Digitalität stand als Schwerpunktthema für diese Ausgabe bereits fest, bevor Corona uns in den kulturellen Lockdown zwang. Der Diskurs um den gegenwärtig inflationär verwendeten Begriff weist ein Axiom auf: Gegenwärtig Geschriebenes über Digitalität unterliegt dem Phänomen, dass es zum Rezeptionszeitpunkt überholt ist. Der Begriff besitzt zahlreiche Bedeutungsebenen, wird bereits mithilfe von Präfixen modifiziert (Post-Digitalität) und systemübergreifend verwendet. Alles ist im Fluss.
Was heißt Digitalität für das Arbeitsfeld und Selbstverständnis der Theaterpädagogik gegenwärtig 2020/21? Eine komplexe Herausforderung, aus der sich inhaltliche, künstlerisch-ästhetische, (theater)pädagogische Aspekte und Fragen ergeben, die wiederum eingebettet sind in aktuelle kultur- und gesellschaftspolitische Entwicklungen. Ein Riesenthema, diese Komplexität und die sich daraus ergebenden metatheoretischen Diskurse werden hier höchstens angerissen und in vielfältige Praxisberichte eingebunden. Das vorliegende Heft versteht sich sowohl in der Aufmachung als hybride Publikation – es gibt einen Printteil und einen Online-Teil – als auch in der Themen- und Berichtsvielfalt der einzelnen Artikel als eine Situationsbeschreibung. Es zeigt in gewisser Weise den aktuellen Reflexionsstand und die Reflexionslust unseres Arbeitsfeldes. Panta rhei.
Der konventionelle Printteil als Heftausgabe (ISSN 1865–9756) wird hier mit dem digitalen Teil spielerisch verbunden. Beide Teile sollen sich wechselseitig ergänzen. Einige Beiträge beginnen im Printteil und werden hier im Digitalen fortgesetzt, andere Beiträge sind nur im Digitalen zu finden.
Das hybride Heftformat verstehen wir als ein Experiment, insbesondere bei dem Thema Digitalität anders zu kommunizieren bzw. zu publizieren: Die Autor*innen thematisieren die notwendige Auseinandersetzung des Theaters, der Theaterpädagogik mit Digitaltität, die unter den pandemischen Coronamaßnahmen lebensecht verstärkt, bedrohlich bedeutsam einen neuen Umgang der Kunstschaffenden mit der gesellschaftlichen, sozialen und ästhetischen Realität verlangt. Dabei fällt auf, dass die meisten Beiträge für ein analoges Format, in analog-chronologischer Schreib- und Denkweise verfasst sind und die meisten Autor*innen auch lieber in die analoge Printausgabe als ins digitale Format wollen. So gibt es keine kreativen Überraschungen, die sich auf unkonventionelle Weise im Digitalen ausprobiert und manifestiert haben. Digitales Präsentieren, eine „postdigitale Normalität“ ist hier in dieser Ausgabe, ist hier in der digitalen Kommunikation über und alsTheater(pädagogik) (noch) kaum angekommen.
Die lebendige Auseinandersetzung unserer Fachcommunity mit dem Thema Theater und Digitalität zeigt sich in den vielschichtigen Blickwinkeln der Beiträge auf das sehr komplexe Thema im Thementeil wie im Magazin. Die theoriegeleitete Dimension der Beiträge von Sabine Köster-Kilian und Martina Leeker markieren einen fundierten Problemaufriss über die Stichworte Postdigitalität, Netztheater und posthumane Bildung und stellen Fragen, zu denen sich Theaterpädagogik verhalten muss. Welche Handlungsräume und ‑möglichkeiten können theaterpädagogische Projekte unter postdigitalen und posthumanen Bedingungen vermitteln? Wie verändert sich das Subjektverständnis unter diesen digitalen Theorie- und Praxiskontexten? Was heißt dann kritisch und ästhetisch kompetent handeln oder handlungsfähig werden im digitalen Raum? Felix Büchner und Sören Traulsen beschreiten einen theoretischen Weg, indem sie den Diskurs über Schultheater und Digitalität empirisch-qualitativ erforschen. Zusätzliche Themenfelder der Posthumanität schließen sich hier an z.B. Aspekte der KI (Frederik Hochheimer), der Mensch-Maschine-Diskurs, veränderte Weltwahrnehmung der digital natives/milleniums/pc/00er/2.0‑Generation etc. oder meist mit dystopischen black mirror-Szenarien.
