schre­ckens­kam­mer der Ver­wand­lung. (Hei­ner Mül­ler 1983 nach Fischer-Lich­te 2010b: 271) 

Das Men­schen­bild, was nach Fischer-Lich­te bei Hei­ner Mül­ler the­ma­ti­siert wird, ist dem­nach die­ser „neue Mensch“ in einem über­grei­fen­den Sin­ne. Ein Mensch, der auf­hört, sich selbst, ande­re Men­schen und sei­ne Mit­welt per­ma­nent zu zer­stö­ren. Ein Mensch, der in der Lage ist, das Ande­re als Ande­res anzu­er­ken­nen und wert­zu­schät­zen. Aber bei Mül­ler wird, anders als bei­spiels­wei­se bei Richard Schech­ner und Jer­zy Gro­tow­ski, nicht ver­sucht, die­sen neu­en Men­schen auf der Büh­ne ent­ste­hen zu las­sen. Es wird viel­mehr the­ma­ti­siert, wie die­ser neue Mensch dar­um ringt, über­haupt gebo­ren zu wer­den und mit wel­chen äuße­ren und vor allem inne­ren Wider­stän­den er sich dabei kon­fron­tiert sieht. Fischer-Lich­te spricht des­halb von „Zer­stü­cke­lung und Wie­der­ge­burt“ als Leit­mo­ti­ven in Mül­lers Werk.

Wie wird die­ses Menschenbild/besser die­ser Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess eines Men­schen­bil­des nun bei Mül­ler in einen Thea­ter­text über­setzt? Wel­che Kon­se­quen­zen hat das für die Rol­len­dar­stel­lung? Ich möch­te hier ein paar ästhe­ti­sche Mit­tel skizzieren:

  • a) Distan­zie­rung von fest­ge­schrie­be­nen Rollen(mustern): In der Ham­let­ma­schi­ne set­zen sich die Figu­ren damit aus­ein­an­der, ob sie den Rol­len fol­gen sol­len, die anders­wo für sie ent­wor­fen und nie­der­ge­legt sind, oder ob und wie sie mit über­lie­fer­ten Rol­len­ent­wür­fen bre­chen sol­len (vgl. Fischer-Lich­te 2010b: 274). „Ich war Ham­let. Ich stand an der Küs­te und rede­te mit der Bran­dung BLABLA.“ 
  • b) Umkeh­rung der Kate­go­rien, Geschlech­ter­tausch, Paa­rung und Tötung als kos­mi­sche Hoch­zeit und Frei­set­zung einer dio­ny­si­schen, welt­erneu­ern­den Kraft (in Bezug auf Mül­lers Dra­ma „Das Leben Gund­lings, vgl. ebd.: 280)
  • c) Auf­spren­gung der Kate­go­ri­sie­run­gen, Auf­lö­sung der abgren­zen­den Ein­heit des Ich und Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den ande­ren Posi­tio­nen des Stü­ckes im Pro­zess der Rezeption.

So endet bei­spiels­wei­se Mül­lers Bild­be­schrei­bung, die eine end­lo­se, end­los vari­ie­ren­de Gewalt­ge­schich­te zwi­schen Mann, Frau, Vogel, Haus und Land­schaft beschreibt, mit dem fol­gen­den Text:

„Ist der Mann mit dem Tanz­schritt ICH, sein Grab mein Gesicht, ICH die Frau mit der Wun­de am Hals, rechts und links in Hän­den den geteil­ten Vogel, ICH der Vogel, der mit der Schrift sei­nes Schna­bels dem Mör­der den Weg in die Nacht zeigt, ICH der gefro­re­ne Sturm.“ (Fischer-Lich­te 2010b: 288) 

Am Bei­spiel Hei­ner Mül­ler wird deut­lich, dass Thea­ter mehr ist als Pro­duk­ti­ons­stät­te von Abbil­dern der sozia­len Wirk­lich­keit. Das Ver­hält­nis von Thea­ter und Gesell­schaft ist dia­lek­tisch zu den­ken. Das Poten­ti­al des west­li­chen Thea­ters ist dem­nach die Aus­ein­an­der­set­zung mit bestehen­den Sub­jekt­vor­stel­lun­gen der jewei­li­gen Gegen­wart. Dies kann in Form eines Vor­bild­mo­dells gesche­hen, in Form von Kri­tik oder selbst­ver­ständ­lich auch in Form von Gegen­ent­wür­fen und uto­pi­schen Entwürfen.

