Studium der Szenischen Künste und Inszenierung der Künste und der Medien in Hildesheim, seit Herbst 2020 Theaterpädage am JES Stuttgart.
Studium der Szenischen Künste und Inszenierung der Künste und der Medien in Hildesheim, seit Herbst 2020 Theaterpädage am JES Stuttgart.
Die Funk-Serie „Druck“ hat eine YouTube Première angesetzt. Die Plattform bietet mir an, eine Erinnerung einzurichten. Die neue Folge kommt immer freitags, das kenne ich bereits von den vorherigen Staffeln, aber heute, an Silvester, kommt sie kurz nach Mitternacht.
Die Jugendserie wird regelmäßig online veröffentlicht, hat derzeit (März 2021) etwa vierhunderttausend Abonnent*innen, 115 Millionen Aufrufe und folgt dem norwegischen Originalkonzept der Serie „SKAM“. Unter ihrem Video heißt es:
„DRUCK – Die Serie wird die ganze Woche über erzählt. Wir veröffentlichen Inhalte dann, wenn sie passieren. Das Schulende mittags um halb eins, die Party abends um zehn – ihr seid immer dabei! Jeden Freitag gibt es dann die komplette Woche nochmal als Folge – mit zusätzlichen und brandneuen Inhalten! Aber DRUCK läuft nicht nur auf YouTube! Auf Instagram und Telegram findet ihr weitere spannende Inhalte! So könnt ihr die Mädels und Jungs von DRUCK rund um die Uhr in ihrem Alltag begleiten. Liebe, Freundschaft und die eigene Identität – das ist DRUCK. Deine Serie – in Echtzeit, immer dann, wenn etwas passiert.“
Drei Aspekte möchte ich hier herausstellen – das Narrativ der Echtzeit, das serielle Erzählen und die Inszenierung von Intimität – die eng miteinander verknüpft sind.
Unter Echtzeit versteht die Serie den Modus ihrer Veröffentlichung. Die erzählte Zeit überlagert sich mit meinem eigenen Alltagserleben. Ich gehe zur Arbeit, die Protagonist*innen zur Schule, ich liege wach im Bett und kann nicht schlafen, in der Serie gibt es zur vermeintlich selben Zeit einen Filmabend. Das Ziel ist es, die Illusion einer Gleichzeitigkeit herzustellen – eben „immer dann, wenn etwas passiert“. Gleichwohl handelt es sich aber selbstverständlich um vorproduzierte Versatzstücke, sogenannte clips, die einem Drehbuch folgen. Sie werden strategisch ausgewählt und zeitversetzt veröffentlicht.
Das serielle Erzählen ermöglicht durch entsprechendes Wissensmanagement Beziehung zu Figuren über einen langen Zeitraum hinweg aufzubauen. In der Zwischenzeit kann ich sie mit Freund*innen diskutieren. Über die Wochen werden Konflikte und Situationen in einer Zeitlichkeit entwickelt, die ich aus meinem Alltag kenne. Wenn sich die CA$HQUEENS am Montag für Freitag verabreden, dann muss auch ich bis Freitag warten, um endlich mitzuerleben, was bei der Party passiert – wenn Fatou auf eine Nachricht von ihrem Schwarm wartet, dann muss auch ich warten, bis vielleicht am nächsten Tag endlich eine neue Benachrichtigung kommt.
