Szenische Reportagen aus der Arbeitswelt

Online Forumtheater zu „Working Poor – Prekäre Arbeit”

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Prof. Dr. Michael Wrentschur 

Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr, lehrt und forscht am Insti­tut für Erzie­hungs- und Bil­dungs­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Graz; Künstlerischer Lei­ter von Inter­ACT, Werk­statt für Thea­ter und Soziokultur.

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Martin Vieregg 

Mag. aka­de­mi­scher Thea­ter­päd­ago­ge, Erwach­se­nen­bild­ner und Sozi­al­päd­ago­ge, seit 2005 haupt­be­ruf­lich bei Inter­ACT, Werk­statt für Thea­ter und Sozio­kul­tur angestellt.

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Prof. Dr. Michael Wrentschur 

Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr, lehrt und forscht am Insti­tut für Erzie­hungs- und Bil­dungs­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Graz; Künstlerischer Lei­ter von Inter­ACT, Werk­statt für Thea­ter und Soziokultur.

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Martin Vieregg 

Mag. aka­de­mi­scher Thea­ter­päd­ago­ge, Erwach­se­nen­bild­ner und Sozi­al­päd­ago­ge, seit 2005 haupt­be­ruf­lich bei Inter­ACT, Werk­statt für Thea­ter und Sozio­kul­tur angestellt.

Fort­set­zung: Der Beginn des fol­gen­den Tex­tes wur­de abge­druckt in Heft 78 der Zeit­schrift für Thea­ter­päd­ago­gik, S. 9–10.

„Es herrscht ein reges Kom­men und Gehen!“

In Sum­me „klick­ten“ sich mehr als dop­pelt so vie­le Men­schen in die Online-Auf­füh­run­gen „ein“ wie bei ver­gleich­ba­ren Inter­ACT-Live-Auf­füh­rungs­se­ri­en. Dabei war auf­fäl­lig, dass die durch­schnitt­li­che Ver­weil­dau­er im Live-Stream bei ca. 40 Minu­ten lag. Was im Thea­ter­raum kaum gewagt wird, ist im vir­tu­el­len Raum ganz leicht mög­lich – die Per­for­mance jeder­zeit wie­der zu ver­las­sen, spä­ter zu kom­men oder nur für eine hal­be Stun­de vor­bei­zu­schau­en. Zudem gab die sicht­ba­re Zuschal­tung der über ZOOM mit­wir­ken­den Zuschauer*innen Ein­bli­cke in Pri­va­tes, eini­ge aßen, tran­ken oder rauch­ten wäh­rend der Auf­füh­rung und bei man­chen wur­den grö­ße­re Aus­schnit­te der Wohn­räu­me sicht­bar. Die­se offen­sicht­li­che Ver­mi­schung von pri­vat und öffent­lich wird im ana­lo­gen thea­tra­len Raum in der Regel ver­mie­den. Viel­mehr wird dadurch deut­lich, wie sehr im ana­lo­gen Thea­ter­raum der Pro­zess der Auf­füh­rung von der kol­lek­ti­ven phy­si­schen und emo­tio­na­len Prä­senz und Kon­zen­tra­ti­on des Publi­kums mit­pro­du­ziert wird, beim For­um­thea­ter noch umso mehr durch die bewuss­te Inter­ak­ti­on. Außer­dem sind For­um­thea­ter­auf­füh­run­gen, die bewusst mit dem Kon­flik­ten und Kri­sen arbei­ten, in der Regel oft auch emo­tio­nal und the­ma­tisch her­aus­for­dernd, wie sich auch in Publi­kums­be­fra­gun­gen immer wie­der zeig­te (Wrent­schur, 2019, 814ff.). Der trans­for­mie­ren­den Forum­pha­se geht die ver­bin­den­de Erfah­rung der Kri­se vor­aus. Ein „Thea­ter als Raum der sozia­len Grenz­ver­hand­lung“, als „ande­rer Raum […], als sozia­le Het­e­ro­to­pie“ (Wih­stutz 2012, 17) basiert auf der Ermög­li­chung „der Begeg­nung zwi­schen Publi­kum als Öffent­lich­keit und den ‚Unsicht­ba­ren‘ der Gesell­schaft“ (ebd., 136), was gera­de beim For­um­thea­ter eine rele­van­te Dimen­si­on und Grund­la­ge für des­sen Wir­kungs­wei­sen dar­stellt. Und noch etwas konn­te nicht statt­fin­den, was wir gera­de nach For­um­thea­ter­auf­füh­run­gen sehr oft erle­ben – dass die Zuschauer*innen blei­ben, zusam­men­sit­zen oder ‑ste­hen und über die Auf­füh­rung, die Ein­stie­ge und poli­ti­schen Vor­schlä­ge inten­siv dis­ku­tie­ren. Und den­noch gab es zahl­rei­che Rück­mel­dun­gen, dass For­um­thea­ter auch auf die­se Wei­se berüh­ren, bewe­gen und akti­vie­ren kann. Ein Zuschau­er, der wie vie­le ande­re selbst über pre­kä­re Arbeits­er­fah­run­gen ver­füg­te, war so betrof­fen, dass er sich das Stück nicht wei­ter anschau­en woll­te, weil ihn die Sze­nen zu sehr an die eige­ne Arbeits­si­tua­ti­on erinnerten.