Rollenspiel als darstellende Praxis – Kritik des bürgerlichen Rollenspielkonzepts

Ich hat­te oben von zwei Rich­tun­gen gespro­chen, die sich in der Thea­ter­wis­sen­schaft mit dem The­ma Rol­len befas­sen. Neben der Fra­ge nach dem Men­schen­bild in Dra­men­tex­ten und sei­ner Ver­kör­pe­rung in bestimm­ten Rol­len­dar­stel­lun­gen gibt es eine star­ke Rich­tung in der Thea­ter­wis­sen­schaft, die sich dem Rol­len­spiel als dar­stel­len­de Pra­xis wid­met. Hier wird davon aus­ge­gan­gen, dass die Rol­len­dar­stel­lung, wie wir sie ken­nen, eine im 18. Jahr­hun­dert ins­be­son­de­re von Denis Dide­rot und Gott­hold Ephra­im Les­sing ent­wi­ckel­te spe­zi­fi­sche Form der schau­spie­le­ri­schen Ver­wand­lungs­kunst darstellt.

So schreibt Ulri­ke Haß: „Der Auf­trag des bür­ger­li­chen Lite­ra­tur­thea­ters an den moder­nen Schau­spie­ler lau­tet, einer vom Autor ent­wor­fe­nen, fik­ti­ven Figur Kör­per, Stim­me und Gesicht zu ver­lei­hen und zu leben­di­ger, sze­ni­scher Anwe­sen­heit zu ver­hel­fen. Die­ser Auf­trag wider­spricht der tra­gi­schen Mas­ke, die das Abwe­sen­de nie­mals ver­ge­gen­wär­tigt, son­dern zitiert. Er wider­spricht der Ver­kör­pe­rung eines Typus, indem er an die Stel­le der Rol­le. als Form und Spiel­po­si­ti­on die mime­ti­sche Ver­wand­lung in eine fik­ti­ve indi­vi­dua­li­sier­te Kunst­fi­gur ver­langt.“ (Haß; 333).

Man könn­te jetzt viel zu die­sem bür­ger­li­chen Rol­len­kon­zept sagen. Zwei kur­ze Bemer­kun­gen: Zum einen geht das Kon­zept der Rol­le von einer struk­tu­rel­len Über­ein­stim­mung aus zwi­schen einem auto­nom han­deln­den Rol­len­trä­ger im All­tag und der auf der Büh­ne kon­stru­ier­ten ent­spre­chend indi­vi­dua­li­sier­ten Thea­ter­rol­le. Das Medi­um ihrer gegen­sei­ti­gen Ver­mitt­lung ist eine Ver­schrän­kung von Nach­ah­mung und Ein­füh­lung. Die­se Kon­struk­ti­on prä­fe­riert die­ses Modell, mit bestimm­ten gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Zie­len ver­knüpft zu wer­den, wie z.B. der mora­li­schen Ent­wick­lung des Men­schen mit Hil­fe von Mit­leid und Furcht. In Bezug auf die Media­li­tät des Thea­ters ist fest­zu­stel­len, dass das Kon­zept des Rol­len­spiels im bür­ger­li­chen Thea­ter eng ver­knüpft ist mit der Eta­blie­rung des voll­stän­dig zwei­ge­teil­ten Büh­nen­rau­mes, der Guck­kas­ten­büh­ne. Dies ver­langt vom Zuschau­er, „das Büh­nen­ge­sche­hen wie ein Gemäl­de wahr­zu­neh­men und zu lesen“ (Haß: 304). Das idea­le bür­ger­li­che Thea­ter ist dem­nach nach Ulri­ke Haß eine unun­ter­bro­che­ne Abfol­ge von Tableau Vivants.

