Jahrgang 1993, studierte Kultur- und Medienpädagogik an der HS Merseburg und ist seit 2018 als Theaterpädagogin am Theater Magdeburg tätig.
Jahrgang 1993, studierte Kultur- und Medienpädagogik an der HS Merseburg und ist seit 2018 als Theaterpädagogin am Theater Magdeburg tätig.
Wir befinden uns am Theater Magdeburg. 19 Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren erforschen unter theaterpädagogischer Anleitung das Thema „an_grenzen”. Dazu begeben sie sich auf Recherchen in die Stadt und in ein außerhalb des Zentrums gelegenes Stadtviertel, kommen dort mit älteren Generationen in Kontakt und suchen nach Geschichten, Fragen und Ideen für eine Stückentwicklung. Das gefundene Material findet Verwendung in Schreibwerkstätten und szenischen Interpretationen, wird gefasst, geweitet und wieder gefasst. Es gibt unterschiedliche Umsetzungen: Dialogformen, selbstentwickelte Solo-Choreografien, chorisch-choreografische Gruppenmomente. Musik, Kostüm, Licht – mit Theatermitteln wird frei gespielt. Die Jugendlichen – mehrheitlich deutsch, weiß, cis-gender – finden eine Überschrift, unter der sie eine Möglichkeit suchen, die Arbeitsergebnisse in einer szenischen Präsentation miteinander zu kombinieren: „Zu viel ist manchmal auch too much”.
Die Suche nach einem roten Faden wird im März 2020 vom ersten Covid-19-Lockdown unterbrochen. Das Projekt kommt für einige Wochen zum Erliegen. Dann beginnt im April ein neuer Abschnitt; die Teilnehmenden treffen sich – und proben auch – digital. Diese digitale Arbeit stellt mich als Anleitende vor diverse Herausforderungen – ein komplett neuer, unbekannter Raum öffnet sich. Durch die neuen Umstände stellt sich mir und der Gruppe die Frage: Wohin mit den Materialien? Getreu der Devise „(Theater-)Materialien gehören gezeigt und präsentiert!” suche ich nach einer Möglichkeit der Präsentation. Diese Suche wird behindert und hinausgezögert durch die unklaren Umstände – lange besteht die Hoffnung auf eine baldige Änderung der Verhältnisse und damit eine Möglichkeit der Live-Präsentation.
Schließlich entscheide ich mich für einen Weg ins Digitale: um die Gruppe (die Teilnehmenden – das Projekt – mich) zu schützen und eine Präsentation mit entsprechendem Vorlauf möglich zu machen. Die Reaktionen der Teilnehmenden hierauf beinhalten: Irritation, Schwermut und Sehnsucht nach dem Altbekannten genauso wie Freude und Neugier auf das neue Medium, das nun erschlossen wird, sowie Dankbarkeit, dass das Projekt weiterhin stattfindet und es einen gemeinsamen Abschluss gibt. Die neue Zielsetzung ist also eine digitale Materialschau. Die Idee: alle neun bisher entstandenen Szenen finden eine eigene Umsetzung, werden nicht aneinandergekoppelt, sondern einzeln produziert und dann gemeinsam in einer transmedialen digitalen Ausstellung auf der Homepage des Theaters gezeigt. Die Jugendlichen sind bei der Erarbeitung auf sich gestellt, zumindest mehr als sie es jemals auf der Bühne gewesen wären – alle Entscheidungen liegen bei ihnen, ich lasse Ihnen auch die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob und wie stark sie mich mit einbeziehen. Ich tue das, weil ich ihnen zutraue, eigene Wege in diese neue Medialität zu finden und weil mir die Kapazitäten fehlen, alle 9 Kleingruppen einzeln zu betreuen. Die Teilnehmenden filmen, schneiden, nehmen auf, fotografieren, erstellen selbst dramaturgische Fassungen und die Organisation ihrer Kleingruppen liegt in erster Linie in ihrer Hand. Hier finden manche eine Stolperfalle, andere wachsen über sich hinaus. Meine angebotene Hilfestellung findet bei manchen Kleingruppen Anklang, bei manchen steht die Selbstständigkeit im Vordergrund. Erst treffen wir uns wöchentlich, dann im Zweiwochenrhythmus, um im Plenum die Arbeitsstände zu besprechen, Fragen zu stellen und Feedback zu erhalten.