Dass es Neuigkeiten gibt, erfahre ich gleich auf mehreren Kanälen. YouTube erinnert mich daran, dass ein neuer Clip veröffentlicht wurde. Ob Kieu My sich nach dem Kuss an Silvester endlich gemeldet hat, wird aber auch in WhatsApp Verläufen unter den CA$HQUEENS verhandelt, die ich mitlesen kann. Ein programmierter Bot, den ich bei dem Messenger Telegramm abonnieren kann, sendet mir entsprechende screenshots dieser Unterhaltungen automatisch zu. Und zuletzt hat jede Figur der Serie noch einen Instagram Account, den sie regelmäßig bespielt. Und da, endlich: Kiew My hat erstmals ein Foto von Fatou geliked – und vielen followern ist das gleich aufgefallen, sie kommentieren das neue Foto, machen darauf aufmerksam, hypen sich gegenseitig und hoffen, dass es mit den beiden vielleicht doch noch was wird. Einige sprechen Fatou sogar Mut zu, sie solle sich doch nochmal bei Kiew My melden. Obwohl die Figuren eigentlich nie auf solche direkten Nachrichten antworten, scheint dennoch die Motivation vorhanden zu sein, Kontakt aufnehmen zu wollen. Es zeugt von dem Wunsch, mit diesen Figuren, die ihre Zuschauer*innen vermeintlich so nah an ihrem Leben teilhaben lassen, auch interagieren zu wollen. Die Illusion von Echtzeit und das Eindringen in meinen Alltag durch die vielen Plattformen, die ich auch mit meinen sogenannten echten Freunden täglich nutze (Telegramm und WhatsApp), inszenieren eine Intimität, eine Art Fern-Nähe. Erzählt wird vom Fortlauf der Geschichten gleich auf mehreren Plattformen, quasi multimedial und vor allem: aus verschiedenen Perspektiven. Wenn diese Figuren etwas Menschliches gewinnen, dann durch ihre alltäglichen Sorgen, Hoffnungen und Ängste, die sie mit mir teilen. Diese Strategien erzeugen eine Immersion: sie verwischen Grenzen zwischen öffentlich und privat, zwischen live und digital. Selbst wenn zwischen mir und den Figuren immer eine Glasscheibe bleiben wird, so fühlt es sich vielleicht für einen Moment so an, als könnten wir wirklich befreundet sein – als hätte mein Zuspruch, mein Kommentar unter diesem post, eine tatsächliche Auswirkung auf den Verlauf der Geschichte. Und selbst wenn Fatou nicht auf meinen Instagramm-Kommentar antworten wird, so versammelt sich in den Kommentarspalten bei YouTube, im Live-Chat am Freitag und unter allen Beiträgen der Figuren dieser Staffel doch eine eigendynamische community, die gemeinsam mit mir verhandeln will, wie es weitergehen könnte, die sich ganz offensichtlich identifizieren kann mit den Geschichten und die meinen Zuspruch kommentiert, mich in eine Fan-Gruppe einlädt und die mit mir mitfiebert.
Während ich diesen Text schreibe, werde ich an die heutige Première erinnert. Die Benachrichtigung taucht auf meinem display auf und ich schalte ein. Den Namen für das live Ereignis hat sich das Internet beim Theater geliehen. Was in der heutigen Folge passieren wird steht aber schon lange fest, es folgt einem Drehbuch, ist abgedreht, aufgezeichnet, verarbeitet und geschnitten worden. Live ist nur der chat und die Tatsache, dass ich nicht vorspulen kann – für 25 Minuten werden alle Zuschauer*innen gleichgeschaltet und schauen gemeinsam. Später kann ich die Folge wieder nach Belieben wiederholen, vor- und zurückspulen und pausieren, wie ich es gewohnt bin. Der live-chat der heutigen Folge hat einen Puls, könnte man sagen. „Druck – Die Serie“ mischt selbst mit – „Hey liebe Community! Zeit für Folge 5 ❤️ Wir hoffen, ihr seid auch schon so hyped wie wir“, schreiben sie zu Beginn der neuen Folge in den Chat und auch während der Folge kommentieren sie, was passiert, mischen sich unter die community. Während seines Ruhepulses flattert jede Sekunde etwa ein Kommentar herein. Doch als sich am Ende der Folge, und damit am Ende vieler Missverständnisse und zwei Wochen Liebeskummer, die ich miterleben konnte, Fatou und Kiew My endlich wieder küssen, überschlagen sich die Kommentare im Chat. Ich kann förmlich sehen, wie die Herzen der community höherschlagen. Und gleichzeitig wissen alle, dass jede Staffel auf 10 Folgen angelegt ist. Der Kuss ist nicht das Ende der Geschichte – fünf weitere Folgen, fünf weitere Wochen werden wir Fatou noch begleiten, bevor in der nächsten Staffel die nächste Person aus dem fiktiven Freundeskreis im Mittelpunkt stehen wird. Bis dahin kann noch viel passieren. Was das sein könnte, darüber wird in den Kommentarspalten bereits gemunkelt. Die Entscheidung jedoch wird beim Produktionsteam bleiben.