Die Form als allbekannte dichotomische Mitspielerin ist in ungeahnter Weise herausgefordert, z.B. als zoom as a stage, digitales Storytelling, Online-Theater, digitale Tools werden ästhetisch theatralisiert (Grawe, Porps/Peter, Kaiser/Tomruk, Andritter/Jeroma). Was ist also genuin theatral? Reicht es, wenn ein Mensch über die Bühne geht und einer digital zuschaut? Welche Differentia Specifica sind notwendig und/oder hinreichend für das Genus Proximum „Theater“? Ist Hybridität im engeren Sinn möglich, nötig oder sowieso schon postdigitale Realität? Rezeptionsprozesse, die Rolle des Zuschauenden, die vierte Wand, der Chor (Harald Sommer), Immersivität, Interaktion (Georg Ruttner), Kollaboration, Partizipation (Wrentschur/Vieregg), Gamification (Marco Aulbach), die Rolle des Subjekts (André Studt) bekommen eine Renaissance.
Die theaterpädagogische Agenda muss sich alle systemimmanenten Grundfragen des Theatermachens neu stellen. Beschleunigt durch die Pandemie-Krise wird – mal mürrisch-zwangsläufg, mal experimentell-kreativ – ein digitales Labor für die theaterpädagogische Praxis eröffnet: experimentieren, erforschen, Antworten suchen, erproben (Hoffelner, Kresse/Gralke, Morche/Krannich, Müller, Ritter/Lerner, Roth-Lange, Hüller, Antczack, Kindler, Riedel, Eikel-Pohen, Rogmann/Alexius, Odierna, Amsbeck). Die vielschichtigen Projektbeschreibungen zeigen, was und wie sich die theaterpädagogische Arbeit durch den Lockdown verändert. Der dynamische, kreative, aber auch erzwungene Umgang mit digitalen Formaten wird prägnant geschildert. Schwierigkeiten, Umwege und Lösungen werden artikuliert, aber auch die Frage gestellt: „Ist das (noch) die Arbeit, die wir machen wollen?“
Von einer postdigitalen und posthumanen Theaterpädagogik sind wir weit entfernt, wie ist das einzuschätzen (positiv oder negativ), wo stehen wir? Eine Widerständigkeit gegen Vereinnahmung, Anpassung oder Überformung durch das aktuelle Primat oder die sich etablierende Dominanz des Digitalen in Kommunikationsstrukturen und Lebenswelt ist zu beobachten. Eine kritische Theaterpädagogik wird sich zukünftig im Modus von Postdigitalität mit den Chancen und Risiken des Digitalen auseinandersetzen – in Theorie und Praxis, künstlerisch-ästhetisch und pädagogisch. Neben der unanfechtbaren Relevanz des kritischen Umgangs mit und in der digitalen, globalen Welt gilt es, sich theaterpädagogisch – im Bewusstsein der Teilhabenden an, in und mit Digitalität – den Phänomenen der rasanten kulturellen Transformationsprozesse reflexiv, experimentierfreudig, ästhetisierend und politisch zu stellen. Welche Auswirkungen hat das auf die Programmatiken, Imperative und Praktiken der Kulturellen Bildung? Binäres Denken kann der gesamtgesellschaftlichen Gegenwart nicht gerecht werden. So wird die Dichotomie analog/digital auch im theaterpädagogischen Arbeitsfeld in vielschichtigen Ausformungen hinfällig werden. Panta rhei, ouden menei.
Wir sind gespannt, wie Sie und Ihr dieses hybride Experiment (Thema und Heft) auf- und wahrnehmen werden/t und freuen uns über Reaktionen gerne unter:
https://klub-schultheater.org/t/korrespondenzen-zftp-heft-78/82
Wir bedanken uns bei Nicole Helms und Daniel Köhler für ihre Geduld, Gelassenheit und Flexibilität, ohne sie wäre die technische Umsetzung der Hybridausgabe nicht möglich gewesen. Für die wie immer fundierte Bearbeitung der Rubriken Archiv und Rezensionen danken wir Katharina Kolar und Maik Walter; für die wertvolle redaktionelle Zuarbeit geht unser Dank an Christiane Mangold und Tilmann Ziemke.
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