Und plötzlich rückt der Termin für die Präsentation auf der Theaterwebseite immer näher – und dann sind alle selbstgesetzten Fristen verstrichen und die Materialien noch nicht fertig. Es zeigt sich: die mediale Aufbereitung bringt Mehraufwand in der Postproduktion und auf den letzten Metern fließt nochmal viel Energie und Herzblut. Konfliktpotential besteht darin, dass die selbstständige Kleingruppenarbeit Ergebnisse erzeugt, die nach meiner Einschätzung eines Feinschliffes bedürfen. Darauf reagieren die Teilnehmenden mit Verständnis für die Überarbeitung und Lust an der Mitarbeit und dem Einbringen von eigenen Ideen – und auch mit Widerwillen, den ich gut nachvollziehen kann. Hier findet sich der wichtigste Lernprozess, den ich für mich in diesem Projekt verzeichnen kann: Wenn die Teilnehmenden so selbstständig arbeiten, liegt am Ende des Projektes unter Umständen trotzdem Verantwortung bei der Spielleitung – andere und sogar mehr als bei einer hierarchischeren Vorgehensweise.
Der erste Zugang zur digitalen Arbeitsweise zeigt mir – im Kontext des vorgestellten Projektes und den organisatorischen Umständen – dass es nicht immer möglich ist, alle Kleingruppen nah zu begleiten. Meiner Meinung nach steht den Gruppen in diesem Fall eine freie, kreative Arbeit mit ganz eigenen Prozessen und Ideen zu – dass diese vor der Veröffentlichung eine Prüfung erfahren, muss allerdings von Anfang an klargestellt werden. Ein weiterer Lerneffekt im Umgang mit den „neuen“ Medien findet sich in der Anleitung der Materialproduktion; ganz konkret müssen Zeitvorgaben beim selbstständigen Erstellen der Videos durch die Jugendlichen erarbeitet werden und Konzepte im Detail durchgesprochen sein. Neben diesen neuen Eindrücken finde ich aber auch die bekannten Projektstrukturen – Kennlernphase und Recherchen – wieder. Dahingehend ist die digitale Arbeit von der analogen nicht so weit entfernt, wie es manchmal scheint. Das Projekt hat neben dem Ergebnis einer erfolgreichen medialen Präsentation auch aufgezeigt, dass in dem Spannungsverhältnis zwischen den Wünschen der Teilnehmenden, Haus/Öffentlichkeit und meinen eigenen Bedürfnissen (und in der allgemeinen Spannung und Unsicherheit des Frühsommers 2020) ein Konfliktpotential liegt. Die Spannungen im Prozess und im Anschluss an das Projekt zu reflektieren und ggf. zu thematisieren, macht eine Ebene von Professionalität im Kontext von Theaterpädagogik aus. Ebenfalls spannungsgeladen scheint der generelle theaterpädagogische Umgang mit der aktuellen Situation; die anstehenden Transformationen von sozialen, organisatorischen und ästhetischen Prozessen im Angesicht von stark eingeschränkten oder komplett fehlendem analogen Kontakt fordern heraus und bedürfen gemeinsamer Reflektion. Wichtig für diese Transformation scheint: „nicht das Analoge möglichst nah ins Digitale abpausen, sondern in Hinblick auf die Wirkung transferieren“. Und was bedeutet es, in Hinblick auf Wirkung zu transferieren? Andere Fragen, die sich stellen, lauten: Ist das noch Theaterpädagogik? Wie werden (digitale) Prozesse den Bedürfnissen und Ansprüchen der Teilnehmenden und Anleitenden gerecht? Es bleibt in jedem Projekt neu auszuhandeln.
Beitragsbild: ABart
Begegnung
Labor
Forschung
Bildung
Fokus
Mediathek
Forum
Die Seite Schul.Theater lädt alle am Schultheater interessierten Menschen ein, sich über Grenzen hinweg zu inspirieren und zu informieren, zu verbinden und im Forum in den Austausch zu kommen.
Die Seite Schul.Theater lädt alle am Schultheater interessierten Menschen in fünf digitalen Räumen dazu ein, sich über Grenzen hinweg zu inspirieren und zu informieren, zu verbinden und im Forum in den Austausch zu kommen.