BEZIEHUNGSPFLEGE FÜR EIN THEATER DER ZUKUNFT
Was ich beschrieben habe sind nur kleine Ausschnitte dessen, was ich an zeitgemäßen künstlerisch-ästhetischen Ausdrucksformen beobachten kann. Es sind Ausdrucksformen, die gerade auch für Kinder und Jugendliche zur alltäglichen Lebensrealität gehören. Leben findet heute unausweichlich im Kontext von Suchmaschinen, sozialen Netzwerken und mobilen Daten statt, selbst wenn ich mich deren Nutzung zu entziehen versuche. Es gilt dabei anzuerkennen, dass diese Strukturen niemals nur technisch, sondern immer auch sozial und politisch sind. Will das Theater bei diesen sozialen und politischen Aushandlungen der neuen Kulturen des Zusammenlebens (weiter) mitspielen, so lassen sich aus meinen Beschreibungen einige Fragen nach dem Publikum, der Rahmung, der Ereignishaftigkeit und den Ästhetiken und Arbeitsweisen ableiten, die es für jedes (digital-analoge) Theatervorhaben zu beantworten gilt:
Welche Beziehung will das Theater mit seinem Publikum eingehen? Und wo ist dieses Publikum verortet? Wie können diese Beziehungen auch über Distanzen hinweg oder über längere Zeit gepflegt werden? Wie gelingt es sie wechselseitig, verlässlich und interessant zu gestalten, trotz der großen Konkurrenz im Internet? Und in welchem Verhältnis steht das Theater zu seiner ökonomisch vereinnahmten Konkurrenz im Netz? Wie kann das Theater mit der Gewohnheit eines individualisierten Erlebens und Medienkonsums umgehen? Was heißt Erleben im Theater, wenn jede Person gewohnt ist anderswo das Tempo, den Zeitpunkt und die Vollständigkeit mitzubestimmen? Welche Metadaten erhebt das Theater eigentlich über seine Zuschauer*innen, um zu entscheiden, was sie interessieren könnte? Was heißt es heutzutage ganze Personengruppen, mit gänzlich unterschiedlichen for you pages, Vorlieben und Seherfahrungen, in einen Raum zu setzen (das kann auch ein digitaler sein)? Was für eine Aufführung muss das sein, der sie dann gemeinsam folgen wollen, ohne einfach um- oder ausschalten zu können? Wie kann das Zusammentreffen zum Ausnahmezustand werden, für den sich das Warten gelohnt hat? Wie lassen sich diese stark individualisierten Personen vergemeinschaften? Was muss in diesem Raum passieren, damit es zur Differenzerfahrung, zum sozialen Ereignis und zum tatsächlichen Erlebnis werden kann? Welche Räume müssen vor oder hinter eine Aufführung geschaltet sein, um Austausch, Feedback und soziale Interaktion zu ermöglichen? Und wie würden sich Inszenierungen verändern, wenn sie diese intersozialen Räume von Beginn an mitdenken würden? Welche Handlungsmacht über das Erleben und die Erzählung kann und will das Theater dabei abgeben? Was kann das Theater von seinem (jungen) Publikum lernen? Welche Möglichkeiten könnten Strategien des kollaborativen storytelling oder der seriellen Erzählung eröffnen? Wann beginnt eine digitale Aufführung und wann endet sie? Welche Beziehung könnte ein Publikum zu den Figuren einer Inszenierung (und vielleicht auch zu den Menschen am Theater) aufbauen – auch aus der Ferne oder über längere Zeit hinweg? Wann findet dieser Raum statt, in dem die Aufführung geteilt wird, und wie lange bleibt er als solcher bestehen? Wird es ein Raum sein, in dem alle gleichzeitig etwas erleben oder kann er zeitlich versetzt betreten und wieder verlassen werden? Wie veränderbar ist dieser Raum und welche Zugangsbarrieren sind mit ihm verbunden? Wer kommt dort überhaupt zusammen (und wer nicht)? Wie ortsspezifisch und lokal sind diese Räume gedacht? Welche performativen Situationen werden in diesen entworfen und gestaltet, um neue Formen des Zusammenlebens zu suchen, zu probieren oder zu reflektieren? Und welche asynchronen und asyntopen Strategien könn(t)en dabei eingesetzt werden?
Wenn ich nach Tipps für Fernbeziehungen suche, dann schlägt das Internet mir vor nach langen Trennungsphasen vielleicht erstmal mit einem Spaziergang oder einem Kaffee oder Tee zu starten. Damit eine Fernbeziehung funktioniert, gilt es sich erst einmal wieder aneinander zu gewöhnen. Und vielleicht müssen neue Rituale erfunden werden, um im Kontakt zu bleiben.
Fotos: Funk / ZDF
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