Das Kon­zept des bür­ger­li­chen Rol­len­spiels mit sei­nen Mecha­nis­men Indi­vi­dua­li­sie­rung, Ver­bild­li­chung, sozia­le Nach­ah­mung und Ein­füh­lung wird durch die Thea­ter­avant­gar­den des 20. Jahr­hun­derts in ver­schie­de­nen Thea­ter­ent­wür­fen atta­ckiert. (Stich­wor­te wären hier: das epi­sche Thea­ter Brechts, die Akti­ons- und Per­fo­mance­kunst; das cho­ri­sche Thea­ter; auf Typi­sie­rung basie­ren­des Clowns- und Stra­ßen­thea­ter, Zir­kus …). Es wäre jedoch ver­kürzt, sich dabei allein auf die for­ma­len Neue­run­gen zu kon­zen­trie­ren. Wie Niko­laus Mül­ler-Schöll beschreibt, geht es bei der Infra­ge­stel­lung des Rol­len­spiels im Modell des bür­ger­li­chen Thea­ters vor allem um die zugrun­de lie­gen­de Sub­jekt­vor­stel­lung. Er schreibt:

Wie wenig ande­re zen­tra­le Begrif­fe des bür­ger­li­chen Thea­ters und der klas­si­schen Schau­spiel­theo­rien steht und fällt [der Begriff der Rol­le] mit den im 18. Jahr­hun­dert gepräg­ten moder­nen Vor­stel­lun­gen des Sub­jekts als eines sei­ner selbst mäch­ti­gen, prä­sen­ten Sou­ve­räns, der Herr in sei­nem Haus ist, das er nach Maß­ga­be sei­nes Ver­stan­des zu regeln wüss­te, wenn er sich denn nur end­lich des­sen zu bedie­nen wag­te.  Die (…) Zeit der gro­ßen Ent­wür­fe eines vom Modell des Sub­jekts bestimm­ten (…)  Gemein­we­sens, das im voll­stän­di­gen Besitz sei­ner eige­nen Sub­stanz ist, ist zugleich die Zeit, in der im Thea­ter jene vom Bür­ger­tum und sei­ner Vor­stel­lungs­welt gepräg­te moder­ne Rol­len­auf­fas­sung des bür­ger­li­chen Lite­ra­tur­thea­ters ent­steht.“ Müller-Schöll:545)

Die­se Infra­ge­stel­lung der Sou­ve­rä­ni­tät eines als auto­nom kon­zi­pier­ten Sub­jek­tes ist eines der Haupt­mo­ti­ve des zeit­ge­nös­si­schen Thea­ters und bekommt ange­sichts von Über­le­gun­gen zum Thea­ter des Anthro­po­zän und der ent­spre­chen­den Kri­tik am Anthro­po­zen­tris­mus (vgl. Rad­datz) eine neue Aktualität.

Theaterpädagogische Perspektive

Und wie geht die Thea­ter­päd­ago­gik mit die­sen Befun­den um? Mit die­ser Fra­ge möch­te ich im letz­ten Teil mei­ne Per­spek­ti­ve ändern und eine thea­ter­päd­ago­gi­sche Posi­ti­on einnehmen.

Hier könn­te nach all dem Gesag­ten die Fra­ge auf­tau­chen: Ist Rol­len­spiel im Schul­thea­ter dann also nur eine ana­chro­nis­ti­sche Erin­ne­rung an ein im Nie­der­gang befind­li­ches bür­ger­li­ches Thea­ter? – Hier muss man dif­fe­ren­zie­ren: So geht es mei­ner Auf­fas­sung nach in den Befun­den der Thea­ter­wis­sen­schaft nicht um Rol­len­spiel an sich, son­dern um eine bestimm­te Form des Rol­len­spiels, die davon aus­geht, dass der Mensch ein auto­no­mes Wesen ist, das abge­trennt und iso­liert von sei­ner Mit­welt – der sozia­len wie nicht-mensch­li­chen Mit­welt – exis­tie­ren kann. In der Kri­tik steht eine Form selbst­iden­ti­schen Spiels, in dem eine Dar­stel­le­rin ver­sucht rest­los mit einer Rol­le und ihrem Text zu ver­schmel­zen und die Illu­si­on zu erzeu­gen, sie hät­te sich als geschlos­se­ne Iden­ti­tät der Schau­spie­le­rin in eine ande­re geschlos­se­ne Iden­ti­tät der Rol­le ver­wan­delt und zwar am bes­ten rest­los und ohne Arbeit.