„Wer bestimmt die Perspektive?“

Abschlie­ßend noch ein paar Zei­len zur Fra­ge, inwie­weit sich durch die­se digi­tal ver­mit­tel­te Form die Pra­xis des Thea­ter­spie­lens und die Art der Ästhe­tik änder­ten: Die Insze­nie­run­gen der bei­den sze­ni­schen Repor­ta­gen wären auch ohne deren  Über­tra­gung in den vir­tu­el­len Raum nicht anders gewe­sen. Den­noch wird im „Bild­schirm­mo­dus“ des Inter­nets eine ande­re, visu­ell bestimm­te Ästhe­tik dar­aus. Die Bild­re­gie wird maß­geb­lich dafür, was aus wel­cher Per­spek­ti­ve und mit wel­chem Fokus – es waren drei Kame­ra dabei – gezeigt und über­tra­gen wird. Bei einer Live-Auf­füh­rung ist es als Zuschauer*in mög­lich, selbst den Fokus auf das Gesamt­bild oder auf Details zu legen, auf ein­zel­ne Rol­len oder auf deren Zusam­men­spiel und dabei nicht nur visu­ell, son­dern eben auch audi­tiv und atmo­sphä­risch  wahr­zu­neh­men. Beim Online-For­um­thea­ter hat die Macht des thea­tra­len Bil­des auch etwas mit der Macht des Bild­re­gis­seurs und der Kame­ra­füh­rung zu tun und es kommt zu einer Über­macht des Visu­el­len. Ande­rer­seits wur­de die­se Macht der Live-Stream-Regie immer wie­der gebro­chen und es ent­stan­den über die bild­lich-digi­ta­len Inter­ak­tio­nen im Rah­men der Video­kon­fe­renz immer wie­der spon­ta­ne, humor­vol­le und durch­aus stim­mi­ge Momen­te, etwa wenn sich aus­ge­rech­net beim The­ma „Schwie­rig­kei­ten der Ver­ein­bar­keit von Home-Office und Home-Kin­der­be­treu­ung“ das Klein­kind einer Exper­tin auf­fäl­lig ins Bild dräng­te.
Die in unse­rem Bei­trag beschrie­be­nen The­men und Fra­gen eines „Online-For­um­thea­ters“ sind es wert, gera­de in der Ver­bin­dung von ana­lo­ger mit digi­ta­ler Thea­ter­pra­xis noch wei­ter reflek­tiert und beforscht zu werden.

Ins­ge­samt sind die Erfah­run­gen für uns dahin­ge­hend ermu­ti­gend, dass wir vor allem für „Legis­la­ti­ve Theater“-Projekte und Ver­an­stal­tun­gen, bei denen das For­um­thea­ter stär­ker par­ti­zi­pa­tiv und poli­tisch posi­tio­niert wird, hybri­de Vari­an­ten inter­es­sant fin­den. Dadurch kön­nen mehr Men­schen an ver­schie­de­nen Orten mit­wir­ken, mit­be­stim­men und – bei der Prä­senz von poli­ti­schen Verantwortungsträger*innen – „mit­be­zeu­gen“.

Live-Stream-Pre­miè­re von Working Poor. Wei­te­re Streams und Infos hier.

Boal, Augus­to (2013): Ham­let und der Sohn des Bäckers. Die Auto­bio­gra­fie. Über­setzt von Bri­git Fritz und Elvia M. Gross, hrsg. von Bir­git Fritz. Wien: man­del­baum kri­tik & utopie.

Clau­sen, Jens/Hahn, Harald (2009): Die Mode­ra­ti­on und die Rol­le des Jokers im Kiez­thea­ter. In: Clau­sen, Jens/Hahn, Harald/Runge, Mar­kus (Hrsg.) (2009): Das Kiez­thea­ter. Forum und Kom­mu­ni­ka­ti­on für den Stadt­teil. Band 4 der Ber­li­ner Schrif­ten zum Thea­ter der Unter­drück­ten (hrsg. von Harald Hahn). Stutt­gart: Ibi­dem, S. 64–75.

Wih­stutz, Ben­ja­min (2012): Der ande­re Raum. Poli­ti­ken sozia­ler Grenz­ver­hand­lun­gen im Gegen­warts­thea­ter. Zürich-Ber­lin: diaphanes.

Wrent­schur, Micha­el (2019): For­um­thea­ter, sze­ni­sches For­schen und Sozia­le Arbeit. Dis­kur­se – Ver­fah­ren – Fall­stu­di­en. Wein­heim-Basel: Beltz Juventa.

Fotos: Wolf­gang Rap­pel / InterACT

Erstellt: 6. Juni 2021 
Aktua­li­siert: 8. Juni 2021 

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