Doch die Per­spek­ti­ve der Thea­ter­wis­sen­schaft ist unter einem thea­ter­päd­ago­gi­schen Inter­es­se am Thea­ter in der Schu­le nicht nur zu dif­fe­ren­zie­ren, son­dern auch zu pro­ble­ma­ti­sie­ren. So hat nach Leo­pold Kle­pa­cki das Schul­thea­ter einen päd­ago­gi­schen, einen thea­tra­len und einen schu­li­schen Bezug (vgl. Kle­pa­cki: 79). Der von mir oben skiz­zier­te Sub­jekt­be­griff der künst­le­ri­schen Avant­gar­den wür­de dem­nach mit dem thea­tra­len Bezug des Schul­thea­ters kor­re­spon­die­ren, nicht aber auto­ma­tisch mit dem päd­ago­gi­schen und schu­li­schen. Schul­thea­ter ist als künst­le­ri­sche Pra­xis auf zeit­ge­nös­si­sche Thea­ter­for­men bezo­gen, aber geht nicht in ihnen auf. Schul­thea­ter fin­det in einem bestimm­ten Kon­text statt und hat damit, um mit Fischer-Lich­te zu spre­chen, eine ande­re „Trä­ger­schicht“. Und Schul­thea­ter hat eine bestimm­te päd­ago­gi­sche Funk­ti­on, die all­ge­mein als Bil­dung gefasst wer­den kann und zwar ent­spre­chend der Kom­pe­tenz­ras­ter des Faches ganz ver­all­ge­mei­nert als ästhe­ti­sche, ethi­sche und poli­ti­sche Bildung.

Das starke Subjekt?

Im Unter­schied zur Atta­ckie­rung des auto­no­men Sub­jekts in der Avant­gard­kunst gibt es in der kul­tu­rel­len Bil­dung seit eini­gen Jah­ren eine Debat­te um das Bil­dungs­ziel des „star­ken Sub­jekts“. Max Fuchs, einer der Haupt­be­für­wor­ter die­ses Kon­zep­tes sagt:

Wir (ver­tre­ten) ein Ver­ständ­nis des Sub­jekts und von Sub­jek­ti­vi­tät, dem kei­ne All­machts­fan­ta­sien unter­stellt wer­den, bei dem es aller­dings um Hand­lungs­fä­hig­keit, um Empower­ment und Eman­zi­pa­ti­on geht, bei dem es um die Ent­wick­lung von Lebens­kom­pe­ten­zen und die Fähig­keit zur Füh­rung eines selbst­be­stimm­ten Lebens geht.“ (Fuchs 2018) 

 

Ein wesent­li­cher Aspekt des star­ken Sub­jek­tes ist des­sen Fähig­keit sich von Wis­sens­be­stän­den sowie Wahrnehmungs‑, Deutungs‑, Hand­lungs- und Bewer­tungs­mus­tern nicht nur prä­gen zu las­sen, son­dern sich auch aktiv zu ihnen zu ver­hal­ten, sich zu posi­tio­nie­ren. Kunst kann dabei eine gro­ße Rol­le spie­len. Nach Georg W. Bert­ram kann Kunst zur Her­aus­bil­dung eines star­ken Sub­jek­tes bei­tra­gen, wenn sie als Refle­xi­ons­pra­xis begrif­fen wird. Bert­ram spricht hier von Kunst als einer Pra­xis, „mit­tels derer Men­schen auf sich selbst Bezug neh­men.“ (Bert­ram: 87). Damit kann Kunst nach Bert­ram „eine Arti­ku­la­ti­on des Stand­punkts von Indi­vi­du­en“ ermöglichen.

Und hier schließt sich für mich der Kreis. Thea­ter in der Schu­le kann sich nicht in einem Ein­üben in eine bestimm­te Thea­ter­form (pro­duk­tiv und rezep­tiv) erschöp­fen. Es geht viel­mehr dar­um, zu ermög­li­chen, dass sich Schüler:innen zu bestimm­ten Thea­ter­for­men ver­hal­ten, dass sie Thea­ter­for­men wie das Rol­len­spiel nut­zen, um sich zu Phä­no­me­nen ihrer Welt posi­tio­nie­ren zu kön­nen – und zwar in einer dem Medi­um des Thea­ters ent­spre­chen­den Form.

Nach Ulri­ke Haß beginnt mit dem Ver­lust des reprä­sen­ta­ti­ven Cha­rak­ters des bür­ger­li­chen Thea­ters eine zuneh­men­de Aus­ein­an­der­set­zung mit den eige­nen Darstellungsmitteln.

„Die Selbst­re­fe­ren­tia­li­tät der eige­nen Mit­tel betont den Schau­spie­ler, der die Auf­füh­rung in der spe­zi­fi­schen Zeit­form des Thea­ters, dem Prä­sens, trägt. Sie lässt ihn aus dem 

Kos­tüm der Rol­le her­vor­tre­ten als Dar­stel­ler einer von ihm unter den gege­be­nen Umstän­den der insze­na­to­ri­schen Arbeit gefun­de­nen und ent­wi­ckel­ten Figur.“ (Haß: 306) 

Um im Bild zu blei­ben: Solan­ge wir den Begriff der Rol­le wie ein (voll­stän­di­ges) Kos­tüm begrei­fen, soll­ten wir ihn viel­leicht weni­ger benut­zen. Es geht eher um ein Spie­len mit ver­schie­de­nen ‚Kos­tüm­tei­len‘, die Spie­len­den dabei hel­fen, ihre sozia­le Rol­len zu über­schrei­ten und ver­schie­de­ne Dimen­sio­nen ihres (frem­den) Selbst und eines schein­bar bekann­ten Nicht-Selbst zu erpro­ben, zu erkun­den und zu präsentieren.

 


 

Quellen

Bert­ram, Georg W. (2017): Wie kann Kunst Sub­jek­te stär­ken? in: Gerd Taube/Max Fuch/Tom Braun (Hg.): Hand­buch Das star­ke Sub­jekt: Schlüs­sel­be­grif­fe in Theo­rie und Pra­xis, Mün­chen: kopaed, S. 83–89.

Fischer-Lich­te, Eri­ka (1997): Thea­ter, In: Chris­toph Wulf (Hg.): Vom Men­schen. Hand­buch His­to­ri­sche Anthro­po­lo­gie. Beltz, S. 985 – 990.

Fischer-Lich­te, Eri­ka (2010a): Geschich­te des Dra­mas. Band 1: Von der Anti­ke bis zur deut­schen Klas­sik. Epo­chen der Iden­ti­tät auf dem Thea­ter von der Anti­ke bis zur Gegen­wart. (3. Auf­la­ge), Bern Mün­chen: A. Franke

Fischer-Lich­te, Eri­ka (2010b): Geschich­te des Dra­mas 2. Von der Roman­tik bis zur Gegen­wart: Epo­chen der Iden­ti­tät auf dem Thea­ter von der Anti­ke bis zur Gegen­wart. (3. Auf­la­ge), Bern Mün­chen: A. Franke

Haß, Ulri­ke (2014): Rol­le, In: Eri­ka Fischer-Lich­te/­Do­ris Kolesch/Matthias War­stat (Hg.): Metz­ler  Metz­ler Lexi­kon Thea­ter­theo­rie, 2. Auf­la­ge. Stutt­gart Wei­mar: J. B. Metz­ler, S. 300 – 306.

Kle­pa­cki, Leo­pold (2007): Die Ästhe­tik des Schul­thea­ters. Päd­ago­gi­sche, thea­tra­le und schu­li­sche Dimen­sio­nen einer eigen­stän­di­gen Kunst­form. Wein­heim und Mün­chen: Juventa.

Fuchs, Max (2018): Kul­tu­rel­le Bil­dung und gesell­schaft­li­cher Zusam­men­halt: Sub­jek­te stär­ken – Rah­men­be­din­gun­gen für Inte­gra­ti­on för­dern. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-gesellschaftlicher-zusammenhalt-subjekte-staerken-rahmenbedingungen (letz­ter Zugriff am 2.1.2024).

Mül­ler-Schöll, Niko­laus (2012): Plus d’un rôle. Zusam­men spie­len in gegen­wär­ti­ger Tanz‑, Thea­ter­und Per­for­mance-Pra­xis. In: Frie­de­mann Kreu­der et al.(Hg): Thea­ter und Sub­jekt­kon­sti­tu­ti­on, Bie­le­feld: tran­skript, S. 545 – 560.

Rad­datz, Frank‑M. (2021): Das Dra­ma des Anthro­po­zän. Ber­lin: Thea­ter der Zeit.

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